Die Nadel in ihrem Rückgrat, die Wehen, diese dämliche Maschine, die in einem Rhythmus piepte, der nicht zu Donny Hathaways A Song for You passte, der auf Dauerschleife im CD-Player lief – all das löste in Raes Körper einen Schmerz aus. Einen Schmerz, der bis tief in ihre Seele reichte und sie in den Augenblicken, wenn sie tatsächlich Luft holen konnte, dazu brachte, sich zu fragen, was sie sich eigentlich dabei gedacht hatte. Damals als sie Roman viel von dem billigen Weißwein eingeschenkt, ihn geküsst und atemlos gesagt hatte: »Wir sollten ein Baby machen.« Sie wusste schon immer, dass sie Mutter werden wollte. Sogar schon bevor sie auch nur begann zu begreifen, wie eine Frau ganz praktisch eine wurde. Ihre eigene Mutter hätte ihr ja beinah das Schwarze von den Oberschenkeln geschlagen, als sie sie im Alter von acht Jahren erwischte, wie sie mit ihrer »Rub a Dub Dolly«-Puppe unterm Nachthemd durchs Untergeschoss stolzierte – der Mittelpunkt von Raes frühen Schwangerschaftsfantasien. »Sieh zu, dass du frühreifes Girl gefälligst ins Bett kommst!«, hatte LoLo geschrien und gekeucht, während sie Raes Arm in die Höhe riss. So hatte sie ihre Tochter gezwungen, den Schlägen tänzelnd auszuweichen, als wäre sie eine klappernde Marionette an Fäden. Dabei hatte Rae keine Ahnung, was sie falsch gemacht hatte. Auntie Para Lee hatte einen dicken Babybauch, und alle waren ganz aufgeregt, wenn sich da drin was bewegte. Sie strichen darüber und machten »Coochie Coo«, während Para Lee fett, vergnügt und kichernd dasaß.
Als Rae Para Lees Neugeborenes zum ersten Mal sah, hielt sie es zunächst für eine Puppe. Beim Schlafengehen am selben Abend musste sie daran denken, wie das Baby ihren kleinen Finger umklammert hatte und wie sein Kopf gerochen hatte, als sie daran geschnüffelt hatte. Rae wollte ein Baby. Das wusste sie von Anfang an. Das Bedürfnis wurde sogar noch stärker, nachdem Rae die Adoptionspapiere gefunden und erstmals begriffen hatte, dass alle Zweige auf allen Stammbäumen, die sie im Laufe der Jahre für Schulprojekte gebastelt hatte, so fake waren wie die Ahornblätter, die sie sorgsam aus grünem Karton ausgeschnitten hatte. Egal, wie unterschiedlich sie sie gestaltete, die Namen der Leute, waren nur dem Namen nach und per amtlichem Erlass Verwandte. Sie wollte auch etwas, das wirklich zu ihr gehörte. Sie liebte ihre Eltern, ihren Bruder, doch sie wünschte sich einen echten Zweig mit eigenen Wurzeln. Ihre Gebärmutter würde der Boden, ihre Glückseligkeit und ihr Wunsch der Dünger sein, damit ihr eigener Stammbaum blühen konnte.
