15

Die Sonne sollte im Juli zwar heiß scheinen, aber an diesem einen Tag stand sie hoch am wolkenlosen Himmel und hatte sich anscheinend vorgenommen, die grünen Blätter der Buschbohnen, die violetten Blüten der Hortensien und alles andere zu verbrennen, das LoLos Welt erhellte. Daher war LoLo entschlossen, sich durch nichts von der Gartenarbeit abbringen zu lassen. Die Stangenbohnen, der Grünkohl, die frischen Zwiebeln und der Kürbis würden ungefähr ab nächstem Monat gute Sonntagsessen ergeben. Doch dafür brauchten sie Schutz – Wasser und sonstige Pflege. Genau die wollte sie ihnen geben.

So konnte sie das Baby gar nicht schnell genug zum Mittagsschlaf hinlegen. Rae quengelte noch ein bisschen, als LoLo ihr Haar schon mit einem von Tommys Bandanas zusammenband und in den Garten hinter dem Haus schlüpfte. Ohne Schuhe, aber dafür mit Hacke, Rechen und Schlauch in der Hand sowie TJ dicht auf ihren Fersen. Das Baby würde schon bald zur Ruhe kommen. Und LoLo im Garten auch. Sie stand auf dem Rasenfleck neben ihrem Beet, hob das Gesicht ins Licht des hellsten Sterns und bohrte die Zehen und Fußballen in das dichte Gras bis hinunter zur Erde. TJ schaute auf die Füße seiner Mutter, dann auf seine eigenen und machte es genauso. Dabei wackelten seine kleinen Zehen so heftig, dass er davon umgefallen wäre, hätte seine Mutter ihn nicht am Arm festgehalten. »Fühlt sich gut an, was?«, sagte sie mit einem aufrichtigen Lachen. Und als würde sie ihre Anwesenheit – ihre Erdung – wohlwollend zur Kenntnis nehmen, schickte Mutter Erde eine leichte Brise, die ihre Wangen mit einer leichten Kühle küsste. LoLo schloss die Augen und holte tief Luft. Heute, beschloss sie, würde ein guter Tag sein.

»Mama!«, rief TJ ihr zu. Schnell wie ein Wimpernschlag hatte er es zur untersten Stufe des Aufgangs zur hinteren Veranda geschafft. »Schau!«, rief er. Während LoLo die Hände hob, aber noch bevor sie ein »Nein« herausbringen konnte, war TJ in die Knie gegangen, hatte die Arme nach vorne geschwungen und war losgesprungen. Er stürzte ganz knapp vor dem Beton hart aufs Gras. Kichernd stand er wieder auf. Da musste LoLo auch kichern. Normalerweise verschloss sie ihr Herz davor, das Leben des kleinen Jungen direkt vor ihren eigenen Augen aufblitzen zu sehen. Anfangs hatte sie vergessen, wie hart im Nehmen kleine Jungen sein konnten – wie schnell sie rannten und hinfielen, wie sie tobten und mit der Genauigkeit einer Rakete die schmutzigsten, chaotischsten Dinge aufstöberten. Matschpfützen. Mülltonnen. Würmer und Ameisenlöcher tief in der Erde. In TJs Welt waren das Seen, in denen er mit seinem Boot paddelte – Fischgründe voller Barsche und Weißfische, die man mit imaginären Angelruten fing. LoLo lernte rasch, ihrem Anflug von Jungenhaftigkeit freien Lauf zu lassen. Den hatte sie auf den Feldern und in den Wäldern hinter dem Waisenhaus ausgelebt, wo sie fern von den Blicken der Mothers wild und frei herumrennen konnten. Wenn sie es sich selbst erlaubte, genoss sie TJ. Mit Rae war das anders.

»Whoa, das war ein guter Sprung!«, rief LoLo TJ mit einem breiten, echten Lächeln zu. »Bist du heute Superman? Wohin fliegst du denn? Kann ich mit?«

»Komm, Mama! Lass uns zum Mond fliegen!«

TJ rannte los und flatterte wild mit den Armen, während er, so schnell seine Beinchen ihn trugen, im Kreis durch den Garten rannte. LoLo ging mit ihren langen Beinen ein Stück in die Knie und lief, ebenfalls mit den Armen flatternd, in kleinen Schritten hinter ihm her. So taten sie beide, als würden sie durchs Weltall fliegen. Die Guten auf einem ihrer großen Abenteuer. So machten sie immer weiter, flogen am Mond vorbei zu Saturn und Venus und Mars.

»Okay, okay«, sagte LoLo schließlich außer Atem und besorgt, ihr ursprüngliches Vorhaben nicht zu schaffen. »Das reicht, lil’ man. Jetzt geh da rüber, nimm dir deinen Ball und spiel, während Mama sich um diesen Garten kümmert. Bevor deine Schwester wieder aufwacht.«

