LoLo sagte zu Rae, sie solle den Mann nicht heiraten. Als das Mädchen sie von einem Münztelefon im hinteren Bereich eines Restaurants anrief, wo er ihr den Antrag gemacht hatte, da wusste sie schon, dass Rae ihn nicht wirklich wollte. Sie hörte es ihrer Stimme an – da war dieses leichte Zittern in ihrer Kehle, als würde sie sich ein heilsames Weinen verkneifen.
Es war die gleiche Stimmlage wie damals, als irgendein Junge, den sie auf dem College datete, übers Telefon mit ihr Schluss machte. LoLo schaute vor dem Schlafengehen noch ihre Serien und war nur eine halbe Stunde davon entfernt, Jesus auf Knien für SEINEN perfekten Frieden zu danken, als das Klingeln des Telefons sie aus ihrer Entspannung gerissen hatte. Auf einen Schlag war sie Zuschauerin irgendeines Dramas voller vergeudeter Gefühle geworden. Sie hatte Rae auf dem Boden hocken und sich ans Telefon klammern sehen. Ihre Pupillen waren vor Schreck geweitet, und ihre Augen schwammen in Tränen wie bei einer Comicfigur. Sie hatte eine Erklärung verlangt, wollte wissen, was sie falsch gemacht hätte. LoLo beobachtete sie – lauschte mit schmalen Augen und zusammengepressten Lippen. Endlich legte Rae den Hörer auf. LoLo verpasste ihr einen präzisen Schlag. »Ich weiß, dass du da nicht gerade auf meinem Teppich hockst und wegen irgendeinem Jungen heulst«, spottete sie.
»I-ich … ver … steh … nicht … was … ich … falsch … gem-m-macht hab«, brachte Rae zwischen Schluchzern heraus, während ihr Tränen über Wangen und Lippen liefen.
»Was du falsch gemacht hast?«, schnauzte LoLo und versuchte, sich aus den zahlreichen Kissen aufzusetzen. Ihre Handgelenke, die schmerzhaft geschwollen waren, weil sie wegen des Weihnachtsansturms eine Extra-Schicht eingelegt hatte, reagierten noch nicht auf den Entzündungshemmer, den sie sich zur vollen Stunde ohne Wasser eingeworfen hatte. Der Schmerz ließ LoLos Worte besonders schneidend klingen, aber sie wollte ohnehin sichergehen, dass sie auch gehört wurden. Verarbeitet. Gemerkt. »Lass mich dich bloß nicht noch mal Tränen über irgendeinen Kerl vergießen sehen, der nicht genug Verstand hat, um zu kapieren, dass er mit dir das große Los gezogen hätte. Bist du noch ganz bei Trost?«
»Aber … er …«
»Mir ist scheißegal, was er da eben ins Telefon gesagt oder was er gemacht hat. Dass du jetzt hier Rotz und Wasser heulst, ändert doch nicht das Geringste, oder?«
Rae wischte sich mit dem Kragen ihres Bademantels übers Gesicht und schien sich zu bemühen, ihre Tränen runterzuschlucken.
»Es ist sein Schaden. Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen. Bringt nichts, darüber zu weinen.«
LoLo hatte später bedauert, dass sie ihrer Tochter nicht mehr Ratschläge in puncto Beziehungen gegeben hatte. Weder das noch ihre Forderung, dass Rae ihr keine Babys ins Haus bringen sollte, bis sie nicht ihren Collegeabschluss und einen Ring am Finger hätte, bewahrte ihre Tochter vor der Entscheidung, die sie traf, als sie mit »Ja« antwortete, nachdem Roman Lister um ihre Hand angehalten hatte. LoLo hörte das Zögern in ihrer Stimme. Sie erkannte das Zittern, als Rae ihr die Neuigkeit mitteilte. »Ich weiß nicht, Mommy«, sagte sie. »Der Ring ist hübsch, es ist nur … ich habe nicht jetzt damit gerechnet. Ich weiß nicht …«
»Was weißt du nicht, Rae?«
Weil Rae schwieg, konnte LoLo die Geräusche des Restaurants im Hintergrund hören – lautes Frauenlachen, das Quietschen sich öffnender Türen, Geraschel.
»Du musst nicht Ja sagen«, hatte LoLo gesagt. »Und du musst nichts erklären. Nein ist ein vollständiger Satz.«
Noch mehr Geraschel.