Doch jetzt war dieses Baby, von dem sie geträumt hatte, seit sie selbst beinah noch ein Baby war, im Anmarsch. Nur noch Augenblicke von seinem ersten Atemzug entfernt. – Und nichts war in Ordnung. Rae lag mit gespreizten Beinen in einem Krankenhausbett. Ein Raum voller fremder Menschen starrte auf ihre Genitalien, drückte auf ihren Bauch, ihre Arme und ihre Vagina, während ein komplettes menschliches Wesen sich den Weg aus ihrem Körper herauskämpfte. Daran war kein Gramm Freude. Typisch Rae, hatte sie jedes Buch zum Thema »Wie bekomme ich ein Baby?« gelesen, das ihr in die Finger kam, um sich vorzubereiten. Sie hatte auswendig gelernt, überlegt, geübt und sich auf jede Sekunde davon vorbereitet, was da kommen würde. Braxton-Hicks-Kontraktionen. Geplatzte Fruchtwasserblase. Eine fertig gepackte Tasche fürs Krankenhaus. Sie hatte einen Plan fürs Krankenhaus parat und sich die Geburtsstation angesehen. Mit jeder Ärztin und jedem Arzt ihrer gynäkologischen Praxis gesprochen. Verstanden, dass es wichtig war, diese Pillen zu schlucken, auch wenn sie so groß waren, als wären sie für Pferde gedacht. Sie wusste, was passieren würde, wenn das Baby auf dem Weg nach draußen war – der Schmerz, das Pressen, die Kacke, der Ring of Fire, der Dammriss, die Plazenta, das Kolostrum, das Bonding durch Hautkontakt, die Blutung und Unbeweglichkeit, nachdem alles passiert ist, alles, was richtig und alles, was falsch laufen kann. Aber keine von diesen Bitches hatte ein Wort darüber verloren, was zu tun ist, wenn dein Daddy, dein Held, seine Ehefrau betrogen, eine komplette Zweitfamilie gegründet und ernährt hat, und dann stirbt, als er versucht, zu der Frau zu reisen, die sich bis auf ihre verdammten Knochen aufgearbeitet hat, um ihn zu versorgen und zu lieben, nur um sich am Ende das Herz von ihm brechen zu lassen.
Rae konnte keine Freude empfinden, weil sie so wütend war. Sie fühlte sich belogen. All die Dinge, die LoLo verlangt und eingefordert hatte, damit sie die perfekte Frau würde – lauter Bullshit. Bullshit. Schreib gute Noten, lass keinen an dich ran, besuch ein gutes College, mach Karriere, heirate einen Mann, der so gut ist wie dein Daddy, krieg ein paar Kinder und sei eine gute Ehefrau, Mutter und Hausfrau. Darauf hatte LoLo Rae gedrillt. In Worten und Taten hatte sie ihr eingebläut, was nötig war, um die Tugendhafte, die Erfolgreiche zu sein, diejenige, die ausgewählt und versorgt würde. Damit sie es über die Ziellinie schaffte. Und wie hatte das für ihre Mama funktioniert? Sie hatte sich komplett aufgeopfert, um ihre Kinder großzuziehen, den Haushalt zu führen, zu kochen, zu putzen und zu waschen. Sogar Tommys dreckige Unterhosen waren ihr nahezu heilig gewesen. Und jetzt lag ihr Mann sechs Fuß unter der Erde, und alles, was ihre Mutter für ihre Mühe bekommen hatte, war Demütigung. Ist es das?, fragte sich Rae, wenn sie mit ihren Gedanken allein war. Ist das der Preis für die Zuneigung eines Mannes? Sogar für die eines guten?
Rae klammerte sich an die Seiten des Krankenhausbetts und schrie. Es war ein äußerst exquisiter Schmerz – das Pressen eines Menschen durch eine winzige Öffnung am Ende ihres Schoßes. Sie versuchte, ihre Gedanken auf das Baby zu richten, darauf, wie sein Gesicht aussehen würde. Nicht auf das ihres Vaters, als er im Sarg lag, das Haar fettig und platt von all dem Afro Sheen, das der Bestatter auf seinen dünnen, unregelmäßigen Afro geschmiert hatte. Nichts davon, was Rae monatelang in Lamaze-Kursen gelernt hatte – das Anlehnen an Romans Brust und schweres Atmen durch eingebildete Wehen –, ergab irgendwelchen Sinn. Es war wie das lässige Ausreißen der Fußnägel aus dem Nagelbett oder ein langsamer Walzer auf weißglühenden Kohlen, und dann waren da Wehen und Trauer – all das machte keinen Unterschied. Als die nächste Wehe einsetzte, spürte Rae tatsächlich ihre Füße und Knie nicht mehr. »O Gott, o Gott, o Gott!«, brüllte sie, und die Worte stockten in ihrer Kehle, auf ihrer Zunge.
»Lassen Sie das Geschrei!«, sagte die Krankenschwester schroff. »Das bringt das Baby kein bisschen schneller raus. Konzentrieren Sie sich aufs Atmen und Pressen, wenn wir es Ihnen sagen.«
»Ich … kann … nicht … anders … der … Scheiß … tut … so … weh!«, knurrte Rae zurück, während sie sich vor Schmerzen krümmte.
