Es hatte einen kleinen Fernseher auf dem dicken runden Holztisch in der Küche gegeben. Da liefen Zeichentrickfilme zum Frühstück, Spielfilme an den Sommernachmittagen und hauptsächlich Nachrichten und Game Shows zur Abendessenszeit. Das war die Gesellschaft, in der Rae und TJ aufwuchsen: Transformers, General Hospital und Live at Five. Es gab keine Mahlzeiten als Familie, nicht mal sonntags. LoLo kam von der Arbeit, kochte das Abendessen, füllte die Teller, natürlich, aber es entging Rae nicht, dass LoLo, nachdem sie am heißen Herd gestanden und aus Frankfurter Würstchen und Bohnen oder einem kleinen Stückchen Speck mit einem Lachsküchlein oder zwei und Maisgrütze mit Butter etwas gezaubert hatte, sich eine Diät Pepsi mit ganz viel Eis eingoss, ein Stückchen Papier von der Küchenrolle abriss und sich dann mit ihrem Teller wieder in ihr Zimmer zurückzog. Dorthin, wo sie mit ihren Fernsehserien und ihren Gedanken ungestört allein sein konnte. Es gab keine Hilfe bei den Hausaufgaben. Sie löste keine Gleichung mit einer Unbekannten oder fragte die chemischen Elemente ab. Sie las sich kein Referat für Geschichte durch über irgendeinen verstorbenen weißen Mann, der geraubt und geplündert hatte und dafür im Geschichtsbuch gefeiert wurde. Sie kochte, sie aß, sie sah ein bisschen fern, nahm ein heißes Bad, warf sich ein paar Pillen gegen den Schmerz und zum Einschlafen ein, dann wurde um neun Uhr abends die Tür zu- und das Licht ausgemacht. Jeden Abend. Ohne Ausnahme.
Rae nahm das persönlich. Sie wollte ihre Mutter – um bei ihr zu sitzen und mit ihr über alles und nichts zu reden, um sich ihr zu Füßen zu legen und sie nicht nur als die Lady kennenzulernen, die das Essen kochte, jeden Sonntag für Jesus joggte und sich bei den Mahlzeiten ins Hinterzimmer zurückzog, sondern als Person, als Mensch, als Frau. Doch LoLo hütete diesen Teil von sich wie ein Geheimnis. Sie ließ Rae glauben, sie müsse erst eine wackelige Hängebrücke passieren, durch einen Alligatorsumpf schwimmen und einen feuerspuckenden Drachen besiegen, bevor sie ihre Mutter wirklich sehen, wahrhaftig einen Blick auf ihr Herz werfen durfte. Irgendwann – Rae hätte nicht sagen können, wann genau, aber es war relativ früh in ihrer Kindheit – war sie sogar zu dem herzzerreißenden Schluss gekommen, dass ihre Mutter sie nicht wirklich mochte, Kinder an sich nicht wirklich mochte. Für ein Kind war das eine schwer erträgliche Erkenntnis. Und selbst noch für eine Erwachsene, die langsam dahinterkam, welche Herausforderung es bedeutete, Schwarz, eine Frau, Ehefrau, Mutter und all die anderen Dinge zu sein, die einem an die Substanz gingen.
Wenn er nicht arbeitete und zu Hause war, nahm Tommy seinen Teller und eine Dose Schlitz-Bier mit nach unten, wo auf seinem Fernseher irgendein Sport lief. TJ, tja, der senkte den Kopf über seinen Teller und schaufelte in sich rein, was immer darauf lag. Und er hob ihn erst wieder, wenn die schwarz-weiß gemusterte Keramik beinah saubergeleckt war. »Iss wie ein Mensch!«, hatte Tommy TJ angeschrien, als er das Gemetzel einmal zufällig mitbekam. Doch TJ ließ sich nicht beirren. Sein einziges Ziel bestand darin, so viel Essen wie nur möglich in kürzester Zeit in sich reinzustopfen, damit er Zeit für andere Dinge hatte – mit seinem Fahrrad rumkurven oder irgendeinem Mädchen nachsteigen. Er wollte unbedingt vermeiden, dass er noch am Tisch saß, wenn LoLo mit ihrem leeren Teller zurück in die Küche kam. Denn dann befahl sie, wem auch immer, der ihr als Erster in den Blick kam, die Reste wegzuräumen und das Geschirr zu spülen. »Ich habe gekocht«, pflegte sie zu sagen. »Da will ich doch verdammt sein, wenn ich jetzt auch noch die Küche aufräume – nicht mit zwei so verdammt großen Kindern im Haus.« Aber irgendwie traf dieses Los meist Rae.
Manches davon, vor allem als LoLo begann, Rae in den Angelegenheiten der Küche zu unterweisen, machte Rae nichts aus. Etwa wenn sie sich in ihr Zimmer zurückgezogen und die Nase in ein Buch gesteckt hatte, das sie sich von ihren wöchentlichen Beutezügen in der eineinhalb Meilen entfernten Bibliothek mitgebracht hatte. Dann begann LoLo mit den Töpfen zu klappern, und der Duft von frisch gehackten Zwiebeln und Speck auf dem Herd ließ das Haus wie Sonntag und noch viel mehr riechen. Dann spähte Rae um die Ecke in die Küche, um zu sehen, was sich in den Töpfen befand. Und in den Händen ihrer Mutter – etwa ihr großes scharfes Messer und ein paar Yamswurzeln oder eine Packung kurze Makkaroni von Mueller’s, die mit einem Spritzer Sonnenblumenöl in einen Topf voll kochendem Wasser kamen. Wenn sie in der Stimmung war – und das war sie meist –, lud sie Rae ein mitzumachen. Aber nicht herrisch, sondern eher im Sinne von »komm und verbring ein bisschen Zeit mit Mommy«. Das machte Rae immer ein wenig kribbelig.