Endlich hatte Rae wieder etwas zu ihrer Mutter gesagt: »Ich muss Schluss machen, Mommy. Er wartet.«
Jetzt saß ihre Tochter, kein Jahr nach der Hochzeit, mit dickem Bauch auf LoLos guter Couch. Kleine Hände und Füße stemmten sich von innen so stark gegen ihren Bauch, dass man sie durch ihr enges Schwangerschafts-Top aus dünnem Stoff sah. Kichernd riss Rae Geschenkpapier von Babyfonen, Stapeln von Neugeborenenwindeln und mehr Decken, als ein einziges Baby jemals benutzen konnte. Auf alle im Raum wirkte Rae glücklich. Mehr als bereit für den 11. Juni 1999, ihren voraussichtlichen Entbindungstermin. Aber LoLo kannte ihre Tochter. Sie kannte auch Roman, diesen Mann mit seinem Charme und schicken Referenzen. Auf dem Papier war er eindrucksvoll – hatte eines dieser noblen Colleges oben im Norden besucht, verdiente anständig. Er wirkte auch ganz nett. Aber er war vier Jahre älter als Rae. Geschieden. Und seine Hände waren weich. LoLo hatte es gespürt, als sich ihre Haut zum ersten Mal berührte. Schon damals wusste sie es. Sein Griff war beträchtlich weniger fest, was bei LoLo sofort die Frage aufwarf, aus was für einer Familie er wohl stammte – und was aus der geworden war, die er mit seiner ersten Frau hatte gründen wollen. Was hatte sein Vater noch versäumt, ihm über Männlichkeit beizubringen. Abgesehen von der Tatsache, dass ein lascher Händedruck und weiche Hände totsicher verrieten, dass ihr Besitzer ein Schwächling war. Jemand, der dazu neigte, einem anderen all die Arbeit zu überlassen.
Rae beschloss, diese Anzeichen zu ignorieren, aber für LoLo waren es deutliche, blinkende Neonsignale. Welcher Mann kündigt seinen Job keine drei Monate bevor seine Frau ihr erstes gemeinsames Kind zur Welt bringen soll? Welche Frau lässt ihn das tun? Wenn Tommy und LoLo Rae irgendetwas beigebracht hatten, und sei es nur durch ihr Vorbild, dann dass die solidesten Ehen auf einem sehr spezifischen Fundament ruhten. An erster Stelle darauf, dass ein Ehemann hart arbeitete, um sicherzustellen, dass er seine Familie ernähren konnte. Seine Babys. Bei der Vorstellung, dass ihr Enkelkind auf diese Welt käme, um von einem Daddy versorgt zu werden, der bereitwillig ein sicheres Einkommen aufgab, während seine Frau schwanger war, wurde es LoLo schlecht. Es wurde ihr richtig kotzübel.
Rae nippte an ihrem Eiswasser und strich sich über den Bauch, während LoLos Freundinnen entzückt von den Geschenken der Baby Shower schwärmten. Da kam LoLo mit einer prächtigen Torte aus der Küche, die Para Lee extra für den Anlass gebacken hatte. Mit jeder Menge pinkfarbener Pfingstrosen und Rosen, die anzeigten, was ein Ultraschall schon vor ein paar Monaten ergeben hatte: LoLos Enkelkind würde ein Mädchen sein. Ihr Herz hatte dreimal so schnell geschlagen wie sonst, als Rae sie wegen der Neuigkeit angerufen hatte. Als Rae dann am selben Abend noch mit einem Ultraschallbild und einer Tonaufnahme vom Besuch bei ihrer Gynäkologin vorbeigekommen war, da konnte LoLo kaum atmen, während sie den Mini-Kassettenrecorder an ihr Ohr hielt und dem Herzschlag ihres Enkelkinds lauschte. »Dieses Baby wird rundherum gelungen sein«, hatte LoLo gesagt, als sie das Bild in Händen hielt und sich leicht vor und zurück wiegte, als könne sie kaum an sich halten. LoLo glaubte das mit jeder Faser ihres Wesens – so wie sie an die Bibel und die Auferstehung glaubte.
»Cake Time!«, rief sie jetzt, als sie die pinkfarbene Süßigkeit auf den Esszimmertisch stellte. »Kommt alle her und holt euch was von dieser Torte, die Para Lee extra für mein Grandbaby gebacken hat.«
»Und für mich!«, sagte Rae und machte winkend auf sich aufmerksam.