»Baby, Baby«, sagte Roman, beugte sich vor und strich mit den Händen über Raes Braids, die von all dem Schweiß an der Kopfhaut aufgequollen waren. »Sie versucht nur, dir zu helfen. Komm schon, atme mit mir«, fügte er hinzu und griff nach Raes Hand. »Du schaffst das.«
Darauf konnte Rae sich bei ihrem Mann verlassen – auf eine unerschütterliche Hingabe, um seine Frau in dem Glauben zu stärken, dass sie der Star jeder Story war und dass, so einfach wie die Sonne jeden Morgen aufging, auch sie aufsteigen konnte. Für eine Frau, die darauf programmiert war, jeden ihrer Gedanken, jede Entscheidung in Zweifel zu ziehen, waren solche Sachen wichtig. Roman war der Muskel, der diese Ventile schloss. Mit so einfachen Sätzen wie »Hör nicht auf die, du liegst da richtig« und »Die wünschen sich, sie könnten, wozu du imstande bist«. Das erinnerte seine Frau daran, dass sie nicht die Würdelosigkeit eines Ellbogens im Rückgrat ihrer Tatkraft erleiden musste. Daran, dass ein hochgerecktes Kinn und gerade Schultern die Haltung einer Soldatin waren. »Du bist meine Soldatin«, pflegte er zu sagen. »Du marschierst da durch.« Dafür liebte sie ihn. Dafür liebte sie sich selbst.
Roman stieß drei übertriebene Atemzüge durch seine gespitzten dicken Lippen aus, danach einen lang gezogenen vierten durch die Zähne. Rae nickte und wiederholte das Atemmuster. »Genau so. That’s my girl.«
Rae musterte sein Gesicht, als er sich zu ihren gespreizten Beinen beugte und unter das Laken spähte, das über ihre Knie gebreitet war. Sie merkte ihm an, dass er sich um eine neutrale Miene bemühte, als würde ihn das, was er da sah, nicht bekümmern. Allerdings war Roman ein miserabler Schauspieler. Sorge, Furcht, Misstrauen, Wut, all diese Emotionen standen ihm ins Gesicht geschrieben, egal welche Worte aus seinem Mund kommen würden.
»Was?«, sagte Rae und atmete schwer, als eine weitere Wehe ihr Crescendo aus Schmerz am unteren Ende ihres pulsierenden Bauchs begann.
Roman täuschte ein Gähnen vor. Ein weiteres verräterisches Anzeichen dafür, dass, was auch immer er jetzt sagte, gelogen wäre. So viel hatte sie in den zwei Jahren Ehe und drei Jahren Zusammenleben gelernt. »Nichts«, behauptete er. »Es ist nichts. Alles ist gut. Alles ist bestens. Alles wird gutgehen.«
Aber das stimmte nicht. Abgesehen vom Tod ihres Vaters und davon, dass sein Betrug aufgeflogen war, gab es da noch die Sache, dass Roman keinen Job hatte und keinen suchte. Von Beruf war er Korrektor, aber er hielt sich für einen Schriftsteller. Das war ein Traum, den er von Kindheit an beschworen und gefördert hatte. Sogar schon, als er noch geglaubt hatte, für die Arbeit in einem Verlag würden Durchschlagpapier, ein paar Kugelschreiber und ein Tacker genügen. Vor ihrer Herzattacke hatte LoLo die Frage gestellt, ob sein Verständnis seither überhaupt gewachsen war. Denn er hatte seinen Brotberuf als Korrektor bei einer im ganzen Land erscheinenden Zeitschrift gekündigt, als Rae schon im sechsten Monat war. Und zwar mit der Begründung, er verspüre keine »Leidenschaft« mehr für seinen Job, wie er es formulierte. Und er könne es sich leisten, dem nachzugehen, was seiner Seele Flügel verlieh, weil Rae genug Geld, Urlaubstage und Mutterschaftsurlaub gespart hatte, sodass die beiden ein Jahr lang bequem davon leben konnten. In LoLos Augen war diese Begründung alles andere als vernünftig. »Was meinst du mit, er hat gekündigt?«, hatte sie Rae quasi angeschrien, als die ihr die Neuigkeit am Telefon mitteilte. Das war nur einen Tag nach einem Besuch im Haus ihrer Eltern. Eigentlich hatte sie da die entsprechenden Pläne verkünden sollen. Doch weil sie schon wusste, wie ihre Mutter reagieren würde, hatte sie sich zu sehr geschämt, um sie zu erwähnen.