»Na los, hol mal die Käsestücke raus«, sagte LoLo und deutete mit dem Kinn auf den Kühlschrank. Sie lächelte zwar nie, aber Rae spürte trotzdem die Wärme ihrer Mutter. Sie hatte gelernt, LoLos Stimmung am Timbre ihrer Stimme zu erkennen. Und daran, wo ihre Schultern im Verhältnis zu ihren Ohren waren. Eine raue, scharfe LoLo mit Schultern, die ihre so typischen Kreolen-Ohrringe streiften, das war die Mommy, vor der Rae sich duckte – in stille Ecken oder in die Arme ihres Daddys. Eine samtig weiche, helle LoLo mit Schultern, die in gestikulierenden Händen endeten, verriet ihre Begeisterung, den Wunsch, sich gerade in diesem Raum aufzuhalten. Dieser Mommy sah Rae gern zu, weil sie selten war und nur vor ihren Freundinnen, bei Bibellesungen und Hallelujas in den ersten Bankreihen zu sehen. Sie inspirierte die besten Seiten des kleinen Mädchens, das zu seiner Mutter aufschaute. Die ruhige LoLo mit entspannten Schultern war Raes Favoritin. Sie ließ die Tochter an sich heran.
»Schau mal her«, sagte LoLo und holte die Käsereibe aus dem Unterschrank. »Wir machen Makkaroni mit Käse für morgen zum Abendessen. Du hast schon oft zugesehen.« Und dann nahm sie sich eines der Käsestücke – es gab Cheddar scharf, Cheddar extra-scharf und Cheddar mild – und rieb ihn auf der Reibe. Mit ihrem ganzen Gewicht und geschürzten Lippen. Manchmal biss sie sich dabei sogar auf die Unterlippe, weil sie sich so konzentrierte. »Jetzt versuch du es.«
Rae nahm den Käse in ihre Hände, die kleiner und speckiger waren als die knorrig dünnen ihrer Mutter mit den langen harten Nägeln, die kaum einmal abbrachen. Dann versuchte Rae, sie genauso rasch und entschieden zu bewegen. Sie versuchte sogar, den gleichen Mund zu machen wie ihre Mutter. Aber sie schaffte es nie so flott wie LoLo. Aber das machte Rae nichts aus. Und LoLo auch nicht.
»Jetzt komm hier herüber und lass mich dir zeigen, wie man die Sauce macht«, sagte sie. Als hätte sie es Rae nicht schon tausend Mal gezeigt, aber auch das störte Rae nicht, weil eine lehrende LoLo auch eine freundliche war. »Schlag deine Eier da hinein und verquirl sie ein bisschen, aber nicht zu sehr«, sagte sie und reichte Rae ein Ei nach dem anderen, bis die gelben Dotter den Boden der Schüssel bedeckten. »Jetzt nimmst du die Milch und gießt sie dazu.« Sie beobachtete genau, wie Rae die Flüssigkeit abmaß, die die Basis der cremigen Köstlichkeit zwischen den Makkaroni bildete. »Das genügt. Nur bis hierher, siehst du?«, zeigte LoLo ihr. »Das reicht für diese Auflaufform«, fügte sie hinzu und zeigte auf ihre liebste Keramikform. »Jetzt gibst du noch ordentlich Salz und Pfeffer dazu.«
»Wie kannst du das so gut?«, fragte Rae, während sie mit der Gabel die Masse verrührte, so wie ihre Mutter es ihr diesmal und die vielen Male davor gezeigt hatte. Wenn sie rührte, vermischten sich nie alle Zutaten wie bei ihrer Mutter. Ganze Dotter schwammen noch in der Milch und große Inseln aus Pfeffer.
»Weil ich es schon so lang zubereite«, pflegte LoLo zu sagen und nahm Rae die Gabel aus der Hand, um die Mischung perfekt zu machen. »Wenn du es öfter kochst, wird es so leicht wie Zähneputzen oder ein Handtuch zusammenfalten. Dann wissen deine Hände schon, was zu tun ist.«
»Hat deine Mommy dir das beigebracht?«
LoLos Schweigen versteckte sich hinter dem Klirren der Gabel gegen den Rand der Glasschüssel. Aber auch hinter ihren Schneidezähnen und den Lippen, auf die sie sich biss. Schließlich sagte sie: »Ich habe viele Dinge nicht von meiner Mama gelernt, weil sie starb, als ich noch klein war. Aber ich erinnere mich dran, wie sie ihre Makkaroni mit Käse gemacht hat. Und ihren Lemon Pound Cake – du weißt schon, welchen. Da muss man leise sein, während er backt, damit er nicht zusammenfällt und hart wird. Daran erinnere ich mich.«
»Hat sie auch sonntagsmorgens gekocht, so wie du?«
So ging es weiter mit den Fragen, die Rae ihrer Mutter stellte. Um Informationen zu bekommen. Klarheit. Aber vor allem eine Bindung.
»Meine Mutter hat jeden Tag gekocht. Morgens briet sie gute Eier. Rühreier, manchmal mit ein bisschen Schinken oder gebratenem Speck drin. Die Eier mochte ich am liebsten.«
»Ich mag es, wenn ich sonntagsmorgens von deinem Essen träume«, sagte Rae. »Manchmal träume ich, dass ich mit einem Wolf durch den Wald laufe. Auf der Suche nach Fleisch. Und dann wache ich auf, und du kochst in der Küche Roastbeef. Das rieche ich in meinen Träumen.«
»Das ist ein sehr spezieller Traum«, sagte LoLo.
»Ich träume ganz viel …« Rae zögerte, dann meinte sie: »Die sind alle so. Wie ein Traum, aber auch wirklich.«
»Hmm«, war alles, was LoLo dazu sagte. Sie war abgelenkt und schwebte irgendwo in der Ferne, während sie dieses Orchester aus kochenden Töpfen, dazu gemischten Zutaten und dem Schneiden irgendwelcher Dinge dirigierte. Rae spürte ihren Rückzug, blieb aber dabei stehen, nahm Anweisungen entgegen und führte Aufgaben zu Ende. Sie war dankbar für diese Version ihrer Mutter und für was auch immer diese bereit war, ihr zu geben.
Mit zwölf übernahm Rae vollständig die Verantwortung für das Kochen der Familienmahlzeiten unter der Woche, wenn LoLo arbeitete. »Nimm das Hühnchen aus dem Tiefkühler« wurde quasi zu LoLos Standard-Abschiedsgruß, bevor sie die Treppen hinunterlief, um in die Fabrik zu fahren. Rae hütete sich, es zu vergessen, und sie lernte schnell, dass ihre Mutter erwartete, dass Essen fast fertig auf dem Herd vorzufinden, wenn sie am frühen Abend diese Stufen wieder hinaufstieg.