»Aw, Girl, du kannst jetzt schon vergessen, dass dir irgendwer Aufmerksamkeit schenkt«, sagte Sarah lachend und schaute zu, wie LoLo die Torte anschnitt. »Wenn das Baby einmal hier ist, wird deine Mama vergessen, dass du je existiert hast.«
»Mhmm«, stimmte Para Lee ihr zu. »Mach dich auf massive Veränderungen gefasst.«
»Da kannst du dir sicher sein. Stell mir das Baby einfach vor die Tür«, meinte LoLo lachend. »Jetzt wirst du mal sehen, wie das ist, wenn du und dein Daddy hier rumtobt, als würde ich nicht existieren.«
»Seht ihr’s? Wie sie schon plant, mir eins auszuwischen?«, sagte Rae lachend und drückte sich von der Couch hoch. Dann rieb sie sich den Bauch und verzog ein wenig das Gesicht. »Wir können ja nichts dafür, wenn du Boxen nicht magst und nicht gern Händchen hältst und kuschelst!«
»Mhmmm«, machte LoLo und verzog die Lippen. »Warte nur.«
»Puuh«, sagte Rae. Sie griff an die Unterseite ihres Bauchs und massierte mit beiden Händen die Stelle, wo ihr Baby sich mit dem Hinterteil gegen die Bauchdecke seiner Mutter stemmte. »Dieses Baby trampelt gerade auf meiner Blase herum. Entschuldigt mich, ich muss mal eben.«
Die Frauen lachten alle, schnalzten mit den Zungen und sahen Rae nach, die den Flur Richtung Toilette hinunter eilte. LoLo schüttelte den Kopf und ließ das nächste Stück Torte auf einen Kuchenteller plumpsen. »Sie wird nicht wissen, wie ihr geschieht, sobald das Baby da ist«, seufzte sie. Ein Chor aus Zustimmung erhob sich, versetzt mit einer Spur Verärgerung. »Diese jungen Mütter sind nicht aus demselben Holz wie wir.«
»Stimmt’s?«, sagte Para Lee. »Wir hatten doch nur Ninny und eine Wäscheleine, um da die Windeln aufzuhängen. Und jetzt schaut euch all diese Sachen an.« Sie zeigte auf Raes Ausbeute von der Babyparty. »Teure Kinderwägen und genügend Wegwerfwindeln, um eine ganze Deponie damit zu füllen. Die haben keine Ahnung davon, wie es ist, ein Baby an deiner Titty hängen zu haben, während du dreckige Windeln wäschst und später drauf wartest, dass sie an der Leine trocknen.«
»Oder davon, Kinder großzuziehen, gleichzeitig einen Haushalt zu führen und arbeiten zu gehen, als wäre man so eine Art Superwoman-Roboter«, sagte Sarah.
»Und einen Mann, der dir bei nichts davon hilft«, meldete Cindy sich zwischen zwei Bissen Torte zu Wort.
»Tja, immerhin hat sie einen Mann, der den Teil richtig machen wird«, sagte Para Lee. »Einen, der sich im Haus nützlich macht und bei den Kindern hilft. So machen die das heutzutage. Die Männer heutzutage helfen tatsächlich.«
»Von was für einem Mann redet ihr da?«, fragte LoLo grinsend. »Etwa von dem liederlichen Kerl, der nicht mal einen Job hat? Ihr glaubt, der wird ihr mit dem Baby helfen? Hmm. Das möchte ich sehen.«
Wie durchchoreografiert drehten alle Frauen die Köpfe, um sicherzugehen, dass Rae noch nicht wieder aus dem Bad zurückkam. Das war kein Gespräch für Kinderohren. Nicht mal wenn diese Kinder schon groß genug waren, um eigene Babys zu bekommen.
So war das bei LoLo und ihren Freundinnen: Sie lebten ihr Leben im Geheimen, und das war auch nötig, wenn sie sich ihre Würde bewahren wollten.
Nachdem sie sich selbst davon überzeugt hatte, dass ihre Tochter noch im Bad war, beugte LoLo sich näher zum Kreis ihrer Freundinnen. »Ihr wisst doch alle, dass er seinen Job hingeschmissen hat«, flüsterte sie verschwörerisch. »Welcher faule Sack lebt denn von den Ersparnissen seiner Frau, lässt sie wieder arbeiten gehen und findet dann plötzlich in seinen faulen Knochen den Antrieb, ihr mit dem Baby zu helfen? Er ist immer noch ein Mann – und mir ist egal, was in diesen ganzen Talkshows dahergeredet wird, die ihr euch alle auf Video aufnehmt.«
»Denkst du, er wird ihr nicht mit dem Baby helfen?«, fragte Para Lee. LoLo sog Luft durch die Zähne ein. Sarah kratzte pinkfarbenen Zuckerguss von ihrem Stück Torte und schmierte ihn auf die Kuchenplatte aus Kristall, die LoLo nur zu ganz besonderen Anlässen benutzte.