Gehorsam holte TJ sich seinen blau marmorierten Gummiball und schoss damit überall im Garten herum. LoLo begutachtete unterdessen die ordentlichen Reihen von Gemüse, das sie aus Samen gezogen hatte, die zu Setzlingen und schließlich Pflanzen herangewachsen waren. Um ihren Bauch und ihr Herz zu nähren. An jedem einzelnen Tag freute sie sich auf diese besonderen Augenblicke – auf das Summen der Bienen, während sie Unkraut zupfte, auf den Geruch von Hühnermist oder Pferdeäpfeln in der frischen Luft, je nachdem was sie bekommen konnte, um zu düngen. Das erinnerte sie an das wenige Gute, das sie dem Heranwachsen in South Carolina hatte abgewinnen können. Die Baumwollfelder unter der Sonne Carolinas waren brutal gewesen. Und ihren Onkel, der sie aus dem Waisenhaus gerettet und in einer anderen Hölle angekettet hatte, verheizten sie dort draußen. Sie arbeiteten alle hart – das lag in der Natur des Pächterdaseins. Daher hatte niemand dort ein glamouröses Leben, doch die mühsamsten Pflichten sparten Bear, der Cousin ihres Vaters, und dessen Frau Clarette für LoLo auf. So kroch sie an vielen Abenden mit Schmerzen am ganzen Leib in ihr Bett, mit Blasen an den Füßen und sonnenverbrannter Haut. Auf der Erde kniend musste sie zwischen den langen Reihen der Pflanzen Steine aufklauben oder mit bloßen Händen Erde auf die Samen häufen. Am schlimmsten war, im Hühnerstall die zementharte dicke Kruste aus Federn, Spinnweben und Kot auszumisten. Dabei gab es dort drin kaum Luft, und Licht fiel nur durch die Ritzen zwischen den Brettern. Trotzdem ihre morgendliche Ration Haferbrei bei sich zu behalten – an großzügigen Tagen vielleicht auch ein Biscuit mit einer Scheibe gesalzenem Schweinefleisch –, das war eine genauso große Herausforderung wie einen weiteren Tag auf dem Land zu überleben. Aber genau das tat sie. Irgendwann genoss sie es – die Ruhe, die Verbindung zur Erde. Die Flucht aus Bears Händen. Denn die waren jetzt statt mit LoLos Körper voll mit den Gaben der Erde beschäftigt. Sie hatte die Landwirtschaft im Blut. Die Gartenarbeit berührte sie.

LoLo beugte sich vor zu dem Strahl kühlen Wassers, das aus dem Gartenschlauch schoss, und nahm einen Schluck davon. Dann presste sie den Daumen auf die Öffnung, um einen Sprühregen zu erzeugen. Das Wasser schimmerte in den Sonnenstrahlen und erzeugte einen Regenbogen. Lächelnd begann LoLo einen ihrer Lieblingssongs zu summen. Links von ihr kickte TJ seinen Ball und rannte ihm nach, als wäre das sein Job. Da schlug hinter ihr das Tor neben der Einfahrt zu. LoLo schaute in die Richtung: Cindy schnippte mit den Fingern und tänzelte ein wenig umher, während sie mitzusingen begann. »Another Saturday night and I ain’t got nobody … Yeah, das ist doch von Sam Cooke«, sagte Cindy, als sie neben LoLo trat und ihr beim Wässern zusah. »Der Mann wusste, dass er gut aussah. Und ich wette mit dir, dass er samstags die volle Auswahl hatte, mmmhmm!«

LoLo lachte, hielt aber den Blick weiter auf ihre Pflanzen gerichtet. »Du spinnst!«

»Aber hab ich nicht recht?«

»Ich schätze schon. Wahrscheinlich konnte er aus einer ganzen Traube aussuchen«, sagte LoLo fröhlich lachend. Bis sie sich umdrehte und in Cindys Gesicht sah. Die schmetterlingsförmige Brille ihrer Freundin verbarg etwas von der Prellung, aber nicht alles. LoLo wässerte weiter, aber das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. »Was ist los, Cindy? Was bringt dich an diesem Nachmittag hierher?«

»Ich weiß nicht«, sagte Cindy leise und trat von einem Fuß auf den anderen. »Ich bin vorbeigefahren. Wusste, dass ich dich hier draußen bei diesen Stangenbohnen finde.« Sie richtete den Blick auf die beiden riesigen Hortensienbüsche am Zaun. »Whew wee, die Hortensien hat Tommy aber gut hingekriegt. Er hat sie für dich so dunkelviolett gefärbt, was?«, sagte sie und schirmte ihre Augen gegen die Sonne ab.

LoLo schwieg. Ihr war nicht danach, über blühende Büsche von irgendwem zu reden. »Sieht aus, als wäre Tommy nicht der Einzige, der Sachen violett färbt.«

Cindy berührte ihre linke Wange, aber die Worte schienen ihr im Hals stecken geblieben zu sein. Nach einem langen Schweigen kam LoLo ihr zu Hilfe. »Bereitet Roosevelt schon irgendwo seine Entschuldigungen vor?«

»Keine Ahnung, wo er steckt«, meinte Cindy kurz angebunden. »Ist mir auch egal.«

LoLo bewässerte weiter den Garten, wobei das kalte Wasser ihren Daumen taub werden ließ. Als sie das Gefühl hatte, ihr Gemüse und die Blumen hätten genug abbekommen, und als Cindys Schultern sich ein wenig entspannten, während Vogelgezwitscher ihre traurigen Gedanken begleitete, da nahm LoLo endlich den Daumen weg. Daraufhin lief das Wasser auf ihre nackten Füße.

»Gib mir einen Schluck davon«, sagte Cindy.

LoLo hielt den Schlauch höher und sah Cindy zu, die sich vorbeugte und den Wasserstrahl mit den Lippen berührte. Nach ein paar schnellen Schlucken richtete sie sich wieder auf und holte eine Packung Kool-Zigaretten und ein Streichholzbriefchen heraus. Sie bot LoLo eine an. Dann standen beide da, inhalierten das Nikotin und bliesen mit zurückgelegten Köpfen Rauchkringel in den wolkenlosen Himmel, während das Wasser ihre Füße umspülte.

»Ich bin schwanger«, sagte Cindy irgendwann.

