Du musst leben!
Yuna beugte sich über ihren Bruder. Er lag auf dem Rücken und presste sich die Hände auf den Bauch. Blut sprudelte zwischen seinen Fingern hindurch. »Der Hurensohn hat mich ziemlich erwischt … Yuna, ich …«
»Ruhig …« Yuna berührte seine Lippen. »Das wird wieder … ich brauche nur Zeit!« Sie sprang auf und fing an, die Schubladen zu durchwühlen. Yuna wurde schnell fündig. Sie musste die Kugeln aus Jaros Körper entfernen und dazu brauchte sie eine lange, spitze Zange.
Yuna war gerade im Begriff, sich neben ihren Bruder auf den Boden zu knien, als das Küchenfenster zersprang und ein schlanker Körper durch die Öffnung hechtete, sich von der Wand abstieß und auf dem Boden abrollte. Yuna kannte den Geruch, den der Körper verströmte. Es war Peggy. Sie war sofort auf den Beinen und griff Yuna direkt an.
Die schrie auf und schaffte es mit Mühe, ebenfalls hochzukommen. Yuna stieß ihren gesunden Arm nach vorne und fuhr die Krallen aus, um den Angriff abzuwehren. Zu mehr war sie nicht in der Lage, da die verdammte Kugel in ihrer Schulter steckte und sie daran hinderte, ihre wahre Gestalt anzunehmen.
Peggy hatte damit keine Probleme. Sie verwandelte sich in der Luft, wurde zu einem roten, mit Klauen und Zähnen bewehrten Pfeil. Ihr Blut wallte auf und der Rougarou brach aus ihr hervor. Mit einem lauten Aufschrei stürzte sie sich auf Yuna und warf sie zu Boden.
Yuna gelang es, das weit aufgerissene Maul zur Seite zu schlagen, sie konnte aber nicht verhindern, dass die messerscharfen Zähne ihre Handfläche aufschlitzten. Speichel spritzte ihr ins Gesicht. Sie krachte auf den Rücken, mit der Bestie auf ihr.
Jaros Blick war fiebrig, verschwommen. Die Splitter der Gewehrkugel brannten sich wie Lava in sein Fleisch. Was da durch das Fenster gesprungen war, es gehörte nicht zur Familie. Er musste seiner Schwester beistehen, die selbst unter den Folgen der Schusswunde litt und nicht in der Lage war, sich vollständig zu verwandeln. Die lange Zange fiel aus Yunas Hand und schlitterte an einen der Schränke. Jaro musste zuerst diese verdammten Splitter loswerden, damit er seiner Schwester beistehen konnte. Unter Aufbietung aller verbliebenen Kräfte schob er sich langsam über den Boden, dem Werkzeug entgegen.
Blut spritzte, als sich Peggys Kiefer um Yunas Arm schlossen und ihn zerbissen wie sprödes Holz. Yuna schrie gellend auf. Adrenalin und Wut vereinten sich in ihrem Körper zu einem Orkan, der ungeahnte Kräfte freisetzte. Ihr Blut kochte. Trotz der Schmerzen konnte sie sich dem Rougarou entgegenstemmen. Yunas Kopf schnellte nach oben und verbiss sich in Peggys Schulter, die ein grelles Jaulen ausstieß und zum Gegenangriff überging. Ihre Kiefer schlossen sich fester und trennten Yunas Unterarm vollends ab. Heißes Blut ergoss sich in Peggys Mund und versetzte sie in Raserei.
Klauenbewehrte Pranken wirbelten durch die Luft und rissen Haut und Fleisch aus Yunas Leib. Doch sie blieb standhaft und griff ihrerseits an. Ihre innere Stärke überwand die Verletzung und gab dem verbliebenen Arm die Form, die sie brauchte, um zu überleben. Fingerlange Krallen zischten durch die Luft und zerteilten Peggys Körper, als wäre es aus Papier.
Jaro umklammerte mit der Kraft der Verzweiflung die Zange. Er musste seiner verletzten Schwester helfen, wenn er verhindern wollte, dass Peggy sie fertig machte. Das Fieber kroch aufgrund der Anstrengung schneller in seinen Körper, doch die Zeit drängte. Er führte sich die Zange an das glühend heiße Loch in seinem Bauch und schob sie in die blutende Öffnung. Das kalte Metall weckte ungeahnte Schmerzen. Jaro brüllte wie am Spieß, als er in seinem Körper nach den todbringenden Kugeln fischte. Mehrmals erwischte er eins der Dinger, doch sie glitten an den feuchten Backen ab und er musste tiefer nach ihnen suchen. Sein Blick huschte zwischen den kämpfenden Frauen, die mal Mensch, mal Rougarou waren, und der Wunde hin und her. Die Zeit rann ihm wie sein eigenes Blut durch die Finger.