»Sie wird es früh genug erfahren«, sagte Sarah.
»Sie steckt mit dem Kopf so tief in seinem eingebildeten Arsch, dass sie diese Lektion auf die harte Tour lernen wird«, sagte LoLo.
»Dann würde es ihr auch nicht anders ergehen als uns allen«, erwiderte Sarah sarkastisch.
»Wo sie recht hat, hat sie recht«, stimmte Para Lee zu.
»Ich kann euch nur eines sagen«, verkündete Sarah. »Es spielt keine Rolle, in welcher Zeit man lebt, welchen Abschluss er hat, wie viel Geld er in der Tasche hat oder wie viele Stunden er in seinen Job steckt: Männer bleiben immer Männer. Sie werden sich jedes Mal wie Männer benehmen. Die schauen zuerst auf sich selbst und erst danach vielleicht auf diejenigen, von denen sie behaupten, sie würden ihnen am Herzen liegen. Immer in dieser Reihenfolge. Die Frage ist«, fuhr sie fort, »wann wird sie seinen Mist leid sein und ein bisschen Freude für sich selbst finden.«
»Freude?«, echote Para Lee scharf. »Oh, die wird sie so schnell nicht erleben. Nicht, solange sie einen Haufen Kinder zwischen den Füßen hat, die dauernd irgendwas von ihr wollen.«
»So muss es nicht sein«, gab Sarah zu Bedenken. Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und ließ den Sorbet-Drink in seinem Becher kreisen. Das neongrüne Eis schmolz schäumend in der orangefarbenen Flüssigkeit. Sie nahm einen Schluck davon.
»Also, Sarah, fang jetzt nicht mit deinem Mist an«, warnte LoLo sie.
»Hört mal, ihr kennt doch meinen Standpunkt. Es gibt keinen Grund, sich von diesen Männern früh ins Grab bringen zu lassen. Frauen würde es nicht schaden, sich ein bisschen von dieser typischen Männerdenke anzueignen. Damit sie sich auch ein bisschen Glück verschaffen.«
»Deinen Ehemann zu betrügen verschafft dir Glück, Sarah?«
»Dem Irrsinn bei mir zu Hause, einem nörgelnden Kerl von einem Ehemann und all den krassen Enkelkindern zu entgehen, das macht mich glücklich, LoLo«, echauffierte sich Sarah. »Und Reverend Greenwood? Also der macht mich mehr als zufrieden.«
Der Aspekt interessierte LoLo nicht. Es war nicht das erste Mal, dass die Freundinnen über Sarahs Untreue sprachen. Die vergnügte sich jetzt schon seit Jahren mit dem Pastor der Friendship Baptist Church in Christ. Das hatte lange bevor ihre Kinder selbstständig waren angefangen. Lange bevor irgendeine ihrer Freundinnen sich darauf besann, dass sie alle vor ihren Kindern, vor ihren Ehemännern, bevor sie ihre Bedürfnisse und Wünsche eingepackt und tief unter Bibeln, Geboten und ohne ihre Zustimmung erlassenen Regeln begraben hatten, Frauen waren. Pastor Greenwood hatte den Ruf eines Genussmenschen, und obwohl ihre Affäre nun schon sieben Jahre dauerte, konnte Sarah sich nicht sicher sein, ob er seine Schwäche für Church Ladies und deren Sweet Sweet inzwischen im Griff hatte. Aber das kümmerte sie nicht. Sie nahm, was sie kriegen konnte, und über den Rest mochten andere sich aufregen. Sarah konnte das gut trennen.