»Er will Autor sein, Mommy. So ist er nicht glücklich.«
Und das stimmte zumindest. An ungezählten Morgen war Rae vom schrillen Ton ihres Weckers aufgewacht, der sie aus dem Tiefschlaf riss. Und wenn sie sich dann den Schlaf aus den Augen rieb und langsam scharf sehen konnte, drehte sie den Kopf zur Seite. Da erblickte sie Roman, der sich zwei Kissen in den Rücken gestopft hatte, weil ihr Bett kein Kopfteil hatte. Um ihn herum auf der Matratze und auf seinem Nachttisch lagen bedruckte Seiten und Notizbücher ausgebreitet. Sein Traum, seine Leidenschaft, marschierten in Form von Druckertinte und handgeschriebenen Notizen über die Seiten. An dem Morgen, als er sich für sich selbst und gegen seine Familie entschied, streckte Rae ihre Glieder und gähnte aus vollem Herzen, während sie ihren Mann begrüßte. »Hey du«, flüsterte sie, um seine Konzentration nicht zu stören. Instinktiv tastete sie nach ihrem Bauch. »Guten Morgen, Kleines«, sagte sie und streichelte ihr ungeborenes Kind zur Begrüßung sanft durch ihre Bauchdecke.
»Hey, Babe«, sagte Roman mit einem halben Lächeln und warf nur einen flüchtigen Blick in Raes Richtung. Er bemühte sich, seine letzten Gedanken noch zu Papier zu bringen, bevor er die Blätter wie einen Stapel Spielkarten auf seinem Schoß zusammenschieben und beiseitelegen müsste, bis die Geschichte ihn das nächste Mal aus dem Schlaf reißen würde.
Erst nachdem er seine Arbeit behutsam auf dem Nachttisch platziert und ihr seinen schlanken, aber muskulösen Rumpf zugewandt hatte, sagte Rae mehr.
»Wie du das noch einschiebst. Während der Rest von uns sein Leben verschläft, bist du schon mit den Hühnern auf und fütterst die Tiere.«
Roman lachte. »Früher Vogel fängt den Wurm, oder so«, sagte er und schloss Rae in seine Arme.
»Ich bin wirklich stolz auf dich. Dass du deinen Traum verfolgst. Es gibt ja eine Menge Leute, die erzählen, sie wollen Bücher schreiben, aber sieh dich an, du machst es tatsächlich. Steckst da Arbeit rein.«
Roman drückte Rae fester. »Yeah, ich schätze schon«, sagte er und drückte sein Gesicht in ihre Halsbeuge. So saßen sie in ihrer Zweisamkeit und lauschten auf die Geräusche Brooklyns, das gähnend zum Leben erwachte. Die Müllmänner knallten leere Tonnen auf den Bordstein, während der riesige Truck quietschend den Block entlangrollte.
»Was meinst du mit ›ich schätze schon‹? Du tust es doch. Punktum.«
Roman drückte sie weiter. »Ich wünschte nur, ich hätte mehr Zeit, um es wirklich ernsthaft zu betreiben, verstehst du? Eine Stunde hier, zwei oder drei da, das bringt mich nicht wirklich weiter, um die Arbeit zu produzieren, die ich brauche, um veröffentlicht zu werden. Ich meine, dieser Job …«
Roman zögerte und schmiegte sein Gesicht noch etwas dichter an Raes Hals.
»Was?«, fragte Rae.