Nachdem Rae dreizehn geworden war, machte sie auch die Wäsche der Familie – Waschen, Zusammenlegen, Bügeln und alles in die jeweiligen Zimmer tragen. TJ hatte sich eines Freitagabends schlau aus dieser Verantwortung gestohlen, als er damit an der Reihe war, die Arbeitsuniformen seiner Eltern zu bügeln. Die waren ganz frisch und noch warm, weil er gleich nach der Schule eine Ladung Hellbuntes gewaschen hatte. Im Fernsehen war Jimmy »Superfly« Snucka zu sehen, im Ring mit einem Mann zwischen seinen Knien und im Schwitzkasten. Rae hockte auf der Couch und las zum vierten Mal Sara, die kleine Prinzessin. Das Buch bezauberte sie noch genauso wie beim ersten Mal. Sie schnupperte und verzog die Nase. Schnupperte noch mal und schaute hoch. Da sah sie, wie TJ das Bügeleisen auf den Kragen von LoLos hellblauem Kittel presste. Genau auf die rechte Seite, wo in eleganter Schreibschrift ihr Name unter den Worten Estee Lauder eingestickt war. Wie zur Erinnerung daran, dass die Firma immer über den Angestellten stand. Aus dem Stoff stieg Dampf auf. Und Rauch.
»Ooooh!«, rief Rae in einem Crescendo, um den Sprecher im Fernsehen zu übertönen, der in sein Mikro schrie, wie Jimmy seinen Gegner vertrimmte. »Du verbrennst Mommys Uniform!«
TJ starrte auf den Fernseher und richtete dann den Blick auf seine Schwester. Das Bügeleisen ließ er auf dem Kragen, während er die Augen schweifen ließ. Das war lange, nachdem Rae ihn gewarnt hatte. Erst dann schaute er auf die Uniform und drückte das Bügeleisen mit all seinem Gewicht auf den verbrannten Stoff. Damit war klar, dass es sich mitnichten um ein Versehen handelte.
Nach den dreizehn kurzen Jahren, die Rae nun schon auf der Welt war, hatte Rae aufgehört, um TJ zu fürchten, wenn ihre Mutter das Zimmer betrat. Früher hatte sie in ihren Träumen gesehen, wie LoLo TJ schlug und einen ranzigen Geruch in der Nase gehabt. – Als sie kleiner war, stellte sie sich vor, dass der Tod so riechen musste. Und wann immer LoLo TJ zu fassen kriegte, litt die kleine Rae unter der Last, Zeugin zu sein. Denn sie dachte, diesmal würde ihr Albtraum sicher wahr werden und nicht nur irgendwas, das in ihrem Traum die Totenglocke geläutet hatte. Dann würde TJ fort sein und ihre Mutter in großen Schwierigkeiten. Die größere Rae dachte sich, TJ habe es sich selbst zuzuschreiben. Als er LoLos Arbeitskittel ruinierte, zuckte sie daher nicht einmal zusammen, als LoLo die Stufen runtergerannt kam, den großen schwarzbraun geflockten Brandfleck auf ihrer Uniform sah und TJ ins Gesicht schlug, dass die Spucke nur so flog.
»Was zum Teufel machst du da, Junge? Ich muss fünfundzwanzig Dollar zahlen, um den zu ersetzen. Hast du den Verstand verloren?«
»Sorry«, murmelte TJ zwischen den Fingern, mit denen er sich die Wange rieb.
»Und warum zum Teufel ist mein blauer Kittel verdammt noch mal fast pink?« Sie riss das Kleidungsstück vom Bügelbrett und wirbelte auf der Suche nach der Waschladung herum, aus der er kam. Auf dem zweiten Sofa, an der Wand unter dem Fenster stand sie. Nachlässig gefaltet. Der Haufen aus gelben, hellblauen, hellgrünen und cremefarbenen Sachen war vollständig mit einem Hauch Pink versehen, was zweifellos von dem roten Pullover kam, den TJ mit in die Waschmaschine gesteckt hatte.
»Boy, lass verdammt noch mal die Finger von meinen Sachen«, sagte Lolo. Sie gab TJ noch einen Klaps auf den Hinterkopf, als er sich an ihr vorbei verdrückte. Sein Grinsen in Raes Richtung war unmissverständlich.
Je älter die beiden wurden, desto weniger kompliziert war das Auseinanderdividieren der Hausarbeit zwischen ihnen. TJs einzige Aufgaben waren das Raustragen des Mülls und Ordnung Halten in seinem Zimmer. Das war’s. Rae hatte inzwischen einiges gelernt: Staubwischen, Saugen, Kissen aufschütteln, Wischen und Bad Putzen. Und das alles mit fünfzehn sowie zusätzlich zu ihren bisherigen Zuständigkeiten. Außerdem benutzte ihre Mutter Raes Arbeitsauffassung wie ein Schwert gegen sie. Jedes Wochenende verkündete LoLo, Rae könne nicht zu dieser Party gehen oder mit ihren Freundinnen zur Rollschuhbahn, bis ihre Hausarbeiten nicht erledigt wären. Aber die waren nie erledigt. »Wenn du mit dem Abstauben der Möbel fertig bist, komm und hol dir den Wischmopp«, schrie LoLo aus dem Bett, wo sie mit übereinandergeschlagenen Beinen lag, die Fernbedienung in der Hand und ihre Kissen frisch aufgeschüttelt. »Und wenn du gewischt hast, komm her und räum diese Schubladen auf.«
Auch für diese Hausarbeiten war nie TJ zuständig – genauso wenig wie Tommy. Alles rund ums Haus lastete auf LoLos Schultern und auf Raes, wenn LoLo nicht danach zumute war. Dazu benutzte sie eine einzige, aber wirkungsvolle Botschaft: Das war Frauensache.
Rae stellte das damals nicht infrage. Sie hatte es auch nicht in Frage gestellt, als sie und Roman ihre ersten Dates hatten, und später nicht, als sie zusammenlebten. Tatsächlich war sie sogar stolz darauf, unter ihren Freundinnen die Hausfrau zu sein – diejenige, die sich an den alten Spruch hielt »der schnellste Weg zum Herzen eines Mannes …« und sich einen Typen angelte. Das hatte für LoLo funktioniert. Sie hatte einen tollen Typen gefunden. Oh, wie Rae die Schultern reckte und übers ganze Gesicht strahlte, als sie zum ersten Mal mit einem Arm voller Lebensmittel und einer Flasche Sekt in Romans Wohnung auftauchte und direkt in die Küche marschierte.