LoLo konnte das nicht. Ihr zog sich der Magen jedes Mal zusammen, wenn Sarah und ihr Liebhaber zur Sprache kamen. Sie wollte nicht in dieses Geheimnis eingeweiht sein – in den Ehebruch. Sie wollte einfach nichts damit zu tun haben. Immer wieder hatte sie Sarah gesagt, sie solle sie mit solchen Gesprächen verschonen, aber hin und wieder wurde das Thema angeschnitten. Immer im Zusammenhang damit, was jede von ihnen tun sollte, um sich ein Stück vom Glück zu sichern. Sarah glaubte, es wäre etwas, nachdem man auf die Suche ging und das man sich besorgte, wie ein Kleid aus einem Katalog oder ein Paar Schuhe im Ausverkauf bei Macy’s. LoLo war da grundlegend anderer Ansicht. Glück, Enttäuschung, Wut, Zufriedenheit, das köchelte in einem großen Eintopf auf dem Herd. Man rührte um und nahm einen Bissen. Immer in dem Wissen, dass in jedem Löffel voll etwas anderes steckte. Vielleicht etwas, das man nicht so gern mochte wie anderes, aber der Eintopf war trotzdem gut. Wenn er Liebe enthielt, dann war er gut.
Aber von dem, was in Sarahs Schüssel herumschwappte, wollte LoLo nichts.
»Nicht jeder denkt, dass der einzige Weg zum Glück darin besteht, den eigenen Ehemann zu hintergehen«, flüsterte LoLo und spähte um die Ecke, um sicher zu sein, dass Rae nicht schon auf dem Weg zurück ins Esszimmer war. »Wünsch das meiner Tochter nicht an den Hals, Sarah.«
»Ich wünsche ihr ein kleines bisschen Glück«, sagte Sarah. »So wie es klingt, wird sie es brauchen können.«
»Nein, weißt du, was sie brauchen wird, ist Respekt davor, was sie diesem Mann vor Gott und dir und mir und allen, die sie liebt, versprochen hat. Bis das der Tod uns scheidet. Manchen von uns bedeutet das etwas«, sagte LoLo.
»Irgendwann muss man sich selbst auch etwas bedeuten«, höhnte Sarah.
»Also, weißt du, ich werde mir doch nicht in meinem eigenen Haus …«
»Okay, schon gut«, unterbrach Para Lee und stach damit in den Ballon, der sich so rasch mit heißer Luft gefüllt hatte. »Wie wäre es denn, wenn du und Cynthia den Tisch abräumen würdet, Sarah, während LoLo und ich mal all diese Geschenke zusammenpacken. Raes Mann wird wahrscheinlich bald hier sein, um sie abzuholen. Sie braucht ihre Ruhe.« Und speziell an Sarah gerichtet: »LoLo, unsere liebenswürdige Gastgeberin braucht nach der hitzigen Debatte wahrscheinlich auch ihre Ruhe, was?«
»Na gut«, sagte Sarah schlicht. Ohne ein weiteres Wort stand sie vom Tisch auf und begab sich in die Küche.
Para Lee schüttelte den Kopf, holte tief Luft und hakte sich bei LoLo unter, bevor sie zu dem Haufen Geschenke gingen und überlegten, was alles wie einzupacken war. »Lass es einfach auf sich beruhen«, sagte sie zu LoLo. »Du weißt doch, wie sie ist. Lass es einfach.«
***
LoLo war so dankbar für die Ruhe gewesen. Sie hatte gern Gäste, aber wohler – glücklich – fühlte sie sich in der Ruhe ihres Zuhauses. In ihrer Abgeschiedenheit. Auf ihre alten Tage hatten sie und Tommy sich darauf verständigt, dass sie nicht dauernd aufeinander hocken mussten, um sich zu beweisen, dass sie nach all den Jahren weiter zusammenbleiben wollten. Den größten Liebesbeweis, den er ihr erbringen konnte, war tatsächlich, dass er sich ins Untergeschoss zurückzog und sich seine Sportübertragungen und Western auf dem großen Fernseher aus seinem bequemen, gut eingesessenen Sessel ansah. Dann konnte sie in Ruhe ihre Romane von Terry McMillan lesen und ihre Serien schauen. Sie war ein Fan von 20/20 und Law & Order: SVU. Die sah sie gerne am Samstagabend auf dem Videorecorder, ohne Werbeunterbrechungen. Und wenn nicht das verdammte Telefongeklingel ihre Ruhe gestört hätte, dann wäre sie inzwischen vielleicht schon eingeschlafen.