LoLo warf einen Blick auf den Bauch der Freundin und nahm einen weiteren Zug, sagte jedoch kein Wort. Dann ging sie an die Seite des Hauses, drehte den Wasserhahn zu und nahm noch ein paar Züge, bevor sie wieder zu ihrer Freundin zurückstapfte. Sie hatte Mühe, die richtigen Worte zu finden.

»Meine Periode ist ungefähr sechs Wochen überfällig, und mein Bauch fühlt sich … seltsam an. Als würde sich da drin irgendwas multiplizieren und teilen – fest werden und gleichzeitig wachsen.« Cindy nahm wieder einen Zug und ließ dann die Hand mit der Zigarette sinken. Da wurden die Tränen sichtbar, die begonnen hatten, ihr über die Wangen zu laufen. »Ich kann das nicht.«

LoLo ging in die Hocke, um ihre Zigarette in einer kleinen Pfütze auszudämpfen, die sich in der Erde rund um die Bohnenstangen gebildet hatte. »Nicht mit ihm, das kannst du nicht. Da bin ich ganz deiner Meinung. Wir müssen für dich einen Ort finden, an dem du untertauchen kannst, um dir zu überlegen, wie es mit dem Baby weitergehen …«

»Ich werde es nicht behalten«, schnitt Cindy ihr das Wort ab.

LoLo runzelte die Stirn. »Was meinst du mit nicht behalten?«

Cindy schwieg.

»Cynthia Clayton«, fauchte LoLo. Ihre Worte ließen die Freundin zusammenzucken. »Tut mir leid, tut mir leid – es tut mir leid«, sagte LoLo rasch, weil sie begriff, dass ihre laute Stimme die ohnehin angeschlagene Freundin erschreckt hatte. Sie versuchte, Cindy zu umarmen, doch deren Körper blieb starr.

»Ich habe mich entschieden. Ich kann mit dem Mann kein Baby auf diese Welt bringen. Wenn ich sehe, wie er mit mir umgeht, kann ich nicht sicher sein, ob er das auch mit unserem Kind machen würde.«

»Aber ich verstehe nicht«, sagte LoLo. »Du hast doch eine Wahl. Du kannst dich statt für diesen Mann für das Baby entscheiden.«

Cindy schnaubte. »Und was machen? Ein Baby alleine großziehen?«, fragte sie. »Hast du vergessen, wie hart es hier draußen für uns ist? Wie hart es verdammt noch mal ist, uns selbst durchzubringen, ganz zu schweigen von diesen Kindern? Dass die ganze Welt dich nur für eine billige Nigger*nutte halten wird, wenn du hier mit einem Haufen rotznasiger Kinder rumläufst und nicht die Rede von einem Daddy ist? Nicht alle haben einen Tommy, der bereit ist, da rauszugehen und wie er zu arbeiten, um euch alle zu ernähren.«

»Was kümmert’s dich, was andere Leute über dein Baby denken?«

»Mich kümmert es, am Leben zu bleiben«, sagte Cindy. »Mit einem Baby schaffe ich das nicht.«

»Aber mit Roosevelt schaffst du es?«, fragte LoLo. Sie griff nach Cindys Kinn und blickte ihr in die Augen. »Der Mann wird dich umbringen.«

Cindy zog ihren Kopf mit einem Ruck weg. »Ich werde mit ihm fertig. Aber ich schaff es nicht, allein zu sein. Das kann ich einfach nicht.« Sie wischte sich die Tränen ab, die weiter über ihre Wangen liefen. »Und ich bin nicht hergekommen, um mich verurteilen zu lassen, LoLo. Ich bin gekommen, weil ich deine Hilfe brauche.« Sie hob den Blick und sah ihrer Freundin in die Augen. Dann legte sie eine Hand auf ihren Bauch und bedeutete LoLo, ihn sich anzusehen.

LoLo schüttelte langsam den Kopf. »Nein, nein, nein, nein, nein – das kannst du nicht tun«, flüsterte sie. »Tu das nicht, Cindy – bitte.«

»Ich habe keine andere Wahl, verstehst du das nicht?«

»Wenn du das machst, werden sie dir jede Wahlmöglichkeit nehmen, verstehst du das nicht?«, flehte LoLo. Sie griff mit einer Hand nach Cindys Bauch und legte die andere auf ihren eigenen. »Ich weiß das. Ich weiß es einfach. Das willst du nicht, das willst du nicht, das willst du nicht«, sagte sie, während sie den Kopf schüttelte und Tränen auf ihrer Haut glitzerten.

***

Herbst 1963

Die meisten Menschen – Negros* sowieso – erinnern sich an die Einzelheiten des 15. September 1963 wie ein Maler, der seine Pinselstriche macht: Die Sonne schien von einem wolkenlosen blauen Himmel und die Fische in Mill’s Creek, draußen in den Bergen Virginias, sprangen praktisch nach Zacharias Wilsons Angelschnur, und Diakonin Bunche, diejenige mit der tiefen Stimme am frühen Sonntagmorgen und den Buttertoffees ganz unten in ihrer Handtasche, rief in der ersten Bankreihe einer Kirche drüben in Texas gerade die Engel direkt vom Himmel herunter, als sich die Nachricht von Ost nach West nach Norden und Süden verbreitete. Die Nachricht, dass vier kleine Lämmchen durch die Hand eines elenden Crackers im heiligsten Moment der Woche ermordet worden waren. Zu Beginn der Sonntagsschule, wo Kinder in ihrem schönsten Kirchengewand von den Eltern hingeschickt werden, um das Wort Gottes zu lernen. Lynchmorde waren alle grauenvoll – verdrehte, geschundene und sogar zerstückelte Leichen, verzerrte Gesichter, erstarrt in dem letzten Moment, als Genicke brachen und letzte Atemzüge die Körper verließen. Wenn die Opfer, die armen Opfer, unschuldig, definitiv verängstigt und sicherlich unvorbereitet auf das Ende alle Augenblicke ihres Lebens noch einmal aufblitzen sahen und dann in das Licht blickten, das Vorfahren, die sie nach Hause riefen, für sie leuchten ließen. Es ist entsetzlich, sie so zu sehen. Doch der Gedanke, dass vier kleine Mädchen, mit frisch geglättetem Haar, hübschen Baumwollkleidchen bis zu den Knien, in Mary Janes, die mit Vaseline und vielleicht ein bisschen Spucke auf Hochglanz poliert waren, einfach … tot sind. Eine derartige Tragödie? Ein so monströses Verbrechen? Das brennt sich ins Gedächtnis. Die neue Nachricht vom Mord an vier kleinen Mädchen lässt sich genauso wenig abschütteln, wie man die Schwärze von der Haut eines Negros* abschrubben kann.