»Diese Stelle«, fing Roman an und verstummte dann wieder. Rae konnte an ihrem Rücken spüren, wie sein Herz schneller schlug. »Das ist so deprimierend, Babe. Die weißen Typen, die steigen kontinuierlich auf, während ich immer noch am selben Schreibtisch hocke, Tippfehler unterringele und sie an das Oxford-Komma erinnere, als wäre das der Anfang und das Ende meiner Schreibkarriere. Und die tummeln sich da draußen und kriegen all den Applaus für Stories, die bestenfalls mittelmäßig sind, verstehst du? Brett Van hat gestern einen Buchvertrag bekommen, auf Basis einer Story, die er vor ein paar Monaten in der Zeitschrift veröffentlicht hat. Ich hab diese Story als Entwurf gesehen. Er ist nicht gut. Aber hier ist er und lebt einfach meinen Traum.«
Rae umfasste ihren Bauch – und schluckte ihren ersten Gedanken wieder hinunter. Das war eine andere Version derselben Geschichte, die er ihr in letzter Zeit zu erzählen begonnen hatte. Der Dreh- und Angelpunkt. Schon ganz zu Anfang hatte er ihr erklärt, sie sei sein Traum – dass Kinder mit ihr zu bekommen und sich ein gemeinsames Leben aufzubauen, das Einzige wäre, was für ihn zählte. Das sollte die Quelle seiner Zufriedenheit und damit auch ihrer sein. Sich ein gemütliches Nest machen und die Arme weit ausbreiten, um neues Leben willkommen zu heißen. Ihre Familie. Doch nach sechs Monaten ihrer Schwangerschaft kam es Rae so vor, als würde Rastlosigkeit die Traumlandschaft verändern, nach der sie beide sich gesehnt hatten. Stolz und Neid waren breite, schlampige schwarze Fahrer auf ihrem süßen, schlichten Himmel. Aber machen wir dich denn nicht glücklich?, wollte sie eigentlich zu ihm sagen. Sind wir nicht dein Traum? Doch solche Dinge würde sie nie laut aussprechen. Besser runterschlucken, als die Ambitionen eines Mannes ausdämpfen. Das wurde von ihr erwartet. Das kannte sie. Es war die Pawlowsche Reaktion, die von jeder Schwarzen Frau verlangt wurde, die ihren Frieden haben wollte – und ihren Mann behalten.
»Ich habe überlegt«, fuhr Roman fort. »Was, wenn ich die Stelle aufgeben und, weißt du, mich auf dieses Buch konzentrieren würde?«
Rae rückte sich zurecht und löste sich ein klein wenig aus der Umarmung ihres Mannes, beugte sich etwas mehr über ihren Bauch. Den sie streichelte. »Wie meinst du das? Die Stelle aufgeben? Also kündigen?«
»Yeah«, sagte Roman nickend und zog das Wort mehrere Silben lang. »Wir haben doch genug Erspartes für uns beide, um unabhängig zu sein, wenn das Baby da ist. Ich könnte diese Zeit nutzen, um mein Buch fertig zu schreiben. Und bis du wieder zurück zur Arbeit musst, kann ich einen fetten Buchvertrag in den Topf tun. Einen neuen Korrektorenjob kann ich immer finden. Aber das könnte die eine Chance sein, damit diese Sache mit dem Bücherschreiben funktioniert. Kapierst du?«
Rae zögerte. »Mh, äh, ja. Ich schätze, das kö … das könnte funktionieren«, sagte sie. Ihr Gefühl bei der Sache war genauso unsicher, wie ihre gestotterte Antwort klang. Roman bemerkte es nicht. Er bemerkte eine Menge Dinge nicht. Sein Ehrgeiz, den sie zu Anfang so an ihm geliebt hatte. Und den sie mit den Schwielen verglichen hatte, die an den Handflächen ihres eigenen Daddys den Beweis lebenslanger harter Arbeit geliefert hatten. Dieser Ehrgeiz entwickelte sich zu einem Albatros, einem Mühlstein um Romans Hals. Und auch um ihren. Denn sie sollte noch feststellen, dass dieser Ehrgeiz der prägende Ursprung seines Wesens war. Mit der Zeit war das alles, was eine Rolle zu spielen schien. Nicht Rae, nicht das Baby, sondern sein Glück und seine Zufriedenheit.
