Du weißt nicht, was ich durchgemacht habe
Die Wolken hatten sich verzogen, der Himmel war klar und voller Sterne. Das Mondlicht tauchte den aufsteigenden Nebel in einen silbernen Schimmer. Der Steg zwischen den Weiden war für Eric nur eine Zwischenstation. Er wand sich am Ufer nach links und lief flussaufwärts. Es war nicht leicht, einen sicheren Weg durch störrisches Gestrüpp und miteinander verwachsenes Wurzelwerk zu finden und gleichzeitig Nina zu stützen. Sue half ihm mit Leibeskräften, aber sie war in ihrer menschlichen Gestalt eben nur ein junges Mädchen.
Eric hatte höllische Schmerzen. Jede Bewegung erinnerte ihn an die gebrochene Rippe, die jeden Schritt, sogar das Atmen zur Tortur machte. Es war die pure Angst, die ihn weitertrieb. Sie durften sich keine Pause, kein Zögern erlauben, denn die Rougarou waren ihnen auf den Fersen.
Als sie das Haus verlassen hatten, hörten sie das Splittern einer Scheibe, dicht gefolgt von einem fürchterlichen Poltern. Es klang, als würden sich zwei Säufer in einer billigen Absteige die Köpfe einschlagen – mit allem, was sie finden konnten. Was dort auch vor sich ging, der Sieger dieses gnadenlosen Kampfes würde keine Zeit verlieren, um sich auf ihre Fährte zu setzen.
Nina fing an, wirres Zeug zu reden. Sie sah zähnefletschende Bestien in den Schatten, wenn der Wind durch die Äste fuhr und sie dadurch schwankten. Sie wurde zusehends aggressiver. Als sie über eine Wurzel stürzte und Eric ihr auf die Beine helfen wollte, schlug sie seine Hand zur Seite und fuhr ihn wütend an. Jedem Aufbrausen folgte ein Zusammenbruch, bei dem sie sich wimmernd krümmte. Das Fieber tobte in ihrem Körper und raubte ihr offenbar die Sinne.
»Wohin zur Hölle führst du uns?«, beschwerte sich Sue, die mit den Folgen ihrer Verwandlung zu kämpfen hatte.
Warum ich?
Was habe ich getan, dass ich derart verflucht werde?
Sie wünschte sich nichts weiter, als wieder Zuhause mit ihren Leuten abzuhängen, sich zu betrinken und so ihre Sinne zu betäuben, um diesem Wahnsinn zu entkommen.
Einfach vergessen, das ist alles, was ich mir wünsche.
Doch die Realität sah anders aus, Sue musste das nur noch begreifen. Ihre Familie war ausgelöscht. Ermordet in den Sümpfen Louisianas. Und jetzt war sie selbst eine von denen geworden, die diese Tat begangen hatten. Die Cops würden auftauchen und Fragen stellen. Unangenehme Fragen, bei denen ihr Verhältnis zu ihrer Familie auf den Tisch kam. Dass sie bei den Cops keine Unbekannte war, würde ihre Situation sicherlich nicht verbessern. Sie sah sich schon in einem dieser Verhörräume sitzen, ihr gegenüber ein Detective mit Schweißflecken unter den Achseln seines billigen Hemdes.
Ah, ich sehe, sie neigen zur Gewalt. Haben Probleme damit, sich zu beherrschen, die Kontrolle zu behalten.
Wussten Sie, dass ihr Vater eine Waffe besitzt?
Wer war der Mann, der sie von der Straße gedrängt hat, etwa ein eifersüchtiger Freund von Ihnen?
War Alkohol im Spiel, oder etwa Drogen?
Dazu kam ihr Alter: Mit fünfzehn Jahren war sie nicht mündig und nahe Verwandte hatte sie keine. Die Konsequenz war, dass man sie in eine verdammte Pflegefamilie stecken würde, im schlimmsten Fall in ein Heim.
Eric jauchzte vor Freude. Das letzte Stück waren sie durch knöcheltiefes Wasser gelaufen und hatten sich durch eine große, mit Schilf bewachsene Fläche gekämpft. Er bog die letzten Halme auseinander und sah das Ziel direkt vor sich. »Endlich …«
Es war die Stelle, an die er mit Chander gegangen war und er ihm die Geschichte seiner Familie erzählt hatte. Dort, wo der alte, halb vermoderte Kahn lag. Eric hätte nie damit gerechnet, selbst Teil dieser Geschichte zu werden.