Aber LoLo erinnerte sich an das Datum noch aus anderen Gründen als dem Lynchmord an diesen Kindern. Tatsächlich erinnerte sie sich an den 15. September 1963, weil es der Tag war, an dem ihre eigenen Kinder gelyncht wurden.

Das Baby in ihrem Bauch war von Bear. Es war nicht aus Liebe entstanden. Sein Herz schlug noch keine zwei Wochen, und es hatte schon Feinde. Clarette war mit einem Ehemann gestraft, der darauf stand, seine Teenager-Nichte zu schlagen und zu vögeln. Sie ertrug die Vorstellung nicht, dass LoLo ein Kind ins Haus brachte, nachdem sie und ihr Mann vier Kinder begraben hatten, die vor der Zeit aus ihrem Bauch gekommen waren. Sie wollte LoLos Baby tot sehen. Die Oberschwester im Krankenhaus »nur für Weiße« – die im Besitz des Schlüssels für den Raum mit medizinischem Gerät war und oft genug auf der Station für Frauenheilkunde assistiert hatte, um zu wissen, wie man unerwünschte Babys aus Bäuchen holte –, auch sie wollte LoLos Baby tot sehen. Tatsächlich hatte Schwester Betsy Mills allen, die es hören wollten – ob Kolleginnen, den Teilnehmern ihrer Bibelstunde jeden Mittwochabend oder den Gästen an ihrem Tisch zu Thanksgiving –, unmissverständlich klargemacht, dass in ihren Augen nur ein totes Nigger*baby ein gutes Nigger*baby war. Und so tat sie, was sie konnte, Wünsche in dieser Hinsicht zu erfüllen. Nämlich die Wünsche der Frauen, die sie für Abtreibungen im Keller aufsuchten. Genau wie die Wünsche derjenigen aus der weißen Community, die lieber die Innenseite jeder Nigger*frau, die sie auf den OP-Tisch bringen konnten, ausgeschabt sahen, als mit ihren hartverdienten Steuergeldern für Ernährung, Kleidung und sonstige Unterstützung der Folgen von pathologischem Verhalten des Negros* aufzukommen – Schwachsinn und reproduktives Ungeschick.

LoLo legte sich sogar selbst auf den Tisch von Schwester Mills und spreizte ihre Beine, weil sie keinen anderen Ausweg aus ihrem Schmerz sah. Weil sie an ein Baby gefesselt wäre, das großzuziehen sie nicht ertragen würde, und an den Vergewaltiger, der es ihr gemacht hatte. Clarette hatte sich berufen gefühlt, LoLo zu dieser Entscheidung zu bringen. Doch als gebrochener, verängstigter Teenager hätte sie auch selbst dorthin gefunden. Nicht zuletzt wegen der Albträume, die sie im Schlaf überwältigten. Alle von gleicher Art und allesamt schrecklich: Bear würde LoLo vom Feld rufen und in die Scheue stoßen, wo sie neben seiner wertvollen schwangeren Zuchtsau knien musste. »Hol es raus!«, verlangte er, während er seinen Gürtel löste und die Knöpfe seines Overalls öffnete. »Ich sagte, rausholen!« LoLo, die neben dem Schwein kniete, das aufgeschwollen und keuchend auf der Seite lag, musste dann mit ihren bloßen, blutigen Händen die winzigen Ferkel aus dem Bauch der Sau holen. Eins nach dem anderen, eins nach dem anderen, bis es sieben Stück waren – zwei Schwarze mit weißen Flecken, ein paar Dunkelbraune mit kleinen weißen Flecken, zwei so rosafarben wie ihre Mutter. Das letzte, ein Haarloses, hatte rötlich braune Haut, die genau der Farbe von LoLos zitternden Händen glich. Als sie sein Gesicht zu ihr drehte, um seine Schnauze zu betrachten, schrie es wie ein menschliches Baby.

»Fütter es!«, verlangte Bear.

LoLo würde Anstalten machen, das schreiende Ferkel der Sau anzulegen, doch da schrie Bear nur noch lauter: »Du fütterst es!« Dann sah LoLo an sich herab und merkte, dass Blut und irgendeine Flüssigkeit aus ihren Brüsten austraten. Dahinter zappelte und schrie dieses Ferkel in ihren Händen und suchte mit der Schnauze nach LoLos blutiger Ninny.