LoLo hatte das von Anfang an kommen sehen. Und jetzt stand ihre Tochter da, im sechsten Monat schwanger und mit einem nichtsnutzigen Ehemann, der sich anschickte, ein Schnorrer auf der Couch ihres Babygirls zu werden. Weil die Arbeit seine Gefühle verletzte. »Ja, Shit, wer sagt, dass man glücklich sein muss, wenn man seinen Lebensunterhalt verdient?«, hatte sie erwidert, als Rae ihr von seinem Plan, ein Buch zu schreiben, erzählte. »Was denkt er denn? Dass ihm jeden Tag eine Parade zusteht, wenn er zur Arbeit erscheint? Welcher Mann kündigt denn seinen Job, wenn seine Frau schwanger ist? Und du lässt das einfach so zu? Ich kann nicht glauben …«
Rae hatte den Hörer vom Ohr genommen und ihn gegen ihre geschwollenen, empfindlichen Brüste gepresst. Sie hatte gewusst, dass ihre Mutter so auf die Neuigkeit reagieren würde, denn sie war eine Pedantin, wenn es um die Verantwortung eines Mannes für seine Familie ging. LoLo war zutiefst überzeugt davon, dass wenn irgendwer in einem Haus dafür zuständig war, regelmäßig Geld zu verdienen, es der Mann war. Und tief in ihrem Inneren dachte Rae genauso. Aber sie brauchte keine Predigt. Rae musste sich konzentrieren. Sie musste überlegen, wie sie es hinkriegte, einen Job zu machen, für den sie im Büro sein musste, manchmal auch gute zehn Stunden, während sie ihren Körper und ihr Zuhause auf ein Baby vorbereitete. All das mit einem Mann – einem Schwarzen Mann –, der ihre Unterstützung und Ermutigung brauchte, nicht ihre Skepsis. Obwohl sie ihre eigenen Zweifel und Ängste mit dem Sonntagsessen in sich hineinfuttern musste, damit ihre Ehe und diese Familie, nach der sie sich so sehnte, überhaupt funktionierte.
»Okay, Ma … Mommy … Mama. Ich muss Schluss machen, ich muss wieder an die Arbeit«, hatte Rae LoLos Tirade unterbrochen. »Ich werde heute Abend versuchen, dich noch mal anzurufen, wenn ich zu Hause bin. Falls es nicht zu spät wird«, fügte sie noch hinzu. Obwohl sie ganz genau wusste, dass sie nicht die Absicht hatte, das zu tun. Alles würde gutgehen, redete sie sich ein.
Roman gähnte wieder, nachdem er noch einen Blick riskiert hatte. »Wow, das ist, ähm, puh.« Er drehte sich mit dem ganzen Körper weg von der Show zwischen Raes Beinen und drückte ihre Hand noch ein bisschen fester. »Alles ist okay. Ähm, es ist okay.«
»Was? Was stimmt nicht?«, fragte Rae, alarmiert von Romans Gesichtsausdruck.
»Kommen Sie, konzentrieren Sie sich«, sagte die Schwester und drückte Raes Schulter.
»Was stimmt denn nicht? Ist … ist irgendwas mit dem Baby?«, fragte Rae zwischen zwei keuchenden Atemzügen. Und ihre Stimme wurde immer höher, je mehr sie sich aufregte.
»Alles gut«, sagte Dr. Hazel leise, als sie zwischen Raes Beinen wieder auftauchte. »Das Köpfchen des Babys kommt schon durch. Also sehen Sie mich an.«
Rae drückte Romans Hand, fixierte aber ihre Ärztin.
»Erinnern Sie sich daran, was wir über den Ring of Fire besprochen haben?«
Rae nickte.
»Das Brennen, das Sie gerade spüren. Das ist es.«
Rae versuchte, sich die Tränen zu verbeißen, aber es funktionierte nicht. Ihr ganzer Körper fühlte sich an, als würde er in Stücke gerissen. Sie konnte kaum irgendetwas hören, viel weniger sich auf die Worte aus Dr. Hazels Mund konzentrieren.
»Hören Sie mir zu. Pressen Sie nicht, verstanden? Lassen Sie Ihren Uterus seinen Job machen. Ich werde Ihren Damm massieren, damit das Brennen nachlässt, das Sie gerade spüren, okay? Und wenn die Wehe kommt, dann müssen Sie durch sie hindurch atmen, aber lassen Sie Ihren Körper die Arbeit machen. Pressen Sie nicht.«
So vergingen die nächsten zwanzig Minuten: Rae atmete und weinte, Roman schaute weg und die Schwester mahnte alle zur Ruhe – bis die Ärztin das hübsche kleine Baby auffing. Sie wischte ihm das Blut und die dicke weiße Schmiere von seinem zerknautschten, verquollenen Gesichtchen und den wuscheligen Locken. Anschließend wurde es in eine Ecke getragen, um angestupst, gewogen und gemessen zu werden, bevor es endlich sicher in die Arme seiner Mutter gelegt wurde. Rae starrte das kleine Wesen so geschockt wie ehrfürchtig an. Ihre Furcht war ebenso groß wie ihre Liebe. Sofort war da Hingabe für dieses Kind.
