Wie ein verdammter Freak!
Yuna irrte nackt und benommen durch den Wald, in ihrer Schulter eine klaffende Wunde, die stark blutete. An ihrer Schläfe lief das Rot ebenfalls, Haut und Haare fehlten darüber. Seit einigen Minuten konnte sie ihren Arm nicht mehr bewegen, er fühlte sich taub und, nun ja, abgestorben an.
Der Heckenschütze hatte sie einige Minuten zuvor erwischt, als sie ihrer Mutter beistehen wollte. Sie hatte gesehen, wie Poebe gegen diesen Mistkerl Carter kämpfte und wie sie ihn fertig machte, doch plötzlich schrie ihre Mutter auf und sank in die Knie. Yuna fing an zu laufen, so schnell sie nur konnte, doch sie kam zu spät. Ein Mann, den sie nie zuvor gesehen hatte, tauchte hinter Poebe auf und schoss ihr ohne mit der Wimper zu zucken in den Hinterkopf. Ihre Mutter war tot, als sie bei ihr eintraf, ihr Mörder verschwunden. Zuerst wollte sie die Spur dieses Scheusals aufnehmen und ihn stellen, doch dann entschied sie sich dafür, zuerst den Körper ihrer Mutter in Sicherheit zu bringen, weil sie hoffte, dass sich alles zum Guten wenden würde. Der Mörder konnte warten, es war leicht, seine Spur wieder aufzunehmen.
Binnen weniger Sekunden nahm sie ihre menschliche Gestalt an, damit sie den Körper ihrer Mutter unter den Achseln anpacken und davonschleppen konnte. Da war es geschehen. Das großkalibrige Projektil traf sie, bevor sie den Knall hörte. Yuna flog wie von einer großen Faust getroffen ins Gras. Noch bevor sie den Boden erreichte, traf etwas ihren Kopf und ließ die Welt um sie herum explodieren, gefolgt von finsterer Nacht.
Und jetzt, wenige Minuten, oder vielleicht doch nur Sekunden danach, irrte sie durch den Wald und versuchte sich daran zu erinnern, wo sie war. Sie kannte hier jeden gottverdammten Baum, doch sie wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte, um ihren Bruder oder ihren Vater zu finden. Der Blutverlust hatte sie inzwischen derart geschwächt, dass sie nicht mehr ihre starke, angestammte Form annehmen konnte, mir der es ihr ein Leichtes gewesen wäre, die Wunde wegzustecken.
Ich habe meine Mutter verloren und kann sie nicht mehr finden!
War das überhaupt ihr Ziel, ihre Mutter zu finden?
Verwirrt hob sie Blätter vom Boden auf und presste sie sich auf die Wunde an ihrer Schulter. Ihre Finger suchten die Verletzung an ihrem Kopf, dort fühlte es sich klebrig und feucht an. Verwundert stellte sie fest, dass sie keinen Schmerz spürte. Sie spürte genauer gesagt überhaupt nichts mehr. Yuna legte den Kopf in den Nacken und sah in die sturmgepeitschten Wolken. Sie sank in die Knie und schloss die Augen, flehte um Beistand, um Kraft, um den Willen zum Überleben, oder, sollte sie einer der Jäger finden, um eine schnelle und schmerzlose Erlösung.
Die Jäger? Wer sind die Jäger? Sind nicht wir die Jäger?
Erst als sich die Wolken teilten und das Licht des Blutmonds auf ihr Gesicht fiel, öffnete sie wieder die Augen und sog die Kraft in sich ein, die er ihr schenkte.
Es war nicht so, dass sich ihre Wunden schlossen. Vielmehr war es eine nicht greifbare Macht, die in sie eindrang und bis in die Grundfesten ihres Seins erschauern ließ. Es durchströmte sie wie frisches, neugeborenes Leben. So fand Yuna wieder Kraft, um aufzustehen und weiterzumachen. Sie war hier, um etwas zu erledigen, nur was genau, da war sie sich nicht sicher. Verwirrt sah sie an sich herab. Ihre nackte Haut war schmutzig, Gras und Blätter klebte an ihrem frischen, roten Blut, das ihr die Schulter hinab über Brüste und Bauch bis zu den Hüften lief, wo es sich verlor. Abwesend fing sie an, mit ihrem Blut Muster auf ihrer Haut zu malen. Sie bemerkte es erst, als ihr Körper vollständig damit bedeckt war. Auch wenn Yuna nicht wusste, warum sie die Runen gezeichnet hatte und welchen Zweck sie erfüllten, sie erkannte sie sofort wieder. Es waren die gleichen Zeichen, wie sie Poebe verwendet hatte, wenn sie ihre alten Rituale vollzog.
Ist das ein Zeichen meiner Mutter? … Steht sie mir in dieser Nacht bei?
Yuna drehte sich einmal mit geschlossenen Augen im Kreis.