Was sich da in ihrem Bauch befand, war nicht natürlich. Nicht recht. LoLo wusste das so gut, wie sie den Grund dafür kannte, dass ihre Monatsblutung im Juli und dann im August ausgeblieben war. Clarette sollte schnell zu dem gleichen Schluss kommen. Das war keine zehn Minuten nachdem sie die Sechzehnjährige hinten in der vierten Reihe der Baumwollpflanzen entdeckt hatte, wo sie ihr Frühstück aus Maisbrot und Buttermilch erbrach, das sie zu sich genommen hatte, als die Sonne rosa-gelb über den Horizont gestiegen war.

»Was fehlt dir, Gal?«, hatte Clarette gerufen, während sie besorgt über den Boden zu ihr gestampft war und eine tiefe Spur hinterlassen hatte.

LoLo gab sich solche Mühe, ihren Magen daran zu hindern, dass er sich zusammenzog. Doch es fühlte sich an, als würde jemand einen nassen Waschlappen auswringen. Der scharfe Gestank des Düngers und dazu der Geruch nach Schweiß und Moschus, der von der Baumwolle ausging – all das machte es noch schlimmer. »Es … es … tut mir lei …«, setzte LoLo an, bevor sie erneut würgte und die Flüssigkeit mit irgendwelchen Bröckchen aus Mund und Nase schoss. Es spritzte weit genug, sodass ein paar Tropfen Clarettes Schuhe trafen. »Es hört einfach nicht auf«, brachte LoLo schließlich heraus.

Clarette stand da und starrte auf die scheußliche Szene, die sich vor ihr abspielte. Mit verzogenem Gesicht, zugehaltener Nase und kerzengerade aufgerichtet beobachtete sie, wie LoLo sich würgend über die Baumwollstängel beugte und immer wieder an ihren Bauch griff. Clarette zählte sofort eins uns eins zusammen.

»Wann hattest du deine letzte Blutung?«, fragte sie in gleichmütigem Ton. Doch ihre Augen wurden dabei zu schmalen Schlitzen.

»Ich … ich kann mich nicht mehr erinnern«, keuchte LoLo.

»Komm mit«, befahl Clarette, packte LoLo am Arm und führte sie zum Plumpsklo.

LoLo hielt sich den schmerzenden Bauch, während Clarette die klapprige Holztür aufriss und nach dem Korb griff, in dem die Stücke aus Sackleinen lagen, die sie beide benutzten, wenn sie ihre Blutung hatten. Clarette hatte bis zu diesem Moment überhaupt nicht darauf geachtet, aber die Einzige, die diese Lappen in den letzten Monaten benutzt hatte, war sie selbst gewesen. Das und LoLos Erbrechen auf dem Feld waren Beweise genug, die nur einen Schluss zuließen.

LoLo starrte sie an, während Clarette den Korb zögernd zurückstellte. Sie schaffte es nicht, der Frau ihres Onkels in die Augen zu sehen, denn sie wusste, was als Nächstes käme. Sie würde allein die ganze Schuld und Schande auf sich nehmen müssen. Denn Clarette würde niemals in der Lage sein, über ihren eigenen Schmerz hinauszublicken und den eigentlich Schuldigen zur Rede zu stellen. Sie würde der Sechzehnjährigen, der es selbst gerade mal gelungen war, ihr Martyrium zu überleben, keine Hilfe sein.

Doch Clarette tat etwas Unerwartetes: Sie wandte sich mit allersüßester Stimme an LoLo. »Ich weiß, du wolltest nicht, dass das passiert«, sagte sie, um dann gleich zur Sache zu kommen. »Ich kenne jemand, der dir helfen kann.« Und honigsüß: »Ich werde dich nicht allein lassen, wenn du es loswirst.«

Clarette war eine Expertin für süße Worte, weil das einfach ihrer Natur entsprach: lieb und gut sein. Sie war eine Frau der Sorte, die sich in den ersten Jungen verliebte, der für sie am Straßenrand Sonnenblumen pflückte, und hatte schon »Ja« gesagt, bevor der die Worte »heirate mich« auch nur zu Ende gestottert hatte. Und sie war eine Frau, die an diesem Mann und dieser Ehe festhielt, weil es auch war, was sie wollte und was von einer gottesfürchtigen Frau verlangt wurde. Gehorsam. Bear erklärte ihr, so stände es in der Bibel, und der Prediger sagte es doch auch, oder nicht? Und so hatte Clarette, als sie Bear das erste Mal auf LoLo sah, wie er sie vergewaltigte, gespürt, wie das Blut sich an all ihren Druckpunkten sammelte – Ohren, Nase, Augen, Füßen, Handgelenken, Knöcheln und Schläfen –, doch sie hatte keinen Ton gesagt. Sie beobachtete nur, wie LoLo die Augen zukniff und ihr Schreien unterdrückte, während Bear grunzte, drohte und befahl. »Halt deine verdammte Fresse und nimm deine Medizin, du dreckige Schlampe«, hatte er zwischen seinen Zahnlücken herausgepresst.

Stumm war Clarette aus der Tür zur Scheune zurückgewichen und draußen auf der Wiese auf die Knie gefallen. Sie betete schnell, während ihre Gedanken sich überschlugen. Es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis das junge Mädchen, groß und hübsch, hervorbrächte, wozu sie selbst nicht in der Lage war. Gott sprach, »Lass es geschehen«, so klar wie Glockenklang, klar wie ihr Gebet und der Himmel, unter dem sie es sprach, also tat sie das. Sie ließ von allem ab. Von ihrem Zorn, ihrem Ekel. Mit Liebe. Und liebevoll vergab sie ihrem Mann und dem kleinen Luder, das er in ihr gemeinsames Heim gebracht hatte. Liebevoll lieferte sie LoLo bei Schwester Mills ab, die das Böse aus dem Bauch des Mädchens holen würde und auch alles weitere Böse, das da noch kommen könnte. An jenem Sonntag, als eine Kirche explodierte und Flammen diese vier Kinder töteten, in ihren süßen, knielangen Kleidchen und Mary Janes, mit ihren Zöpfen, da kratzte Schwester Mills all das Böse direkt aus LoLos Körper und machte sie neu. Das machte das Leben für alle leichter, redete Clarette sich ein – für LoLo, für Bear und für Clarette Loretta Franklin, die den Herrn und ihren Ehemann liebte und die nicht zulassen würde, dass irgendwer auseinanderriss, was Gott zusammengefügt hatte.