»Hi, little baby«, sagte sie und hatte vor lauter Tränen Mühe, die Worte herauszubringen. »Hi, Skye.«
»Skye?«, fragte die Schwester und kritzelte den Namen auf ein Blatt Papier, das in einem Klemmbrett steckte. »Wie schreiben wir das?«
»S-K-Y-E Tommie, mit ›ie‹«, sagte Roman und drückte Raes Schulter, während er die Vornamen buchstabierte.
»Der zweite Name – das war der Name meines Dads«, sagte Rae. Und diesmal konnte sie ihr Schluchzen nicht unterdrücken. »Er ist vor Kurzem gestorben.«
Die Krankenschwester balancierte den Stift auf dem Klemmbrett und tätschelte Raes anderen Arm. »Er ist immer noch da, Baby«, sagte sie. Dann gab sie Rae ein kleines Blatt Papier mit Skyes Maßen und Gewicht, die unter Abdrücke von ihren Händchen und Füßchen geschrieben waren. »Glauben Sie daran, auch wenn Sie sonst nichts glauben, ja?«
Rae starrte auf die feinen Linien der Abdrücke, die sich in perfekten Mustern kringelten und so wenig Platz auf der Seite einnahmen, in ihren Augen aber so wichtig waren. Dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit der kleinen Skye, ihren Wangen, ihrer Nase und den gespitzten Lippen, als sie den Kopf zu Raes Brust drehte und nach der Brustwarze suchte. Sie war so hell – kein bisschen so wie Raes dunkelbrauner Teint. Und nach den Spitzen ihrer Ohren zu schließen, würde sie auch nicht viel dunkler werden. Ein paar Schattierungen vielleicht. Aber bestimmt nicht so wie ihre Mama. Rae wünschte sich, dass sie die Augen öffnete – sie anschaute. Damit sie selbst sehen und sich davon überzeugen konnte, dass dies ihr Kind war – dass ihr Beautiful Blood, ihr wunderschönes Blut, auch aussah wie sie selbst. Damit die Welt, wenn sie Skye ansah, auch ein Spiegelbild Raes sah und wusste, dass sie das vollbracht hatte und dass sie auf dieser Erde nicht ganz allein war.
Neue Tränen stiegen ihr in die Augen.
»Ist ja gut, Babe«, sagte Roman und beugte sich herab, um seine beiden Girls auf die Stirn zu küssen. »Sie ist da. Du hast das so gut gemacht, und unsere Tochter ist da.«
Rae streichelte die Wange ihres Babys und wünschte sich, ihre Mutter und ihr Vater wären da, um das Gleiche zu tun.
***
»Entschuldigung, Schwester? Entschuldigen Sie!«, rief Rae der Frau nach, die ständig in diesen Raum rein- und wieder rauslief, der Rae wie eine Art Pferch für frischgebackene Mütter vorkam. Es handelte sich um ein Zimmer mit zehn Betten, alle belegt von Schwarzen Frauen und Latinas in unterschiedlichen Phasen nach der Entbindung. Manche hielten ihre Neugeborenen in den Armen, andere versuchten zu schlafen, mit einer Hand auf den winzigen Kunststoffbettchen, die an ihren Betten befestigt waren. Wieder andere warteten, eben angekommen, darauf, dass man ihnen ihre Kinder zurückbrachte. Eine Frau saß in dem Bett gleich am Fenster. Mit leeren Händen wischte sie sich immer wieder wütend die Tränen ab, während sie aus dem Fenster blickte und nur gelegentlich einen flüchtigen Blick auf die anderen Frauen mit ihren Kindern warf. Die Wände waren schmutzig gelb und babyblaue, bodenlange Vorhänge grenzten jeweils einen kleinen Bereich für die Frauen ab. Große Blumensticker in verschiedenen Größen waren willkürlich an die Wände geklebt. Ein paar große, ramponierte Poster verkündeten in fetten Lettern »Liebe soll nicht wehtun« und gaben Empfehlungen zu Hilfe bei häuslicher Gewalt. Die Gesamtstimmung war gedrückt, als wäre Freude nur ein Nebenaspekt und nicht der Mittelpunkt.