»Du setzt dich einfach hin und entspannst dich«, hatte sie gesagt und die Einkaufstüten auf der Arbeitsplatte abgesetzt.
»Was kann ich helfen?«, fragte Roman, nachdem er den Sekt in den Kühlschrank gestellt hatte. »Denn täusch dich nicht, ya boy kann prima Pasta mit Muschelsauce kochen.«
»Mmmm … das ist nicht, was ich im Sinn hatte«, meinte Rae kichernd. Sie spitzte die Lippen, presste sie auf Romans und schob ihm die Zunge in den Mund. Dann legte sie noch die Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn. Ganz fest.
»Whoa, so ein Kochen mag ich!«, rief Roman und nahm den Kopf nur so weit zurück, dass er die Worte aussprechen konnte.
»Mach dir mal keine Sorgen. Ich mag dein Dessert«, sagte Rae und wischte ihm ihren Lippenstift vom Mund. »Aber zuerst«, sagte sie und drehte sich zu ihren Einkäufen um, »gibt’s Hühnchen. Muss doch dafür sorgen, dass mein Mann was Ordentliches zu essen kriegt.«
»Na gut. Dagegen habe ich überhaupt nichts einzuwenden. Ich mag Hühnchen.«
»Das weiß ich«, sagte Rae lachend.
Alles, was sie brauchte, um ihr Abendessen aus frittiertem Hühnchen, Reis und grünen Bohnen zuzubereiten, war in den Tüten. Und so war sie in kürzester Zeit dabei, Flügel und Schenkel mit Gewürzsalz, Knoblauchpulver und Mehl einzureiben, die Bohnen abzufädeln und die Stärke aus dem Reis zu waschen. Und als sie das Hühnchen ins heiße Öl gab und es brutzelte und der Duft der sich bräunenden Haut zum Himmel aufstieg, um es, wie Rae das ohne Zweifel empfand, mit Liebe zu füllen, da wusste sie es. Sie wusste es einfach.
»Verdammt, das riecht so gut, Babe«, hatte Roman gesagt und sie auf den Hals geküsst, als sie das Hühnchen umdrehte und ein bisschen Speckfett über die Bohnen goss. »So gut hat’s bei mir zu Hause noch nie gerochen. Das ist ja wie Thanksgiving an einem Dienstag! Meine Mutter wird dich lieben.«
»Oh?«, machte Rae und drehte sich von der Pfanne weg, um sich erneut an Romans Brust zu schmiegen. »Habe ich damit etwa eine Einladung bekommen, die liebenswerte Mrs Lister kennenzulernen?«
»Sie wünscht sich eindeutig ein Gesicht zu dem Namen. Ich brauche ihr nicht mehr viel von dir zu erzählen, bis sie sich einen Flug bucht und herkommt, um dich mit eigenen Augen zu sehen«, sagte Roman.
»Du hast ihr schon von mir erzählt?«
Romans Kuss war so weich wie ein Kissen. »Ich erzähle ihr dauernd von dir«, sagte er. »Sie hat einen guten Blick.«
»Du auch?«
»Na klar«, sagte Roman. »Hab ich von Gloria Lister gelernt.«
»Wie meinst du das?«
Roman presste sein Gesicht gegen Raes Hals. »Weißt du, meine Eltern sind seit fast fünfzig Jahren verheiratet«, sagte er und drückte behutsame Küsse auf Raes Haut. »Das heißt, Jim Crow, die Bürgerrechtsbewegung, ein paar Kriege, der Wu Tang Clan. Ihre Ehe hat all das ausgehalten. Sie nehmen ›in guten wie in schlechten Tagen, bis dass der Tod uns scheidet‹ wirklich ernst. Und das bedeutet mir auch was, verstehst du? Meine Mom hält die Sache zusammen. Dad ist ein guter Kerl, aber wenn’s drauf ankommt, ist sie diejenige, die die Familie am Laufen hält. Ich respektiere das. Und es ist etwas, wofür ich mich bereit fühle. Ich sehe das in dir.«
»Den Wu Tang Clan?«, fragte Rae und konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen.
»Hab ihn«, erzählte sie später ihren Homegirls, Treva und Mal. Die drei unterschieden sich in nichts von anderen Twenty-Somethings: Sie schwelgten in Romanen von Terry McMillan, lebten ihre Love Jones/Nina Mosley-Fantasien aus und suchten nach jemand, der all ihre Wünsche erfüllen und der blues in your left thigh sein könnte.
»Was meinst du mit, du hast ihn?«, fragte Treva und schaute von ihrer Speisekarte hoch. Sie ließ den Blick über die anderen Tische im The Shark schweifen. Es war das beliebte Lokal, wo sie und jede andere Schwarze Singlefrau mit einer anständigen Karriere und ohrenbetäubend laut tickender biologischer Uhr hinging, um zu sehen und von den begehrtesten Schwarzen Junggesellen der Stadt gesehen zu werden. Üblicherweise waren die Tische voller Freundinnen, und es herrschte Mangel an dem, was sie alle suchten: attraktive Männer, anständig angezogen, mit was zu bieten und auf der Suche nach mehr als einer schlichten, mühelosen sexuellen Begegnung.
»Ich meine, ich hab ihn eingefangen«, sagte Rae und nahm lächelnd einen Schluck Wein.
»Lass mich raten – du hast für ihn gekocht«, sagte Mal und rückte sich auf ihrem Stuhl zurecht.
Rae lachte.
