Gehen wir nach Hause
Die weiße Scheibe schwebte über ihm, erinnerte ihn an den Mond über Cow Island. Doch er befand sich nicht mehr in den Sümpfen. Er lag in einem Bett und hatte nichts weiter als ein raues, gebleichtes Hemd am Körper. Die Laken waren steif und kühl, die harte Matratze steckte in einem weiß lackierten, eisernen Rahmen. Eric öffnete den Mund und merkte, wie sich seine trockenen Lippen mit einem leichten Schmerz voneinander lösten. Er hatte schrecklichen Durst. Endlich klärte sich sein Blick. Die Decke über ihm war in einem milchigen Weiß gestrichen, das von winzigen Rissen durchzogen war. Die helle Scheibe war eine Lampe. In ihrem Glas sammelten sich die toten Körper unzähliger Fliegen.
Umgeben von Wänden, die mit einer gummiartigen, beigen Farbe gestrichen waren, realisierte Eric, dass er in einem Krankenhaus war. Er richtete sich auf und spürte den Schmerz in seiner Brust, den die gebrochene Rippe verursachte. Dort spannte sich ein steifer, blütenweißer Verband. Überhaupt schmerzte ihn sein ganzer Körper, jeder einzelne Muskel. Ein steifes Pflaster klebte auf der pochenden Nase. Seine Haut war sauber und roch intensiv nach Seife. Jemand hatte ihn gewaschen, überall.
Das Fenster stand offen. Ein kühler Wind bauschte die Vorhänge auf. Draußen war Nacht. Eric hörte die Geräusche einer Stadt, hupende Autos und Menschen, die sich unterhielten und lachten. In weiter Ferne rollte ein schwacher Donner und weckte die Erinnerungen an Butte la Rose. Und die Sorge um seine Gefährtin.
Nina!
Im Zimmer stand kein weiteres Bett, aber das hatte nichts zu bedeuten. Sie hatten Nina gewiss woanders untergebracht, vielleicht lag sie wegen ihres Fiebers sogar auf der Intensivstation. Sofort waren die Sorgen wieder da.
Hoffentlich ging es ihr besser, hoffentlich konnten sie ihren Arm retten …
Eric setzte sich auf und schwang seine Füße aus dem Bett. Der Boden fühlte sich kühl und glatt an. Anders als alles, mit dem er die letzten Tage in Berührung gekommen war.
Hier muss es diesen verdammten roten Knopf geben, mit dem man die Schwester rufen kann. Sie wird mir alles erklären.
Dumm war nur, dass es diesen roten Knopf nicht gab. Es gab das Bett, das offene Fenster, die hässliche Lampe an der Decke und einen winzigen, leeren Nachttisch, aber keinen Rufknopf und auch sonst nichts, was auf ein normales Patientenzimmer hindeutete. Eric fuhr sich verunsichert mit den Händen übers Gesicht und sah ein rotes Band um sein Handgelenk, auf dem sein Name und eine Nummer standen.
Dreihundertzweiundzwanzig … Was immer das bedeuten mag.
Eine Windbö wehte den Vorhang zur Seite und gab den Blick aus dem Fenster frei. Das Zimmer befand sich in einem höher gelegenen Stockwerk. Eric sah die Lichter einer Stadt, doch etwas anderes weckte sein Interesse. Im Fenster hing eine Art Mobile. Er stand auf, um sich das Sammelsurium aus kleinen Gegenständen genauer anzusehen. An dünnen Fäden hingen Münzen, Federn, ja sogar Bohnen und gefaltete Fotografien.
Ich habe das schon gesehen. Als wir in Butte la Rose waren, an Häusern und in dem Restaurant, dem Atchafalaya Rose. In welcher Stadt bin ich jetzt?
Mit Sicherheit war er nicht weit von Butte la Rose entfernt. Eric ging zur Tür und öffnete sie. Er musste unbedingt Nina finden. Die Tür war nicht verschlossen. Auf der anderen Seite erwartete ihn ein langer, unbeleuchteter Flur, durchsetzt mit Türen wie dieser. Vorne flackerte eine defekte Neonröhre. Das Licht wirkte seltsam anziehend auf ihn.
Wie eine verdammte Motte, die ins Helle fliegt … oder eine Fliege ins elektrische Gitter.
Die Neonleuchte hing über einer Theke, hinter der normalerweise eine Schwester sitzen sollte, welche Besucher empfing oder sich um die Patienten kümmerte. Der Stuhl dahinter war leer, niemand war da. In der Decke über ihm brummte eine Klimaanlage.
Eric beschlich ein beklemmendes Gefühl. Er sah sich kurz um und ging hinter die Theke. Dort gab es einen kleinen Aktenschrank, doch die Schubladen waren allesamt abgeschlossen. Es gab eine Schreibunterlage, auf der Notizen vermerkt waren. Alles belanglose Dinge wie der Einkaufszettel einer Schwester. In einer Tasse stand kalter Kaffee. Eric dachte kurz darüber nach, damit seinen Durst zu löschen, sah jedoch davon ab, als er die Fliege bemerkte, die in der schwarzen Brühe schwamm.