Sie wird mir den Weg weisen …
Als sie das Gefühl hatte, richtig zu sein, öffnete sie wieder die Augen und wollte loslaufen, wenn da nicht dieser bärtige Mann gewesen wäre, der ihr den Gewehrkolben ins Gesicht schlug.
Als sie wieder die Augen öffnete, drehte sich die Welt im Kreis. Alles stand Kopf. Auch der bärtige Mann, der nach Schweiß roch und schwarze Farbe im Gesicht hatte. In der Rechten hielt er ein langes, gefährlich aussehendes Messer. Seine Augen waren kalt wie Eis und wirkten tot, das Gesicht eine reglose Maske ohne die kleinste Spur des Mitgefühls.
Yuna fing an, zu begreifen. Er hatte sie mit einem Seil an den Füßen aufgehängt. So hoch, dass ihre nach unten gestreckten Arme den Boden nicht berühren konnten. Durch ihre Bewegungen drehte sie sich und verlor den Bärtigen aus den Augen. Am Baumstamm lehnte ein langes Gewehr mit einem großen Zielfernrohr.
Der Mann tauchte wieder in ihrem Blickfeld auf, direkt vor ihr. Er packte sie an den Haaren und zog sie zu sich heran. In seinem Gesicht regte sich kein Muskel. Yuna erfasste sein Vorhaben sofort. Er würde sie an den Haaren festhalten, ihren Kopf nach hinten biegen und ihr mit einem einzigen schnellen Schnitt die Kehle aufschlitzen, damit sie ausbluten konnte. Genau so, wie es manche Jäger mit ihrer Beute taten. Es war ein rein handwerklicher Vorgang, um die Jagd abzuschließen. Es würde keine Schmerzen geben und keine Folter, nur das schnöde, simple Sterben.
Yuna schrie auf und versuchte sich zu wehren. Haare rissen, doch sein Griff war zu stark. Nur Sekunden, dann würde der brennende Schnitt erfolgen. Sie kämpfte dagegen an, fokussierte ihre Wut in einem einzigen Gedanken. Das Messer war jetzt nicht mehr fern, höchstens ein paar Zentimeter.
Ihre Stimme überschlug sich. Yunas gesunde Hand schnellte nach oben und bohrte sich mit schrecklichen, messerscharfen Krallen in die Eingeweide des überraschten Mannes. Er versuchte zurückzuweichen und riss sich dabei nur selbst die Organe aus dem Körper, in die sich Yunas Hand gekrallt hatte. Sie war zwar nicht stark genug, um sich vollständig zu verwandeln, doch für eine Hand hatte es gereicht. Sie mobilisierte ihre letzten Kräfte und schwang sich nach oben, um das Seil zu kappen.
Die Begegnung mit dem aufgeweichten Boden verlief äußerst unsanft. Während sie sich der Fußfesseln entledigte, behielt sie diesen seltsamen Kerl im Auge. Er wälzte sich am Boden und versuchte, seine Gedärme wieder in die Öffnung im Bauch zu stopfen. Er musste schreckliche Schmerzen erleiden, doch kein Laut kam über seine Lippen. Endlich war Yuna wieder frei. Sie ging neben dem Mann in die Hocke. Er bewegte sich jetzt kaum noch. Seine Kleidung war von Blut durchnässt und sein linker Fuß scharrte auf dem Boden.
»Wer bist du?«
Der Mann sah sie nur mit diesen kalten Augen an, beide Hände auf das Loch in seinem Bauch gepresst.
Yunas Blick streifte das große Gewehr am Baum. »Hast du auf mich geschossen? …« Sie roch seinen sauren Schweiß, der vom nahen Tod kündete. »Stammt das verdammte Loch in meiner Schulter von dir, hm?«
Endlich, wenige Augenblicke vor dem Tod, huschte der Ansatz eines Lächelns über seine Lippen. » …«
Er war es. Er hat auf mich geschossen und er ist schuld daran, dass dieser andere Drecksack meine Mutter töten konnte!
Yuna wischte das Blut von der Brusttasche des Mannes. Ein Namensschild kam zum Vorschein. Hendershot.
Poebe ist tot? … Poebe ist … tot!
Sie beugte sich nach unten und presste dem feigen Mörder die Hand auf den Mund, um dieses kalte, selbstgefällige Lächeln nicht mehr ertragen zu müssen. Wenige Sekunden später versiegte sein Atem und Hendershot war tot.
Yuna stand auf und sah an sich herab. Der Arm mit der verletzten Schulter hing schlaff nach unten. Auf ihrem anderen Arm hatte sich Fell gebildet, die Finger endeten in schwarz glänzenden gebogenen Klauen.
Ich sehe aus wie ein verdammter Freak!
Der Mann zu ihren Füßen verschaffte ihr keine Genugtuung, denn der Mörder ihrer Mutter war noch immer am Leben. Er war da draußen, in ihrem Revier. Yuna sog die feuchtwarme Luft ein. Sie hatte ihn vorhin gerochen, sie konnte ihn auch jetzt noch riechen.
Jetzt komme ich, um dich zu holen!