»Du weißt schon, dass sie es getan hat«, meinte Treva lachend. »Was hast du gekocht? Frittiertes Hühnchen, stimmt’s? Das macht diese Negros* wehrlos, das kann ich euch sagen. Dann steht sie in der Küche und kocht wie eine Göttin.«
Mal verdrehte die Augen und nahm einen Schluck von ihrem Cosmopolitan. »Das kenne ich. Sie hat schon jeden Negro* zwischen Flushing und der South Bronx bekocht. Und was hat’s ihr gebracht, außer einem Berg schmutziges Geschirr?«
»Hey, ich koche eben gern«, verteidigte sich Rae. »Ich bin damit aufgewachsen, dass meine Mutter meinen Daddy bekocht hat, und ich weiß, er schätzt es, dass sie ihn versorgt, und er revanchiert sich damit, dass er sie versorgt. Die beiden sind jetzt seit fast dreißig Jahren verheiratet. Da muss sie doch irgendwas richtig gemacht haben, um so einen guten Mann abzukriegen. Mehr sag ich ja gar nicht. Es ist das frittierte Hühnchen und Mac and Cheese«, meinte sie kichernd. Rae hielt die Hand zum High Five hoch, und Treva klatschte sie ab.
»Ich frage mich nur, was ist das Besondere an diesem Typ, außer dass er dein Essen mag?«, fragte Mal und verschränkte die Arme, während sie auf eine Antwort wartete.
Rae seufzte. »Mein Gott, warum bist du so negativ?«, fragte sie kopfschüttelnd. »Roman ist ein guter Kerl. Er hat einen guten Job, ist gebildet, ist lieb zu mir. Ich meine nur, wenn du einen guten Mann willst, dann ist es doch nicht verkehrt, ihm zu zeigen, was du zu bieten hast. So hat meine Mom ihren Mann behalten, das hab ich mit eigenen Augen gesehen.«
»Dann lass uns mal sehen: Er hat einen guten Job, Bildung und ist nett. Mehr braucht es nicht? Das ist alles, was wir von einem Typen wollen? Klingt für mich wie das absolute Minimum.«
»Was gibt’s denn sonst noch?«, fragte Rae und war langsam ein bisschen genervt von dem Gespräch mit ihren Freundinnen. Es kam ihr vor wie eine kaputte Schallplatte. Und verdammt, so hörten sich auch alle anderen an, die allzu besorgt um das Liebesleben Schwarzer Frauen waren.
»Ach, ich weiß nicht, dein eigenes Leben leben?«, sagte Mal. »Zufrieden mit der Tatsache sein, dass du als Frau auf eigenen Beinen stehst? Hast, was du willst und verdienst, ohne an irgendeinen Typen gefesselt zu sein?«
»Irgendeinen Typen? Gefesselt? Darauf reduzieren wir Beziehungen jetzt?«, fragte Rae. Sie sah Treva an und kicherte. »Die Ehe ist kein Ballast, der uns vom Fliegen abhält. Sag’s ihr, Tree.«
»Und woher weißt du das so genau?«, fragte Mal und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück.
»Oh, keine Ahnung, aus jeder verdammten Statistik über Paare, die aufblühen, nachdem sie sich festgelegt haben?«, sagte Rae und unterstrich ihre Worte mit einer großen Handbewegung. Dann zählte sie die Punkte der berühmten Liste auf: »Verheiratete Paare haben mehr Chancen, ein Vermögen aufzubauen, sie sind gesünder, ihre Kinder erreichen ein höheres Bildungsniveau. Alles, was unsere Community braucht, ist darin enthalten, wenn Schwarze Männer und Frauen miteinander auskommen und sich ein gemeinsames Leben aufbauen.«
»Auf die Ziele!«, sagte Treva und erhob ihr Weinglas.
»Oh, dann bist du jetzt eine dieser Schwarzen Expertinnen in Sachen Liebe, was?«, ätzte Mal. »Du klingst wie ein Papagei. Wie einer von diesen Niggas* aus dem Radio, die daherreden, als wären starke Schwarze Familien irgendein Superhero-Shit.«
»Ich will mein Cape!«, sagte Rae lachend. »Shit, ich weiß gar nicht, was du hast. Ich versuche doch nur, zu den dreißig Prozent der Community zu gehören, die Schwarz und verheiratet sind und Kinder haben. Ich versuche, Teil der Lösung zu sein, nicht Teil des Problems.«
»Die ganze Zeit redest du davon, was alle anderen gewinnen, wenn sie heiraten«, sagte Mal. »Aber was springt für dich dabei raus?«
»Liebe!«, rief Rae. »Liebe, Mal. Ich möchte verliebt sein. Ich möchte Babys. Ich möchte so eine Ehe, wie meine Eltern sie hatten. Ich will, dass mein Mann für mich sorgt, wie mein Vater für meine Mutter gesorgt hat. Und das hier ist ein guter Mann dafür.«
»Mr Tommy ist ein guter Typ, das will ich dir lassen«, sagte Mal. Treva nickte heftig dazu.
»Ich versuche nur, meinen Part zu übernehmen. Meinen Mann finden, meine Familie gründen und uns allen gerecht werden. Ich will eine gute Ehefrau und Mom sein. Mich nicht dafür entschuldigen müssen.«
»Dann musst du nur noch schauen, ob er einen Freund für diese störrische Person hat«, sagte Treva kichernd. »Wo du doch die ganze Community rettest.«
»Wie auch immer, Bitch.« Mal lachte. »Ich sag dir nur eines«, sie lehnte sich näher zu Rae rüber, damit die sie deutlich hören konnte, »wann kommen wir dahin, dass wir aufhören, so zu tun, als wären die Männer der Hauptgewinn? Da machst du frittiertes Hühnchen und die guten Mac and Cheese und versuchst, dir diesen Typen zu angeln. Warum geht’s immer darum, was wir tun können, um denen zu beweisen, dass wir gute Ehefrauen wären? Ich glaube, für uns alle wäre es besser, wenn diese Männer uns beweisen würden, dass sie gute Ehemänner wären. Ich schwör euch, lasst euch von diesen Ratgeberbüchern und TV-Therapeuten die Tatsachen nicht verdrehen. Oder wollt ihr nicht mehr als Durchschnitt?«
»Ich will einfach nur glücklich sein. Eine Pfanne mit frittiertem Hühnchen und ein Topf grüne Bohnen sind ein kleiner Preis dafür«, sagte Rae leise.