Doch es sollte nicht sein. Das Telefon hatte an diesem Abend schon dreimal geklingelt. Jedes Mal war nach LoLos freundlichem »Hallo?« nur Schweigen gewesen, dann ein Klick und das Freizeichen. Schon klingelte es wieder. Wäre Tommy nicht gerade aufgebrochen, um seinen Bruder zu besuchen, hätte sie ihm gehörig die Meinung zu diesen Telefonstreichen gesagt. Sie hätte ihm wieder mal erklärt, dass er einfach rauskriegen musste, wer ihn in seinem Job dermaßen hasste, dass er sich vorgenommen hatte, Tommys Familie zu quälen. Schon vor Jahren hatte er LoLo, TJ und Rae gesagt, sie sollten die Anrufe ignorieren. »Da ist nur jemand dran, der sich über meine leitende Position ärgert«, hatte er ihnen versichert, wenn sie sich bei ihm beklagten. »Legt einfach auf.« Normalerweise nahm LoLo es einfach hin. Aber an Abenden wie diesem, wenn sie sich verzweifelt nach Ruhe und Frieden sehnte, da fiel ihr ein, dass sie ja nicht verpflichtet war, freundlich mit dieser Sache umzugehen.
»Hör mir mal zu, wenn du nicht aufhörst, diese Nummer anzurufen, dann schwör ich, dass ich dir die Cops wegen Nötigung auf den Hals hetze!«, brüllte LoLo in den Hörer.
»He, he, he – Moment mal. Nötigung?«, fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Du würdest deinem eigenen Bruder die Polizei auf den Hals schicken, weil er deine Nummer gewählt hat?«
LoLo machte den Mund mehrmals auf und zu, brachte aber keinen Ton raus.
»Hallo? Delores? Bist du noch da?«, fragte die tiefe Stimme. »Hier ist Freddy. Dein Bruder.«
»He-hey, Freddy«, sagte LoLo zaghaft. »Ich bin’s, LoLo.«
Das Schweigen zwischen ihnen war dicht und von den Missverständnissen, der Wut, dem Verlust, der Trauer und Vernachlässigung vieler, vieler Jahre verkrustet. Jeder Streit endete damit, dass sie sich an die Gurgel gingen wie wilde Tiere angesichts frischer Beute. Und nach all den Jahren blutete die Wunde immer noch, als würde darunter das Herz der erbeuteten Gazelle weiterschlagen.
Freddy saß an seinem Küchentisch, den er erst vor Sekunden stumm verflucht hatte, weil er unter seinen rauen, schwieligen Händen wackelte. Eigentlich hatte er ein Papiertuch zusammenfalten und in das Loch kleben wollen, wo sich ein Bein gelockert hatte. Das Holzmöbel mit Platz für vier hatte jemand bei Goodwill just an dem Tag gespendet, als er sich dort nach irgendeinem Ersatz für die Milchträger umgesehen hatte, auf denen er sich bisher sein Abendessen serviert hatte. Doch nachdem er in seinem Job an der Archie Street Elementary School Klimaanlagen und Schultische repariert, Kotze, Pisse und alle anderen Arten von Körperflüssigkeiten aufgewischt hatte und den ganzen Tag lang rumkommandiert worden war, wollte er, wenn er nach Hause kam, keine einzige verdammte Sache mehr reparieren. Eigentlich wollte er nur noch sein Bier – und ein bisschen Ruhe, während er sich seine Serien ansah. Er hatte eine Vorliebe für Wiederholungen von Martin, vor allem für die kleine Freundin der Hauptfigur mit dem runden Schädel und mit der hellen Haut. Sie war hübsch. Richtig hübsch. Und sensibel. Freddy mochte, wie Martin redete – all die verrückten Redewendungen halfen ihm, das Geschrei der Kinder auf den Schulfluren auszuhalten, wenn er sich die Mühe machte hinzuhören. Meistens jedoch reagierte er auf die Unterhaltungen der Schüler mit derselben Energie, die sie ausstrahlten, wenn sie sich auf gemeinsamem Terrain begegneten: Er war der Hausmeister und deshalb unsichtbar; sie waren ein Haufen frecher Kinder, die er ignorierte, wie das jeder respektable Erwachsene tun sollte. Und zwar selbst wenn sie, aus voller Kehle »Wazzup!« schreiend, durch die Gänge rannten.
