Die Dunkelheit unter der Oberfläche
In der Scheune brach die Hölle los. Nicht nur mit Sues Körper ging eine schreckliche Veränderung vor, auch die der Lafayettes wanden und verformten sich. Bald war der Raum vom Knirschen der Knochen und Gelenke erfüllt. Aus menschlichen Kehlen drangen bestialische Schreie. Eric kroch zurück, spürte raues Holz an seinem Rücken. Einem ersten Impuls folgend, wollte er die Beine anziehen und die Augen schließen, um auf das Ende zu warten, aber er war noch nicht soweit. Er kroch auf allen vieren auf das Loch in der Wand zu, hinter dem Nina auf ihn wartete. Nina wusste gar nicht, was hier passierte!
Sie stand noch an der gleichen Stelle. Ihr Gesicht leuchtete bleich in der Dunkelheit, nass vom Regen. »Was in Gottes Namen geht da drin vor? … All diese Schreie … die schrecklichen Geräusche.«
Eric ergriff ihre Hände und zog sich daran nach oben. Er hatte nicht vor, sie nochmal loszulassen. »Das sind die Rougarou, Nina … All die Geschichten sind wahr!« Eric war sich sicher, die Hölle gesehen zu haben.
Ein schwerer Körper krachte von innen gegen die Wand, sodass diese erbebte. Erschrocken wichen sie zurück. Das Monster passte nicht durch das Loch und brüllte wütend. Holz splitterte und eine haarige, mit langen gekrümmten Krallen bewehrte Pranke fuhr suchend ins Freie. Von da an gab es kein Halten mehr. Eric rannte los und zog Nina hinter sich her. Erst folgten sie dem Pfad, der sie zur Vorderseite der Scheune führte. Als sie an dem rot gestrichenen Scheunentor vorbeirannten, zerbarst es unter dem Ansturm der Bestien, die sich gar nicht erst die Mühe machten, es zu öffnen. Lange Schatten schossen ins Freie. Nichts Menschliches war ihnen mehr geblieben. Im geisterhaften Schein der Blitze sammelten sie sich vor der Scheune, schlichen umeinander und suchten sich ein Ziel, dem sie entgegenjagen konnten.
Der Weg vor ihnen hatte sich in eine Todesfalle verwandelt. Also rannte Eric hinein in die dornigen Büsche. Die Richtung war ihm dabei gleich, Hauptsache er brachte genügend Abstand zwischen sich und diese schrecklichen Dinger. Zweige schlugen ihnen ins Gesicht und rissen blutige Schrammen, sie glitten auf dem aufgeweichten Boden aus und strauchelten. Doch sie rappelten sich wieder auf, getrieben von der Angst, verfolgt und gestellt zu werden. Erics Lungen protestierten. Das hier war purer Wahnsinn. Sie konnten diesen instinktgesteuerten Monstern nicht entkommen, so schnell sie auch rannten. Es war schwer, unter normalen Umständen als Mensch vor einem Tier davonzulaufen, doch bei diesen Biestern war es schlichtweg unmöglich. Dennoch trieb sie die Furcht vorwärts, tiefer ins Unterholz hinein.
Schon hörten sie, wie Zweige brachen. Ein wildes Geheul hinter ihnen kündigte ihren Verfolger an. Weitere Bestien liefen gleichauf zu ihren Seiten. Sie kreisten sie ein, die Schlinge zog sich enger. Das setzte neue Kräfte frei. Eric riss Nina hinter sich her, die ihm stolpernd folgte. Eric war klar, dass ein Fehltritt oder Sturz ihr sicheres Ende bedeuten würde. Selbst die Natur schien sich gegen sie verschworen zu haben. Der Sturm drückte Buschwerk und Bäume wie Strohhalme hin und her. Immer wieder brachen Äste und krachten zu Boden. Einer verfehlte sie nur um Haaresbreite. Das einzige Licht war das der Blitze, die jetzt in schneller Folge vom Himmel fuhren.
Das Hecheln kam näher. Das schwere Biest sprang in weit ausholenden Sätzen hinter ihnen her. Ninas Haare verfingen sich in einem Ast, sie rannte jedoch weiter und riss sich eine dicke Strähne aus der Kopfhaut. Sie drehte den Kopf und sah glühende Augen zwischen den Ästen, einen muskulösen, von dichtem schwarzen Fell bedeckten Körper, der sich wie eine Feder spannte, das vorgeschobene Maul weit aufgerissen. Lange, gebogene Reißzähne glänzten feucht und versprachen einen brutalen, aber nicht unbedingt schnellen Tod. Begleitet von einem schrecklichen Brüllen, schnellte das Monster nach vorne. Nina wusste im gleichen Augenblick, dass sie nicht mehr ausweichen konnte. Abwehrend riss sie ihren Arm nach oben, auch wenn ihr klar war, dass sie das Untier damit nicht aufhalten konnte. Der Aufprall holte sie direkt von den Beinen. Ihre Hände verloren den Kontakt zueinander. Nasses Fell drückte sich auf ihr Gesicht, darunter starke, gespannte Muskeln, während sich das tödliche Gebiss um ihren emporgereckten, dünnen Arm schloss. Der Knochen brach gleich an zwei Stellen. Nasses, zerbrochenes Holz unter ihrem Rücken und bohrte sich in ihr Fleisch.
Es ging abwärts, denn der aufgeweichte Boden rutschte unter ihr weg. Der Rougarou schien nicht im Geringsten überrascht, er riss sein mörderisches Maul auf und brüllte. Penetranter Raubtiergeruch drang ihr in Nase und Mund, Speichel spritzte ihr ins Gesicht. Adrenalin schoss durch Ninas schmächtigen Körper, der sich verzweifelt unter dem Monster aufbäumte. Ein Schatten tauchte über dem Rougarou auf. Das war Eric! Er hielt einen schweren Ast in seinen Händen und drosch ihn mit aller Kraft auf den Rücken der tobenden Bestie, die ihn mit einem wütenden Brüllen abwischte wie eine lästige, aber ungefährliche Fliege. Erics Körper flog durch die Luft und verschwand aus Ninas Blickfeld.
Alles drehte sich. Bevor Nina reagieren konnte, befand sie sich ebenfalls in der Luft und der Rougarou unter ihr. Seine Pranke schloss sich um ihren Hals, sie spürte, wie sich die Spitzen der Krallen in ihren Nacken bohrten. Sie rollte zusammen mit dem Monster eine Böschung hinab und klatsche ins Wasser. Der schwere Körper, der jetzt wieder über ihr war, drückte sie nach unten. Nina riss den Mund auf und schluckte Wasser. Wild strampelnd versuchte sie, sich von der Last zu befreien, die sie unter Wasser hielt.
Das Wasser. Das Wasser, die Dunkelheit unter der Oberfläche, die Wolken, Blitze, der tosende Sturm, der Geschmack nach faulem Holz und Erde. Es war wieder wie damals, in ihrer Kindheit, alles passte. Selbst der schmierige Untergrund, auf den sie vom Gewicht des Monsters gepresst wurde, unterschied sich nicht im Geringsten von dem in jener Nacht, als Tamy in den Fluten versank. Als Nina das begriff, hörte sie auf, sich zu wehren, und wurde von einem tiefen, inneren Frieden ergriffen. Sie öffnete Augen und Mund und wartete auf das Ende, während das Monster ihren Körper wie eine Puppe hin und her schleuderte.
Tamy, ich komme zu dir!