Und nun stand sie da, nach vier Jahren Ehe, mit einer Zweijährigen auf der Hüfte und mit einem Spüllappen in der Hand. Sie überlegte, wie viel sie für dieses Glück bezahlt hatte, das noch nicht mal wirkliches Glück war. Die Erkenntnis traf sie an einem Samstag, nach einer langen Woche mit anspruchsvoller Arbeit im Produktionsstudio und einer Reihe von kleineren und größeren Auseinandersetzungen mit Roman, die bei ihr den Eindruck hinterließen, dass ihre Investition nie einen Gewinn einbringen würde. Sie stand da, versuchte die Kleine zu beruhigen, die verdammt noch mal schläfrig und aufgedreht zugleich war. Roman zog sich seine Socken und dann seine Turnschuhe an. Dabei schien er die Blicke nicht zu spüren, die seine Frau wie Dolche in seinen Nacken schleuderte.
»Ich glaube, es fällt mir schwer zu begreifen, warum vier Stunden Squash spielen an einem Samstagnachmittag Priorität haben, wenn es in der Wohnung so viele Dinge gibt, die vor der Arbeit am Montag erledigt werden müssen«, sagte Rae und schaukelte Skye, während sie im Wohnzimmer auf und ab marschierte.
»Samstag ist der einzige Tag, an dem Rob spielen kann. Ich weiß nicht, warum wir dauernd diese Diskussion haben müssen, Rae«, sagte Roman, drückte sich vom Sofa hoch und strich seine Shorts glatt.
»Was ist damit, dass Samstag der einzige Tag ist, den du mit deinen beiden Girls verbringen kannst?«
»Rae, ein Samstag hat vierundzwanzig Stunden. Du hast dich entschieden, gute vier davon damit zu verbringen, Toiletten zu schrubben und Möbel zu polieren, die völlig in Ordnung aussehen und das überhaupt nicht brauchen.«
»Ich hab mich entschieden zu putzen? Das denkst du?«
»Die Wohnung ist sauber, Rae«, argumentierte Roman. »Schau sie dir doch an. Du hast einen Putzlappen in der Hand, um Sachen zu putzen, die nicht mal schmutzig aussehen. Come on, man, warum müssen wir das diskutieren, wenn ich gerade gehe?«
»Weil du gerade gehst!«
Roman machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten. Er griff stattdessen nach seiner Tasche mit Schlägern und Bällen, gab Skye und Rae je einen Kuss auf die Wange und ging zur Tür. Er gähnte. »Wir sehen uns nachmittags wieder.«
Rae schaute Roman nach, wie er die Tür hinter sich zumachte. Sie stand da, schaukelte vor und zurück, vor Wut kochend. Aber sie kam auch zu ein paar harten Einsichten.
Es hatte durchaus Zeiten gegeben, als Rae noch ein kleines Mädchen gewesen war und bevor ihre Mutter ihre »Fähigkeiten« auf die Tochter übertragen hatte, als Tommy sein Babygirl am Samstagnachmittag auf dem Beifahrersitz seines Cadillac platziert und behauptet hatte, er müsse »Besorgungen machen«. Dann war er zum Drive-Thru-Schalter der Chemical Bank gefahren, um seinen Gehaltsscheck einzulösen, anschließend ging es zu Macy und Sears, um Rechnungen zu bezahlen, vielleicht auch in die Eisenwarenhandlung, um irgendwas für seine Bohrmaschine, einen neuen Hammer oder irgendwas anderes für seinen Werkzeugschuppen zu erstehen. »Ich hätte Lust auf Pizza«, pflegte er dann zu sagen, rollte das Fenster runter und rückte seine Sonnenbrille zurecht. »Nein, lieber ein Eis! Lass uns in die Mall gehen und eine Waffel essen. Welche Sorte möchtest du, Baby?«
»Erdbeer!«, sagte Rae dann und kämpfte mit dem Sicherheitsgurt. Weil sie noch so klein war, schnitt sie der immer in den Hals. Das kratzte, aber sie hätte sich nicht im Traum darüber beschwert. So froh war sie, mit ihrem Vater aus dem Haus zu sein. Froh, dem Polieren des Wohnzimmerschranks und dem Saugen der Treppe entkommen zu sein. Das waren Hausarbeiten, die ihre Mutter ihr schon früh auferlegte. Zur Vorbereitung auf die Übernahme des kompletten Hausputzes.
»Ach, Erdbeer?«, sagte Tommy immer und verzog gespielt angewidert das Gesicht. »Wo Gott doch für die Zuckerwaffeln extra Butter Pecan erschaffen hat?«
»Aber ich mag Erdbeer, Daddy!«, pflegte Rae dann immer kichernd zu antworten.
Tommy seufzte vernehmlich. »Dann versprich mir, dass du wenigstens bunte Streusel dazu nimmst. Ein paar Erdnüsse. Irgendwas. Das Leben ist einfach zu kurz für langweile Waffeln mit Erdbeereis.«
Immer würden sie gerade pünktlich nach Hause kommen, sodass ihr Vater ein blitzblank sauberes Haus betrat. Dann würde er aus seiner ordentlich aufgeräumten Kommode das frisch gewaschene und gebügelte Bowlinghemd nehmen – es in den Korb mit der Schmutzwäsche zu werfen war sein Beitrag zum Reinigungsprozess gewesen –, nach der Bowlingtasche greifen und damit an den Stufen vor dem Eingang warten. Darauf warten, dass LoLo ihre Putzutensilien weglegte, und sich samt ihrer Bowlingausrüstung zum Auto beeilte. Sie wirkte immer müde, wenn sie dann auf dem Beifahrersitz saß. In sich zusammengesunken starrte sie aus dem Fenster und antwortete nur einsilbig.
Die kleine Rae hatte sich gewünscht, ihre Mutter wäre irgendwie mehr wie Erdbeereis mit Streuseln, die große Rae begriff es besser. LoLo war müde gewesen. Und wütend. Langsam fing sie an zu verstehen, warum ihre Mutter ihren Teller ins hintere Zimmer getragen hatte, warum sie darauf bestanden hatte, sich ein heißes Bad zu gönnen, sich einzuigeln, ihre Serien zu schauen und mit geschlossenen Augen einfach dazuliegen. Allein. Um am Ende ihres langen Tages eine Sekunde zu haben, um – Mensch zu sein.