Schließlich stand da noch ein altmodisches braunes Telefon, das so gar nicht zu einem modernen Krankenhaus passen wollte. Eric nahm den Hörer ab und presste ihn ans Ohr. Er fühlte sich fettig an. Vergeblich wartete er auf das Tuten des Freizeichens. Er drückte die Gaben mehrmals nach unten, doch das Telefon blieb tot. Auch das Betätigen der Nummerntasten änderte nichts daran. Verunsichert legte er den Hörer wieder auf.
Was zur Hölle ist hier los … Wo sind die nur alle?
Plötzlich fühlte er sich versucht, um Hilfe zu rufen, doch die Erlebnisse der letzten Tage ließen es nicht zu. Wer laut war, konnte die Aufmerksamkeit der falschen Leute auf sich ziehen und solange nicht klar war, was sich hier abspielte, hielt er lieber den Mund.
Gegenüber der Theke gab es einen kleinen Wartebereich mit einigen Stühlen und einem Tisch, auf dem sich abgegriffene Zeitschriften stapelten. Und eine Schwingtür, die offensichtlich aus dieser Abteilung führte.
Eric näherte sich zögerlich der Tür. Es war ihm unangenehm, nur mit einem Krankenhausnachthemd bekleidet und barfuß außerhalb des Zimmers herumzulaufen. Er glaubte, von der anderen Seite der Tür Geräusche zu hören, war sich aber nicht sicher. Die Türflügel waren gut geölt und öffneten sich lautlos.
Vor Eric lag ein nahezu identischer, hell erleuchteter Flur. Doch was er dort zu sehen bekam, raubte ihm den Verstand. Er hatte Nina gefunden. Sie kniete auf dem Boden über einer offensichtlich toten Krankenschwester, deren Oberkörper ein großes, fleischiges Loch war. Überall war Blut. Auf dem Boden, den Wänden, ja sogar bis an die Decke war es gespritzt. Nina trug ebenfalls eines der Nachthemden aus dem Krankenhaus. Sie hockte leicht gebückt vor der Leiche, die Hände voller Fleisch und Eingeweide. Ihr kauender Mund triefte vor Blut, der Stoff ihres Hemdes ebenfalls. Der Verband an ihrem verletzten Arm hing in langen, feuchten Bahnen zu Boden.
Ihr Kopf schnellte herum, als Eric den Flur betrat. Er sah, wie ihre Augen erst gelblich glänzten und dann einen normalen Ausdruck annahmen. Sie ließ die blutigen Klumpen fallen und sah ihn an. Es hatte den Anschein, als würde sie abwägen, ob sie ihn anfallen oder ignorieren sollte.
Schließlich huschte ein flüchtiges Lächeln des Erkennens über ihr Gesicht. »Eric!«
Der wich einen Schritt zurück, konnte sich dem Anblick aber nicht gänzlich entziehen. Seine Beine zitterten und kalter Schweiß ließ ihn erschauern. »Nina …« Es war nur ein Krächzen mit einem hohlen Klang.
Nina stand auf. Ihre Finger waren lange, gefährlich aussehende Krallen, von denen Blut tropfte. »Ich wollte zu dir … doch sie haben es mir verweigert … Sie sagten, etwas sei mit mir nicht in Ordnung« Sie bewegte sich auf Eric zu, stockte aber, als sie sah, dass er zurückwich.
Eric hob abwehrend die Hände. »Bitte … nicht!«
»Hab keine Angst, Eric … alles ist so, wie es sein soll. Du bist bei mir.« Sie lächelte ihn an. »Alles ist wieder gut!«
Plötzlich stand sie vor ihm. Er spürte die Berührung ihrer nassen Hände und erschauerte. Sie roch … animalisch. Nach rolliger Katze. Eric schloss die Augen und wartete auf das Unvermeidliche.
»Hab keine Angst«, hauchte sie ihm ins Ohr. Ihr Verhalten war alles andere als zurückhaltend. Das war nicht mehr die Nina, die es hasste, berührt zu werden. Das war nicht mehr dieses dünne, unscheinbare Mädchen, das nur im Beruf Stärke zeigte.
Eric schluckte, als er ihre Lippen auf seinem Hals spürte, doch er wich nicht mehr zurück. Er wusste nicht, ob es an seiner überwältigenden Angst lag oder an ihrem paarungsbereiten Geruch. Er war schlichtweg nicht in der Lage, sich ihrem morbiden Reiz zu entziehen. Es war so lange sein Wunsch gewesen, dass sie sich näherkamen. Doch dass es auf diese Weise geschah, katapultierte ihn an den Rand des Wahnsinns.
Ihre Finger glitten seinen Arm hinab. Die Berührung ihrer spitzen Krallen war elektrisierend. Zärtlich nahm sie seine Hand und drückte sie vorsichtig. »Komm, mein Liebster … gehen wir nach Hause!«