Die Tochter ihres Vaters
Butchs Hand lag schwer auf Masons Schulter und hielt ihn unten. Sie hatten das Grundstück der Lafayettes durch ein Loch im Eisenzaun betreten. Dahinter befand sich ein stinkender Tümpel, dessen Geheimnisse Mason gar nicht kennen wollte. Sie waren im Laufschritt einem schmalen, gewundenen Pfad gefolgt und hatten die große Wiese am Fluss erreicht. Jetzt hockten sie mit klopfenden Herzen hinter einem Busch und beobachteten das Haus inmitten einer weitläufigen Lichtung.
»Dieser verfluchte Regen, ich …«, beschwerte sich Mason über den tobenden Sturm.
»Ruhig!«, knurrte Butch warnend. »Ab jetzt herrscht Funkstille. Sobald wir die Deckung verlassen, kein Wort mehr!«
Mason nickte nervös und umfasste das Messer fester. Er kam ihm lächerlich winzig vor. Die schweigsamen Männer kommunizierten über Blicke, und hielten ihre Waffen im Anschlag.
Peggy verließ ihre Deckung und huschte wie ein dunkler Schatten über die Wiese. Sie presste sich geduckt an die helle Wand des Herrenhauses und zog das lange Messer mit der gezackten Klinge. Ihre nassen Haare und Kleider klebten an ihrem Körper. Weit entfernt knickte der Sturm einen Baum ab, der krachend zu Boden fiel. Peggy sah zweifelnd zum Himmel und hoffte, dass sich das Unwetter nicht zu einem Monster entwickeln würde, das alles mit sich riss, was sich nicht in einem Schutzraum unter der Erde befand. Sie kannte diese Stürme, die Blitze, die schwarzen Wolken, die sich mit zunehmendem Wind drehten, als wollten sie ihren schrecklichen Rüssel zur Erde zu schicken, der wie der überdimensionale Stachel einer Stechmücke alles in sich aufsaugte, was nicht niet- und nagelfest war. Bevor die Gruppe am Tor die Sprengladung zündete, mussten alle auf ihrem Posten sein. Ihre Aufgabe war es, auf das Dach des Hauses zu klettern, während ihr Vater seine Position an der Ecke zur Veranda einnehmen würde. Hendershot und Carter waren ihre mit Flinten bewaffneten Back-ups. Und Mason, nun, dem wünschte sie, dass er niemandem im Weg stehen würde. Peggy kletterte an dicken Efeuranken nach oben und zog sich auf das mit Holzschindeln gedeckte Dach. Der Wind zerrte an ihrer Kleidung und peitschte ihr den Regen ins Gesicht. Um unentdeckt zu bleiben, presste sie sich flach auf das nasse Holz und hoffte, nicht den Halt zu verlieren. Vorsichtig schob sie sich nach vorne an den Rand des Daches, bereit, den kalten Stahl ihrer Waffe in das heiße Fleisch der Lafayettes zu rammen, um ihnen ihr unseliges Leben zu nehmen.
Peggy schloss die Augen und atmete tief durch, kämpfte ihre Aufregung nieder. Sie brauchte keine Angst zu haben. Es war nicht das erste Mal, dass sie auf der Lauer lag, um zu töten. Das Geschenk von ihrem Vater zu ihrem fünfzehnten Geburtstag war ihre jungfräuliche Jagd gewesen. Butch hatte in den Wäldern Frankreichs einen Rougarou gestellt, einen entfernten Verwandten der Lafayettes, dessen Blut bei weitem nicht so stark war wie das der direkten Ahnen des Marquis. Die Nacht war der heutigen nicht unähnlich gewesen. Der Wind hatte durch das Nadelholz gerauscht und sich mit einem starken, aber warmen Sommerregen vereint. Wortlos war ihr Vater in ihr Zimmer gekommen und hatte ihr das Messer in die Hand gedrückt, dessen glatter Holzschaft sich auch jetzt vertraut in ihre Hand schmiegte. Sie waren tief in den Wald gegangen. Dort, wo es am dichtesten war, gab es eine kleine Lichtung. Genau in der Mitte stand ein Ansitz für die Jäger. Ihr Vater griff zwischen die Büsche und zog ein totes Wildschwein hervor. Er band ihm mit einem Seil die Beine zusammen, warf das andere Ende über eine der Querstreben des Hochsitzes und zog es nach oben, bis es frei über dem Boden hing. Während er es mit einem scharfen Messer aufbrach, erklärte er ihr, dass der Geruch nach Fleisch und Blut die Bestie anlockte. Es würde seine Zeit brauchen, doch sie würde unweigerlich kommen.
Peggy erinnerte sich gut an das rote, noch warme Fleisch. Es hatte sie hypnotisiert, in seinen Bann gezogen. Alles war in einem grellen Rot versunken, selbst das dunkle Dickicht, das sie umgab. Die Bestie war gekommen, während sie vor der toten Sau auf der Lichtung stand. Das Monster baute sich vor ihr auf und brüllte sie an. Speichel spritzte aus seinem aufgerissenen Maul, benetzte ihr Gesicht. Doch dann geschah etwas überaus Seltsames. Anstatt sich auf sie zu stürzen, um sie mit seinen mächtigen Klauen zu zerfleischen, sog das Unding den Geruch ihres verschwitzten, von Angst gepeinigten Körpers ein und erschauerte vor Lust. Das Monster musterte sie mit bösen, gelben Augen. In seinem Blick lag eine Art von Erkennen. Schließlich wandte es sich von ihr ab und fing an, vom Fleisch des toten Schweins zu fressen.
Peggy schlachtete das Untier erbarmungslos ab, so wie es sie ihr Vater gelehrt hatte. Sie durfte keine Gnade zeigen. Mit zusammengebissenen Zähnen hackte sie auf die überraschte Bestie ein, bis nur noch große, dampfende Fleischbrocken von seiner Existenz zeugten. Ihr Vater nahm sie danach in die Arme und sagte, dass er stolz auf sie war. Sie sei bereit für den nächsten Schritt. Frankreich lag einige Jahre zurück und sie hatten die halbe Welt durchquert. Butch hatte seiner Tochter alles beigebracht, was er wusste. Jetzt lag sie hier auf dem Dach im Regen und fühlte sich dennoch zu nichts bereit. Allerdings blieb ihr keine Wahl, weil sie war, was sie war. Die Tochter ihres Vaters.