LoLo wusste, dass sie an diesem Tag Bears Baby loswürde.

Diese Entscheidung hatte sie bereitwillig getroffen. Wovon sie nichts ahnte, als sie die Augen schloss und rückwärts von hundert runterzählte, war das stillschweigende Übereinkommen zwischen ihrer Verwandten und der Schwester, sobald LoLo ungefähr bei dreiundneunzig war und in die stille Dunkelheit glitt. Ein Übereinkommen, das für immer all jene anderen Entscheidungen verändern würde, die LoLo für den Rest ihres Lebens zu treffen hatte.

»Machen Sie es«, hatte Clarette höhnisch zu Schwester Mills gesagt, als sie sah, wie die Geliebte ihres Mannes in den medikamentös bewirkten Tiefschlaf fiel, »und so, dass sie nie mehr gegen Gott sündigen kann.«

Bear sah die Dinge anders. Die Wahrheit kam ans Licht, als er später am selben Abend in LoLos Zimmer tappte. Auf der Suche nach seinem Vergnügen stolperte er jedoch in einen von Schmerz geschwängerten Raum. LoLo lag im Bett, mitleiderregend, aber sie gab sich alle Mühe, ihr Stöhnen zu unterdrücken. Und da war Clarette, die pflichtbewusst die Verbände auf den drei Schnitten in LoLos Leiste wechselte. Einmal verheilt würden davon dicke schwarze Narben zurückbleiben. – Ein Denkmal für den Tag, an dem ihr all ihre Babys genommen wurden, und später ein intimes Wappen für all die Lügen, die sie den Männern erzählte, mit denen sie schlief. Deren Augen würden erst prüfend schmal und manche würden die Hand ausstrecken, um sie zu berühren, doch LoLo würde einen Weg finden, sie davon abzuhalten, bevor sie ihnen eine ihrer Unwahrheiten auftischte: »Als ich klein war, bin ich von einem Pferd gefallen und in eine alte Rolle Stacheldraht gestürzt« oder »eine Schlampe behauptete fälschlicherweise, ich hätte ihrem Mann schöne Augen gemacht, und ist mit dem Messer auf mich losgegangen. Aber du solltest mal ihre Narben sehen« oder »Fürchterlicher Unfall mit Giftefeu – ich hab mich unglaublich gekratzt, und die Narben sind nicht mehr weggegangen«. Und dann gab es da noch die eine Version, die sie am Ende Tommy erzählte: »Ich bin an einer Stelle in einem Flüsschen schwimmen gegangen, wo es scharfkantige Steine gab – ganz dicht unter der Oberfläche. Über die bin ich drüber geschwommen und hab mich übel aufgeschnitten. Da wäre ich beinah gestorben.« Alle glaubten ihr. Glaubten ihr alles. Vor allem wenn sie ihre Lügen noch mit der Beteuerung unterstrich, dass unter all dem knubbelig schwarzen Narbengewebe, an der Stelle, wo sie ihren Samen pflanzten, immer noch Blumen blühen konnten.

Doch für Bear waren die Wunden – LoLos und Clarettes – noch frisch, also gab es nur die Wahrheit. Bear stolperte über seine fetten Füße, während er zu begreifen versuchte, was seine Augen sahen. Rasch wich er zur Tür zurück. »Was zum Teufel ist hier los? Wie kann sie sich da geschnitten haben? Wie ist das passiert?«, platzten die Fragen aus ihm heraus.

LoLo, beschämt und eingeschüchtert, zuckte unter Clarettes Berührung und dem Geräusch von Bears Stimme zusammen. Clarette schüttete mehr Jod auf den Lappen und betupfte damit LoLos zitternden Bauch.

»Ich hab gefragt, was hier los ist? Hörst du nicht, Frau?«, sagte Bear, diesmal lauter, aber immer noch ohne sich zu rühren. Er wirkte wie angewurzelt.

Clarette drehte sich langsam zu ihrem Mann um und ließ der Wahrheit ihren Lauf. »Ich bringe deine Schweinerei in Ordnung, Joe Nathan«, flüsterte sie und starrte zuerst auf seine Füße und dann direkt in seine Augen.

»Wa-was meinst du mit ›meiner Schweinerei‹?«, fragte er pampig, aber nicht mehr so selbstbewusst wie vorhin zurück.

Clarette ließ sich Zeit, damit ihr Mann sie klar und deutlich hören konnte. »Hebräer 13, Vers 4«, sagte sie langsam, während sie die Augen zu schmalen Schlitzen zusammenkniff. »Die Ehe soll ehrlich gehalten werden bei allen und das Ehebett unbefleckt; die Hurer aber und die Ehebrecher wird Gott richten.«

»Frau, was redest du da?«, fragte Bear Clarette, die den Blick jetzt zögernd auf LoLo richtete. LoLo schlug die Augen nieder und rang nach Luft. Doch es half nichts. Panik erfasste ihren ganzen Körper, stieg vom Magen in ihre Kehle hinauf. Verzweifelt kämpfte sie gegen den Brechreiz an, wobei das Keuchen sie an den Stellen schmerzte, wo nur Stunden vorher das Skalpell von Schwester Mills gewesen war. LoLo schrie vor Schmerzen.