Rae wusste nicht so recht, wie sie das für sich selbst hinkriegen sollte – nicht mit einem Ehemann, der nichts verdiente, nicht mit einem Kleinkind, das noch nicht so ganz gelernt hatte, sein Kacka in die Toilette zu machen anstatt in die Hose, nicht mit einem Vollzeitjob und einer Wohnung, die sie ganz allein in Ordnung halten musste, weil es für den anderen Erwachsenen, der dort wohnte, passé war, in einer sauberen Wanne zu duschen und in einer Küche zu kochen, die aufgeräumt und geputzt war. Treva und Mal hatten sie beide gewarnt. »Girl, ich weiß nicht, warum du hinter einem erwachsenen Kerl herputzt, wenn ihr jemand dafür bezahlen könnt, das zu erledigen«, hatte Mal ein paar Monate zuvor bei einem Mittagessen gesagt. Das war die einzige Gelegenheit, ihre Freundinnen zu treffen, außer wenn die in die Casa Lister kamen. Doch das passierte selten, weil Treva sich nicht wirklich etwas aus Babys machte, und Mal sich nicht wirklich etwas aus Roman.
»Wer kann sich denn eine verdammte Putzfrau leisten?«, hatte Rae zwischen zwei Bissen Tunfisch-Baguette gefragt. »Neben Rechnungen und dem Babysitter bleibt mir kein Geld, um jemand Fremden zu bezahlen, der ins Haus kommt, um meine Toilette zu putzen. Ich weiß, wie man eine verdammte Toilette putzt.«
Dieses nagende, verzweifelt beunruhigende, dauernd unzufriedene Ich-werde-meinem-Kind-und-meinem-Leben-nicht-gerecht-Gefühl, während sie mit ihrem herausfordernden Wunschjob jonglierte, dazu mit einer jungen Ehe und einem kleinen Kind und all das gleichzeitig, gab Rae den Eindruck, sie würde am tiefen Ende eines Schwimmbeckens Wasser treten. Doch ihre Beine schienen zu schwach, um ihren Kopf über Wasser zu halten. Jetzt stand sie da und starrte mit dem gleichen Blick auf die Wohnungstür, wie LoLo ihn gehabt hatte, wenn sie in dem Eldorado auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte.
Skye zappelte noch ein bisschen heftiger und quengelte. Sie wollte vom Arm ihrer Mutter runter.
»Okay, okay, Baby«, sagte Rae und stellte ihre Tochter auf den Boden. Die rannte los und zwar schnurstracks in ihr Zimmer. Die Kleine lief direkt zu ihrem Schrank, zog die Turnschuhe heraus und ließ sie mitten auf den Boden fallen. Dann versuchte sie, die pink-gelben Glitzerdinger an ihre Füße zu ziehen. Rae lachte. »Wo gehst du denn hin, Baby?«
»Raus!«, sagte Skye.
»Oh! Gehen wir irgendwohin?«, fragte Rae, deren Stimmung sich ein wenig aufhellte. Skye war ein willensstarkes Kind. Rae liebte ihre Direktheit, die sie schon aus dem Mutterleib mitgebracht hatte.
»Raus!«, schrie Skye.
Rae blickte sich im Kinderzimmer um und sah all die Dinge, die darin nicht in Ordnung waren: den überquellenden Wäschekorb; den Korb mit den Windeln, die nachgefüllt werden mussten; die überall herumliegenden Stofftiere und Bücher; das Bettzeug, das frisch überzogen werden musste. Aber ihr Kind wollte raus.
Und Rae auch.
»Okay, Baby«, sagte sie und bückte sich, um Skye die Turnschuhe an den jeweils richtigen Fuß zu ziehen und zuzubinden. »Raus. Lass uns rausgehen.«
***
Drei Stunden später und ausgepowert, weil sie erst Skye im Park nachgejagt war, sie dann mit dem Zucker eines Erdbeereises aufgeputscht und schließlich das erschöpfte Kind und den Buggy zwei Treppen zu ihrer Wohnung raufgetragen hatte. Rae stieß die Wohnungstür auf und wurde sofort wieder von dieser Niedergeschlagenheit erfasst – dem Gefühl, alles allein stemmen zu müssen. Roman war immer noch weg und spielte Squash. Skyes Zimmer, und übrigens auch der Rest der Wohnung, waren immer noch ein Chaos. Rae war wieder sauer. Und sie war es leid, wieder sauer zu sein.
Sie legte Skye in ihr kleines Bett und gab ihr einen Kuss. Dann richtete sie sich auf und stemmte die Hände in die Hüften. Sie wollte sich nicht so fühlen – wollte in der wenigen freien Zeit, die sie am Wochenende hatte, nicht mit ihrem Mann streiten. Vor allem nicht, weil sie schon wusste, das Roman diese blasierte Haltung einnehmen würde, mit der er alles abtat, was sie aufregte. Sie hatte keine Kraft mehr zu kämpfen – nicht die nötigen Fähigkeiten, um es auszuhalten, wenn Roman bestimmt wieder versuchte, sie in den Wahnsinn zu treiben. Das machte er bei jedem Gespräch, in dem Rae ihre eigenen Bedürfnisse und seine Defizite aufzählte. Also tat sie, was sie immer machte, um sich zu besänftigen. Zufällig war das auch eine der Sachen, von denen sie sich dringend wünschte, dass Roman sich ihrer bewusst würde. Sie putzte, um sich zu beruhigen.
Rae ging in das winzige Elternbad, das tatsächlich nicht größer war als die Behindertentoilette in der Chefetage bei der Arbeit. Dort betrachtete sie die Ablageflächen, die vollgepackt waren mit Cremes, Romans Utensilien zur Bartpflege, Zahnbürsten, Make-up und diversen anderen Kleinigkeiten, die es beinah unmöglich machten, das Waschbecken zu benutzen. Das weiße Porzellan und die Ablage waren voller kurzer Haare, die ihr Mann nach seiner Morgentoilette hinterlassen hatte. Sie war beim Zähneputzen gewesen, als er seinen Bart trimmte. Dabei hatte sie beobachtet, wie er mit der Handfläche beiläufig die winzigen Haare ins Waschbecken wischte. Mit großen Augen hatte sie sich das und dann ihn und wieder das Waschbecken angesehen, doch er merkte es nicht mal. Er trocknete sich nur die Fingerspitzen ab und ging. Rae seufzte bei der Erinnerung daran und schüttelte den Kopf. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die Dusche: Die Fliesen schrien geradezu nach einem Anti-Schimmel-Mittel. Der Spiegel war so voller Zahnpastaspritzer, dass er wie die Anfänge eines Kunstwerks im Stil von Roy Lichtenstein aussah.