Highlander war für Freddy das Größte. Er besaß eine ganze Schublade voller Videocassetten der Serie, die er sich wie ein Gebet ansah. Die Vorstellung von Unsterblichkeit faszinierte ihn – all die Arten, auf die man sich unter Normalsterblichen durch die Welt bewegen konnte, mit selbstbewussten Entscheidungen und in der Gewissheit, dass weder Fehler noch Waghalsigkeit noch falsche Entscheidungen oder einfach Pech einem zum Verhängnis werden konnten. Das wäre ein Leben. Und das hatte er sich nicht mehr wirklich gegönnt, seit er ein paar Jahre zuvor bei Grumman rausgeflogen war. Er vermisste die Gehaltsschecks. Mit denen konnte er sich kaufen, was er wollte, wohnen, wo er wollte, anziehen, was er wollte. Gott, sogar flachlegen, wen er wollte. Damals war er ein Schwarzer Mann, der an Flugzeugmotoren arbeitete, für das Gehalt eines Mechanikers. Dieses Geld sorgte dafür, dass der kleine, staubige, mutterlose Junge aus dem tiefsten South Carolina, der unter der Last seiner armseligen Welt eigentlich hätte sterben sollen, sich allmächtig fühlte. So, als würde er ewig leben. Doch ein Schuss Bourbon in seinen Kaffee – ein kleiner Schuss, den sein Vorgesetzter aber an seinem Atem riechen konnte – und schon wurde er einen Kopf kürzer gemacht. Der Kollege, der ihn verpfiff, hatte unter Freddy gearbeitet und war einfach nicht drüber weggekommen, dass er tagtäglich irgendeinem Nigger* Rede und Antwort stehen musste. Am Ende hatte der ein Ausrufezeichen hinter die eine wahre Sache gesetzt: Freddy war doch nur ein sterblicher Schwarzer Mann!
An diesem Abend hatte die Sterblichkeit ihn zu fassen gekriegt. Freddy war mit dem Stuhl nach hinten gekippelt, während er mit dem Daumen über die Nummer seiner Schwester fuhr. Früher hatte er sie auswendig gewusst, aber inzwischen waren gut zehn Jahre vergangen, seit er sie das letzte Mal angerufen hatte. Doch nach ihrem großen Streit wegen Rae war nichts mehr gewesen wie vorher. Er versuchte, es seiner Schwester recht zu machen. Doch LoLo nahm es ihm nicht ab. Aber diesmal, als ihr Vater gestorben war, musste er der Vernünftigere sein, beschloss Freddy.
»LoLo«, sagte er schließlich, »Daddy ist tot.«
»Oh«, erwiderte LoLo nur. Emotionslos. »Was ist passiert?«
»Er, ähm, hatte einen Herzinfarkt«, sagte Freddie. »Er starb zu Hause im Wohnzimmer. Brenda hat ihn gefunden.«
»Dann starb er allein, was?«
»Yeah. Brenda und die anderen kümmern sich jetzt um die Beerdigung.«
»Das ist gut«, sagte LoLo.
Stille.
»Du fährst also hin, oder?«
»Wohin?«
»Zur Beerdigung unseres Vaters.«
Schweigen.
»Das wäre nur recht und billig, LoLo. Du musst ihm deinen Respekt erweisen.«
»Ich muss verdammt noch mal gar nichts, außer Schwarz bleiben und sterben«, fauchte LoLo. Sie würde sich kein schlechtes Gewissen machen lassen, damit sie die Beerdigung des Mannes besuchte, der sie zum Sterben zurückgelassen und dann in den Fängen ihres Missbrauchstäters hatte verrotten lassen.
»Sieh mal«, sagte Freddy sanft. »Ich versteh dich. Das weißt du. Das tun wir alle. Aber er war trotzdem der Mann, der uns gezeugt hat. Wir sind blutsverwandt.«
Stille.
»Hör mal, du wärst doch die Erste, die mit einer Bibel nach jemand werfen würde, der sich weigerte, Gottes Gebot zu befolgen und zu verzeihen«, sagte Freddy ernst. »Ich glaube, in Momenten wie diesen erwartet ER von uns, dass wir das praktizieren.«
»Du berufst dich jetzt auf die Bibel?«, fragte LoLo.
»Ich versteh nicht viel von der Bibel, da gebe ich dir recht. Aber ich weiß, ich würde mich nicht gut dabei fühlen, hier in Long Island zu sitzen, während unser Vater in South Carolina beerdigt wird. Und dir würde es genauso gehen.«
Schweigen.