Clarette blieb von all dem ungerührt und setzte ihren Vortrag fort. »Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen, und sie werden sein ein Fleisch. Genesis 2:24«, flüsterte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Sprüche 5, 18 und 19: ›Dein Born sei gesegnet, und freue dich des Weibes deiner Jugend. Ergötze dich allewege in ihrer Liebe.‹«

»Okay, Predigerin, sind wir hier in der Sonntagsschule? Was hat das alles damit zu tun, was hier oben los ist?«

»Es hat alles damit zu tun, was hier los ist!«, schrie Clarette. »Du hast diesem Mädchen gegeben, was für uns bestimmt war – was Gott für einen Mann und sein Weib vorgesehen hat.« Sie bohrte ihren Zeigefinger in LoLos Bauch. Die zuckte vor der plötzlichen Bewegung zusammen und schrie auf, als ihr Bauch mit einem stechenden Schmerz reagierte, den sie bis in die Zehenspitzen fühlte.

»Ich versteh nicht …«

»Du verstehst ganz genau, wovon ich rede, Joe Nathan«, schrie Clarette mit einer Stimme wie eine Sirene. Sie war außer seiner Mama und weißen Leuten die Einzige, die Bear je mit seinem richtigen Vornamen ansprach. Dann fügte sie mit gekräuselten Lippen noch hinzu: »Mach dir keine Sorgen. Ich hab mich darum gekümmert.«

Bear machte große Augen: »Was meinst du damit? Um was hast du dich gekümmert?«

»Wird keine kleinen Bastarde in diesem Haus geben, Joe Nathan«, schrie Clarette und stieß jede Silbe so deutlich aus, als müsse sie ein kompliziertes Wort buchstabieren. »Joe Nathan« zog sie dagegen melodisch in die Länge wie bei einem Lied. »Baby weg, und es wird auch keins mehr kommen.«

»Was …«, setzte Bear an, verstummte aber. Er verzog das Gesicht, als sein Blick von LoLos Wunden zu ihrem Gesicht wanderte.

»Ich hab’s geregelt«, sagte Clarette und tupfte noch mehr Jod auf LoLos Bauch.

LoLo schüttelte den Kopf, erst langsam, dann immer schneller. Begleitet von einem Crescendo aus Neins und Anrufungen des Herrn. »OgottoGottoGottoGott nein nein nein nein!«, brüllte sie.

»Bist du wohl still!«, herrschte Clarette sie an. »Lieg hier bloß nicht, nach allem, was du getan hast, und führ den Namen des Herrn unnütz im Mund. Er hat mit deiner Sünde nichts zu schaffen. Und jetzt wird keiner von euch in der Lage sein, diese Sünde noch einmal zu begehen. Mein Gott ist ein verzeihender Gott, aber er übt auch seine Vergeltung.«

»Clarette, wie konntest du dem Mädchen das antun? Was hat dir das Recht dazu gegeben?«, brüllte Bear.

»Was hat dir denn das Recht gegeben …«, brüllte Clarette zurück.

Und so ging es weiter, das Geschrei der beiden über LoLo und ihre Wunden. Vorwürfe prasselten wie Schrot, das Leugnen und die Wut waren so brennend wie kochend heißer Tee auf Lippen und Zunge. Beide waren sich der Verheerung, die sie einem sechzehnjährigen Mädchen zugefügt hatten, höchst bewusst und doch zugleich blind dafür. LoLo lag währenddessen gedemütigt, beschämt, zerstört da, mit Löchern in ihrer Erde, wo Samen gesät aber niemals Blumen erblühen würden. Ihre Trauer würde ein Meer quer durch ihre Kontinente sein, Wellen des Kummers an ihren Küsten bis zu dem Tag, wenn sie ihren letzten Atemzug tat.

Und nun stand Cindy vor ihr. Im Bauch eine reifende Frucht und mit dem Vorsatz, ihren Körper dem gleichen Schicksal auszuliefern. »Cindy, tu das nicht. Wenn farbige* Frauen auf diese Tische kommen, landet ihr ganzes Inneres am Boden.«

»Was weißt du denn darüber, LoLo? Mmh?«, fragte Cindy und wischte sich verärgert eine Träne von der Wange. »Was weißt du davon, wenn die Verzweiflung so groß ist, dass man diese Chance nutzt?«

Ein Stück hinter ihnen, in LoLos und Tommys winzigem Haus mit den zwei Schlafzimmern, hinter dem Fenster zum Garten, das immer oben stecken blieb, wenn die Feuchtigkeit der heißesten Sommertage das Holz aufquellen ließ, begann Rae sich zu rühren. Sie war noch so winzig – mit einem Gesicht wie eine Putte, aber spindeldürren Armen und Beinen –, doch ihr Weinen, vor allem wenn es der Prolog zu ihrem gewaltigen Geschrei war, fiel bereits ins Gewicht. LoLo sah über Cindys Schulter zum Fenster und dann wieder in die Augen ihrer Freundin. Die Trauer und die Dunkelheit darin waren so tief wie ein Ozean.