Rae seufzte noch mal und krempelte sich die Ärmel auf. Sie beschloss, das Schränkchen unter dem Waschbecken aufzuräumen, um Platz für die Sache obendrauf zu schaffen. Ganz einfach. Also kniete sie sich auf den Boden und griff, ohne genau hinzusehen, nach den ersten paar Sachen, die ihr in die Finger kamen: eine Flasche Shampoo, irgendein Haaröl, ihr Reiseföhn, dessen Kabel so verwickelt war, als hätte jemand ihn in großer Eile da hineingeworfen. Alles kam oben auf die Ablage. Sie griff noch mal hinein – wieder ohne hinzusehen: eine Flasche Conditioner, ein Döschen Bobo’s, das sie für Skyes Haare benutzte, sowie ein kleiner Kulturbeutel, in dem Roman ihre Kondome verwahrte. Auch das kam alles auf die Ablage.
Als sie das dritte Mal hineingriff, berührte ihre Hand etwas, das sich weiter hinten versteckte – weder eine Flasche noch ein Beutel oder irgendwas, das sich nach Sachen unter einem Waschtisch anfühlte. Rae verzog das Gesicht und lehnte sich ein bisschen gegen die Ablage. Ihre Knie knacksten, als sie ihr Gleichgewicht neu suchte. Die Schulter und eine Gesichtshälfte drückten gegen den Waschtisch, als sie versuchte, das Ding zu fassen zu kriegen. Sie hatte keinen Grund, nicht anzunehmen, es wäre eins von Romans T-Shirts oder ein Durag, den er hier reingeworfen hatte, um schneller im Bad fertig zu sein und sich wieder irgendetwas zu widmen, wozu er mehr Lust hatte. Aber sie war noch jung und hatte noch nicht gelernt, die Folgen gewisser Annahmen zu verstehen. Etwa wie viel mehr es einen verletzte, wenn man nicht aufs Schlimmste gefasst war. Endlich konnte Rae das seidige Ding gut erreichen und zog es zu sich.
Es war ein BH.
Es war nicht ihr BH.
Das wusste Rae, weil sie zweckmäßige Büstenhalter trug – die preiswerten, die es bei Macy’s immer im Angebot gab. Gleich neben dem Korb mit fünf Slips für nur fünfundzwanzig Dollar. Ein 34B. Das war die Körbchengröße, die sie erlangt hatte, nachdem Skye fast achtzehn Monate lang gestillt worden war. – Eine Veränderung, die sie mit beträchtlicher Freude erfüllt hatte, nachdem sie ihr Leben lang zu den Heiligen von Bist du da Gott? Ich bin’s, Margaret darum gebetet hatte, das ein klein wenig sich aus ihrer flachen, Präsidentin-des-itzi-bitzi-Tittie-Kommitees-Brust wölben würde. Bis zu dieser Größenveränderung hatte sie hauptsächlich Sport-BHs getragen, wie die Girls von TLC. Nur dass sie ihren Bauch bedeckt und sich noch einen Pulli um die Taille gebunden hatte. – Ein nutzloser Versuch, ihre dicken Oberschenkel und ihren Booty zu kaschieren, die, weil sie so klein war, nie ordentlich in Hosen passten. Immer schienen die an den Hüften beängstigend zu spannen, während sie um die Taille schlabberten. Rae war damit aufgewachsen, sich für ihre Figur zu schämen – dafür sorgte LoLo. »Bei deinem dicken Hintern brauchst du dich gar nicht drum bemühen, dass deine kleine Brust größer wird«, hatte sie Rae eines Abends erklärt. Damals hatte sie ihre Tochter bei einer Übung ertappt, die helfen sollte, die Brust zu vergrößern – »I must, I must, I must increase my bust«. Das hatte sie aus ihrem damaligen Lieblingsbuch. Raes Herz hatte gerast, weil sie so erschrocken darüber war, bei der Sorge um ihre Brüste erwischt worden zu sein, dass ihr bittere Galle in die Kehle hochstieg. Rasch hatte sie die Arme sinken lassen und die Augen niedergeschlagen. »Von nun an ist die einzige Übung, die du machen musst: dich auf den Teppich hier setzen und rückwärts rutschen. Das wird helfen, damit dein Hintern nicht so verdammt groß wird.«
LoLo hatte das gesagt, als wäre ein rundes Hinterteil ein Vergehen und eine Schande. So betrachtete Rae es – und ihren ganzen Körper. Als müsste sie ihn verstecken. Das passte zu der Message, die sie ihre ganze Kindheit hindurch gehört hatte. Schließlich stammte sie aus einer Generation, die ihre prägendsten Jahre hindurch – in diesen kritischen Momenten, in denen das Selbstwertgefühl sich zu entwickeln beginnt – erzählt bekam, die Pfannkuchen-Ärsche in der Werbung für Jordache Jeans wären die Norm. Und das Beschimpfen Schwarzer Mädchen mit Bubble Butts als fat – nicht zu verwechseln mit phatt – war die Norm. Schwimmen in Oversized-T-Shirts über den Badeanzügen und das Umbinden dicker Sweater und Holzfällerhemden um die Taille, damit man seinen Donk versteckte, waren die Norm. Röcke, die hinten hochrutschten und über den Hüften spannten, waren die Norm. Wedgies waren die Norm. Übungen, um abzunehmen, obwohl die Waage schon anzeigte, dass man eigentlich untergewichtig war, waren die Norm. Bubble Booties gehörten versteckt, nicht begehrt – abgearbeitet, statt bearbeitet. Und egal wie viele Sir Mix-a-Lot Baby Got Back-Hommages oder anerkennende Klapse auf den Po es von Roman gab, nichts konnte Rae von drei Jahrzehnten Selbsthass befreien.
Also, nein, der sexy BH, den Rae unter dem Waschbecken im Bad hervorgezogen hatte, gehörte nicht ihr.
Wie sich soeben herausgestellt hatte, gehörte auch Roman nicht ihr.
So erfuhr Rae, dass ihr Ehemann sie betrog. Und von da an begann sie, sich von ihm zu entlieben.