»Wir können zusammen hinfliegen. Wir beide.«
»Lass mich ein bisschen darüber nachdenken, okay, Freddy?«, meinte LoLo am Ende. »Ich werde nicht lange brauchen. Versprochen.«
»Na gut.«
LoLo saß geschockt mit dem Telefonhörer in der Hand da. Noch lange nachdem das Freizeichen begonnen hatte zu ertönen. Sie legte den Hörer erst wieder auf die Gabel, als der aggressive Warnton, der signalisierte, dass man auflegen sollte, gegen ihr Trommelfell dröhnte. Sie hatte jahrelang nicht mit ihrem Vater gesprochen. Und damals, als es sie bekümmerte, als er über Freddy Kontakt zu ihr gesucht hatte und Freddy LoLo an den Inhalt des fünften Gebots erinnert hatte, da hatte sie widerstrebend den Anruf ihres Vaters entgegengenommen, Das Gespräch war oberflächlich und knapp gewesen: Hey, geht’s dir gut?… Deine Frau gesund?… Die Kinder müssen schon groß sein … Mir geht’s so mittelmäßig, aber meine Arthritis macht mir zu schaffen … Schweigen … Also dann, war schön, von dir zu hören … Mach’s gut … Mehr war da nicht gewesen, bevor sie beide aufgaben. Es war offen gestanden alles, wozu LoLo imstande war. Er machte keine Anstalten, sich zu entschuldigen. Schien das nicht mal in Erwägung zu ziehen. Sie spürte das tief in ihrem Inneren. Dort, wo ihre Wut am heißesten brannte. Sie trug Glut in ihrem Schoß. Allein das Geräusch seiner Stimme wirkte wie ein Schürhaken. Als würde er damit herumstochern, die schweren Holzscheite und altes Zeitungspapier, das in die Ritzen gestopft war, bewegen und eine brüllende Flamme provozieren. Hätte er damit weitergemacht, wäre sie sicherlich zu Asche verbrannt.
Damals wünschte sie ihm den Tod. Sie empfand auch jetzt kein Bedauern, nachdem er tatsächlich gestorben war.
Keine zwei Minuten nachdem LoLo aufgelegt hatte, klingelte das Telefon wieder. Diesmal meldete sie sich höflich, denn sie dachte, es wäre noch mal Freddy.
»Hi, ich würde gern mit meinem Vater sprechen«, sagte die Stimme am anderen Ende. Sie klang jung.
»Mit wem?«
»Meinem Vater, Thomas Lawrence.«
»Rae? Bist du das?«, rätselte LoLo.
»Hier ist nicht Rae, aber ich bin Thomas Lawrences Tochter und würde gerne mit ihm sprechen.«
LoLo nahm den Hörer von ihrem Ohr und starrte ihn an, als könne sie dann sehen, wer zum Teufel ihr da einen Streich spielte.
»Hallo?«, sagte die Stimme mit einer Spur Gereiztheit.
»Ich bin noch dran, aber ich verstehe nicht, was los ist. Wer sind Sie wirklich?«
»Das habe ich Ihnen gerade schon gesagt. Ich bin Thomas Lawrences Tochter. Er ist mein Vater. Mein Bruder ist sein Sohn. Er kam uns heute besuchen, aber wir waren nicht darauf vorbereitet, dass er gleich wieder gegangen ist.«
Schweigen.
»Hallo?«, sagte das Mädchen. Diesmal definitiv gereizt. LoLo konnte es an ihrer Stimme hören. Und das gab ihr den Rest. Sie sah nur noch Schwarz.
»Und da dachten Sie sich, heute wäre der richtige Tag, um bei ihm zu Hause anzurufen und mit ihm zu reden?«, fragte LoLo.
»Er ist mein Vater, und ich rufe dauernd bei ihm zu Hause an, um mit ihm zu reden …«
»Jetzt sag ich dir eines«, unterbrach LoLo sie. Ihre Zunge, die innerhalb von fünf Minuten an einem eigentlich friedlichen Samstagabend Tod, Trauer, Wut und Verrat geschmeckt hatte, war scharf wie eine Axt. Wie ein frisch geschliffenes Beil. »Mir ist egal, ob Tommy dein Vater ist oder nicht. Aber du wirst nie sein, was Rae Lawrence, seine Tochter, für ihn ist. Er hat eine Familie. Dessen bin ich mir ganz sicher, und er ist es auch. Es wäre das Beste, du würdest das in deinen dicken … kleinen … Schädel kriegen. Wer auch immer du sein magst. Und jetzt«, fuhr LoLo in auf einmal freundlichem Ton fort, »entschuldigst du mich bitte. Ich hatte einen höllischen Tag. Ruf nicht mehr unter meiner Nummer und in meinem Haus an. Was immer du zu sagen hast, sparst du dir am besten für Tommy auf.«