»Aber du hast uns erzählt, dass Tommy derjenige wäre, der keine Babys machen kann.«

»Was glaubst du, hätte er getan, wenn er erfahren hätte, dass es die ganze Zeit über an mir lag? Was glaubst du, hätte er gemacht, wenn er gewusst hätte, dass sie mir die Gebärmutter rausgenommen haben?«

»Der Mann liebt dein dreckiges Badewasser. Der würde nirgends hingehen.«

»Das weißt du nicht, Cindy«, gab LoLo rasch zurück. »Männer – vor allem unsere Männer – messen ihre Schwänze danach, wie viele Babys sie damit machen können. Sie wollen wissen, dass sie ein paar Samen auf dieser Erde gepflanzt haben, bevor sie das Zeitliche segnen. Tommy ist da nicht anders. Er ist ein guter Mann. Aber er ist auch nicht anders. Er hat danach gesucht, diese Blumen zu pflanzen.«

»Du lässt ihn ja klingen wie einen dieser Black Power Niggas*«, sagte Cindy und unterstrich ihre Worte mit einem Schnaufen. »Als wollte er Babys machen, um die Race zu erhalten oder solchen Scheiß.«

»Tommy läuft nicht mit gereckter Faust durch die Gegend, das weißt du. Mein Mann ist ein ruhiger Typ. Aber er hat trotzdem seinen Stolz.«

»Wie hast du ihn dann davon überzeugen können, dass mit seiner Männlichkeit was nicht stimmt? Wie kann es sein, dass er nicht rausgekriegt hat, dass es an dir lag?«

LoLo schwieg. Dafür wurde Rae immer unruhiger und schien sich für ein Geschrei bereit zu machen, dass der Gartenzeit sicher ein Ende machen würde.

»Die meisten Männer wollen nichts von Monatsblutungen hören«, meinte LoLo zögernd und den Blick auf das offene Fenster gerichtet. »Und schon gar nicht wollen sie sie sehen.«

»Dann hast du immer noch deine Periode, nachdem … nach, äh …«

LoLo schlug die Augen nieder. Ihr Herz raste. Es gab nicht viel, was sie ihren besten Freundinnen verheimlicht hatte, aber das – die geheime Scham lastete schwer auf ihr. Wie ein Anker zog sie sie in die Tiefe. Vorbei an den Wellen und dem Getier, das dort lebte, unter die Strömungen, fort vom ringförmigen Licht, hinab in die tiefsten Höhlen, wo keine Luft war. Nur Schwärze und Furcht und kein Ende. Da unten konnte LoLo nicht atmen.

»Schon gut, du musst darüber nicht sprechen, wenn es zu schwer für dich ist …«, sagte Cindy.

Rae quengelte noch lauter.

»Er denkt, dass ich meine Blutung noch bekomme«, sagte LoLo. »Ich habe ihm erklärt, dass es an mir nicht liegen kann, weil eine Frau, die ihre Blutung hat, noch Babys bekommen kann, und das hat er mir geglaubt. Ich habe eine Entscheidung getroffen, und jemand hat all die anderen Entscheidungen, die ich danach noch hätte treffen können, ausradiert«, fuhr LoLo fort. »Aber die Entscheidung zu lieben konnten sie mir nicht nehmen. Die hatte ich noch. Und eine andere Person besann sich eines Besseren, als auf so einen Tisch zu steigen. Und ihre Entscheidung, wie auch immer sie zustande kam, ermöglichte, dass Tommy und ich immer noch Mama und Daddy werden konnten.« LoLos Blick ging dorthin, von wo das Geheul ihrer Tochter kam. Sie suchte nach TJ, der kichernd und selbstvergessen hinter seinem Ball herlief. »Es ist schwer, das will ich nicht bestreiten«, fügte LoLo hinzu. »Aber das ist unsere Familie. Es ist mein Leben.«

Cindy trat nah an LoLo heran und legte die Hände an ihr Gesicht. So standen sie da: Stirn an Stirn, Brust an Brust, mit einem Gewirr aus Armen und Tränen, in der Augustsonne schwankend. Im Verlauf ihrer Freundschaft, die noch vier Jahrzehnte andauern sollte, würden LoLo und Cindy nie mehr von LoLos Gebärmutter sprechen.

Schließlich lösten sie sich voneinander, strichen ihre Kleidung glatt und richteten sich gerade auf. LoLo war bereit, sich wieder ihrem Garten und ihren Kindern zu widmen, Cindy, sich um ihre bevorstehenden Angelegenheiten zu kümmern. Die Freundin beobachtete LoLo dabei, wie sie ein Unkraut zwischen den Stangenbohnen ausriss und kleine Steine, die zu nah bei den Wurzeln ihrer Pflanzen lagen, zum Zaun warf. Auch damit sie nicht in Tommys Mäher gerieten, wenn er das Gras schnitt.

»Ich werde das trotzdem tun«, sagte Cindy. »Ich liebe Roosevelt, aber ich habe nicht den Platz, in dem Haus mit ihm ein Kind großzuziehen. Nicht jetzt. Und ich kann das, was dir widerfahren ist, genauso wenig über meine Entscheidung bestimmen lassen, wie ich bereit bin, es Roosevelt zuzubilligen. Das ist etwas, was ich für mich tun muss.«

LoLo riss ein weiteres Unkraut aus, schleuderte noch einen Stein weg.

»Bete einfach für mich, LoLo«, sagte Cindy. »Kannst du das für deine alte Freundin tun?«

Endlich stieß Rae den Schrei aus, auf den sie schon die ganze Zeit hingearbeitet hatte. »Lass mich mal reingehen und nach diesem kleinen Mädchen sehen«, sagte LoLo und sammelte ihre Gartenwerkzeuge ein. »TJ, komm, Baby. Deine Schwester ist wach. Leg den Ball weg und lass uns mal nach ihr schauen.«

LoLo warf Cindy einen letzten Blick zu, dann machte sie sich auf den Weg ins Haus – zu ihren Kindern.