»Das ist nicht dein Ernst, oder?« Sue schüttelte den Kopf und starrte auf das wenig Vertrauen erweckende Gefährt. »Das Ding säuft doch ab, sobald es keinen Grund mehr unter dem Boden hat!«
Eric setzte Nina auf eine der Sitzplanken im Kahn. Tatsächlich hatte der Löcher im Boden. Die Wände waren morsch und vom Zahn der Zeit zernagt. Doch dieses Boot war ihre einzige Chance, von hier wegzukommen. »Es soll nur auf dem Wasser schwimmen, egal wie …« Er ging zum Kiel und versuchte erfolglos, dass im feuchten Grund halb eingesunkene Boot ins Wasser des Atchafalaya zu schieben. Die Verletzung raubte ihm seine sowieso schon geringe Kraft. Es bewegte sich keinen Millimeter. »Ich schaff’s nicht …«
Doch Sue stellte sich quer. »Das ist Schwachsinn … da mach ich nicht mit.« Sie verschränkte ihre Arme und drehte Eric demonstrativ den Rücken zu.
»Verdammt nochmal, Sue!« Eric brauste auf und packte das Mädchen am Arm, zog sie herum. »Was ist dein Problem, hm? … Willst du hier etwa sterben? … Ist es das?«
Sues Augen glänzten feucht. »Mein Leben war bereits auf der Interstate zu Ende …«
Eric ergriff ihre Hände. »Blödsinn, wir haben eine reelle Chance … Aber das kann sich schnell ändern, wenn die uns erwischen! … also …« Alleine würde er es niemals schaffen, den Kahn ins Wasser zu schieben.
Sue sah ihn mit einer plötzlichen Entschlossenheit an und sagte: »Ich … ich kann nicht mitkommen!«
»Was?« Eric blickte das Mädchen geschockt an. »Du kannst nicht mitkommen? Im Ernst?«
Sue nickte, sah zu Boden. »Schau mich doch an … Du weißt, was mit mir ist …«
Eric packte sie fester. »Das kann man heilen. Wir suchen ein gutes Krankenhaus und …«
»Ich bleibe hier!«, entgegnete Sue mit fester Stimme. »Mein Entschluss steht fest.«
»Das kannst du nicht wissen!« Eric löste sich von ihr, lief zu Nina und kniete sich neben dem Kahn in den schlammigen Grund. »Die Ärzte werden wissen, was zu tun ist … Die wissen das immer!«
»Du weißt nicht, was ich durchgemacht habe«, beharrte Sue, »Es ist wie ein wildes Tier … Es ist in mich eingedrungen, hat mich verändert. Ich habe Angst, dass ich es nicht kontrollieren kann, verstehst du?«
Sue ging neben den beiden in die Hocke, fasste Nina und Eric an. »Was ist, wenn es im Krankenhaus wieder passiert … in einer Stadt, einer Schule … Gehe ich zurück, sterben Menschen!«
Eric dachte über Sues Aussage nach und begriff, dass sie womöglich recht hatte. »Hilf uns wenigstens dabei, von hier wegzukommen … ich schaff das nicht alleine mit dem Kahn.«
Es kostete sie Schweiß, Schmerzen und Blut, doch gemeinsam schafften sie es, den maroden Kahn ins Wasser zu schieben. Nina war auf der Bank zusammengesunken, ihre Zähne klapperten.
Eric versuchte sich in einem kläglichen Lächeln. Er wusste nicht, was er sagen sollte, deshalb nahm er Sue vorsichtig in die Arme und drückte sie für einen kurzen Moment an sich. Es war unglaublich, wie tapfer dieses Mädchen war.
Er stieg in den Kahn und stieß ihn vom Ufer ab. Das träge Wasser des Atchafalaya trug ihn mit sich. Schon nach den ersten Metern wurden seine Füße vom braunen Wasser des Flusses umspült.
Muss nur oben bleiben. Das ist alles, was ich will … nur oben bleiben … über dem Wasser!