Peggy wütete in den Gedärmen des unterlegenen Mädchens, das ihrerseits die verbliebene Pranke in die Schulter ihrer Feindin bohrte, um Sehnen und Muskeln zu durchtrennen. Der Kampf wandelte sich in ein Wüten, das nur ein Ziel kannte: Die totale Zerstörung des Gegners!
Die Zange umfasste die letzte Kugel und beförderte sie zutage. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis ihn die Kraft durchströmte, die er benötigte, um seiner Schwester zu helfen. Doch es war längst zu spät. Der feindliche Rougarou saß rittlings auf ihrem geschundenen Körper und hob sein bluttriefendes Maul in seine Richtung.
»Yuna!« Er schrie dem Monster den Namen seiner Schwester entgegen und machte sich zum Kampf bereit.
Peggy sah, wie sein Körper anwuchs und mächtiger wurde, als sie es jemals sein würde. Er stellte sich auf die Hinterbeine und brüllte ihr seine Wut entgegen. Peggy war angeschlagen. Sie warf sich herum und ergriff die Flucht, doch es war zu spät. Jaros Klaue packte ihren Hinterlauf und wirbelte sie durch die Luft. Er schmetterte sie mit einer solchen Kraft gegen die Wand, dass die Bretter zersplitterten. Ihre Krallen bohrten sich in den Boden und brachen bei dem Versuch, sich aus seinem eisernen Griff zu befreien.
Jaro ließ ihr in seiner Wut nicht den Hauch einer Chance. Er schmetterte sie wieder und wieder gegen die Wand, wollte gar nicht mehr aufhören damit. Erst als das Holz vor Blut triefte und auch der letzte Knochen in Peggys Körper gebrochen war, hörte er auf. Jaro drückte sie mit der Schulter gegen die Reste der Wand, umfasste mit der einen Pranke ihr Gesicht und packte mit der anderen ihren malträtierten Unterkiefer, um ihn ihr mit einem hässlichen Knirschen aus dem Kopf zu reißen.
All der Schmerz hatte ihr fast die Besinnung geraubt. Peggys Körper erzitterte, ihre Gliedmaßen strampelten unkontrolliert. Sie merkte kaum, wie Jaro sie durch das Fenster warf, fühlte aber wohl die darin verborgene Abscheu. Sie spürte nicht mehr, wie sie hart gegen den vom Feuer erhitzten Baumstamm krachte und ihr Rückgrat brach. Peggy nahm ein letztes Mal ihre menschliche Gestalt an, die nicht weniger zertrümmert war als die des Rougarou. Sie atmete ihr eigenes Blut, das ihre Lunge flutete. Was blieb, war ein letzter Blick auf den blutroten Mond, der ihr Sterben in kaltes Licht tauchte.
Jaro verschwendete keinen weiteren Gedanken an den Kampf und warf den Unterkiefer dem Rest des besiegten Rougarou durch das Fenster hinterher. Er kniete sich neben seine blutende Schwester. Peggy hatte derart gewütet, dass Yunas Körper einer bluttriefenden Kraterlandschaft glich. Ein Unterarm war abgebissen, der Bauch geöffnet, die Organe zerstört. Yunas schönes Gesicht war von scharfen Klauen zerschnitten.
Ihr Bruder sah sie jedoch genau so vor sich, wie sie einst gewesen war: Rein und wunderschön!
Behutsam hob er ihren Kopf an und bettete ihn auf seine Knie. »Das wird wieder … alles wird wieder so sein, wie zuvor.«
Yuna lief Blut aus dem Mund, Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch. »Du musst … überleben … geliebter Bruder. Du …« Sie hustete Blut, ihre Lungen pfiffen unter ihrem Atem.
Jaro schüttelte den Kopf. Er merkte nicht, dass er weinte und salzige Tränen auf das zerstörte Gesicht seiner Schwester tropften. Sie zeichneten helle Linien im grellen Rot. »Du darfst nicht sterben, hörst du? … Was soll ich denn ohne dich machen, hm? Bist mein Mond, meine Sterne …« Er streichelte ihr kastanienrotes Haar. Es war nass und klebrig.
»Leben …«, keuchte Yuna mit brechender Stimme. »Du musst leben!« Ihr Körper spannte sich an, als sie tief Luft holte. Erzitternd hauchte sie den letzten Atem aus.
Jaro sah, wie ihre Augen den Glanz verloren, und presste die Lippen zusammen. Als Yuna starb, zerriss seine Seele und er befand sich jenseits allen Schmerzes. Er hatte sich für sie verantwortlich gefühlt. Sie waren nie länger als ein paar Tage getrennt gewesen. Ging es dem einen schlecht, fühlte es der andere. Jetzt war Yuna tot und was blieb, war eine grenzenlose Leere, umgeben von Pein.
Er erinnerte sich an Eric und Nina. Yuna hatte ihre Gründe gehabt, die beiden hierher zu locken. Jaro nickte grimmig und beschloss, den Wunsch seiner Schwester zu erfüllen. Es war nicht zu spät, ihre Pläne umzusetzen, und wenn es das Letzte war, was er tat.