Das war nicht Teil von Raes Geburtsplan gewesen. Sie hatte die Geburtsstation vorab zweimal besucht – einmal mit Dr. Hazel, als sie erst im vierten Monat war, und ein zweites Mal im sechsten, als sie auch einen Vertrag und einen Scheck unterschrieben hatte. Beides sollte ihr ein Privatzimmer und ein besonderes Abendessen garantieren, mit dem sie und Roman ihre neue Familie feiern wollten. »Und meine Eltern werden mich auch besuchen können, ja? Ohne Einschränkungen?«, hatte Rae gefragt.
»Ja, ja«, hatte die zuständige Mitarbeiterin des Krankenhauses ihr versichert. »In Privatzimmern sind Gäste bis 22 Uhr erlaubt. Das ist eine der besten Besonderheiten, abgesehen vom Dinner mit Hummer und Champagner. Das gibt’s auf der Normalstation alles nicht.«
»Na dann, melden Sie mich dafür an!«, hatte Rae begeistert geantwortet.
Rae gab sich alle Mühe, die anderen Frauen nicht anzustarren und schaute stattdessen auf ihre Füße, die immer noch wie fette Würste aussahen. Sie versuchte alles, um sich davon abzulenken, dass sie ihr Baby nicht in den Armen hielt.
»Entschuldigung!«, rief sie noch mal.
Endlich schaute die Schwester, auf dem Weg aus dem Zimmer und eigentlich in ihr Klemmbrett vertieft, in Raes und Romans Richtung. Ihre Augen wurden schmal. »Er darf hier nicht sein«, erklärte sie knapp und deutete mit dem Kinn auf Roman.
»Ich …«, hatte Rae angesetzt, die eigentlich fragen wollte, wo ihr Kind war, aber von der Äußerung der Schwester wie vor den Kopf gestoßen war. »Was meinen Sie damit?«
»Er darf nicht hier sein. Nur Blutsverwandte der Mutter oder des Kinds sind auf der Normalstation erlaubt. Er muss gehen.«
Rae versuchte, durch den Nebel ihrer Erschöpfung zu begreifen, wovon die Frau da sprach. Worauf sie hinauswollte. »Er ist mein Ehemann«, erwiderte sie schlicht. »Können Sie mir sagen, wann ich mein Baby zurückbekomme? Und wann wir in das Privatzimmer verlegt werden?«
»Ha«, machte die Schwester, sah Rae, dann Roman und am Schluss wieder Rae an. Da betrat eine zweite Schwester den Raum und bemerkte die Haltung der ersten. Sie kam näher, um selbst zu sehen, was für ein Theater es heute im von ihnen sogenannten Krankensaal gab. Ohne ihre Kollegin anzusehen oder sich darum zu kümmern, ob die Frau, über die sie sich abfällig äußerte, das mithörte, sagte sie: »Die behauptet, das wäre ihr Ehemann.« Ihre Stimme klang eine Spur belustigt und ungläubig.
»Ehemann?«, wiederholte die zweite Schwester. »Seid ihr verheiratet?«, fragte sie Rae, ohne Roman dabei anzusehen.
Rae sah gute zehn Jahre jünger aus als ihre dreißig. Vor allem mit den feinen, schulterlangen Braids, die unter Jugendlichen gerade beliebt waren und denen Leute wie Janet Jackson und Brandy ihr glamouröses, aber jugendliches Aussehen verdankten. Aber abgesehen davon, wie alt sie gerade wirkte, hätte der strahlende Diamant an ihrem Ringfinger und ihre Äußerung »Hey, er ist mein Ehemann«, genügen müssen, um klarzustellen, dass sie nicht irgendein junges Mädchen war, das ein Baby nach dem anderen kriegte und sich nicht an Regeln hielt.
»Das ist mein Ehemann!«, wiederholte Rae, diesmal eine Oktave höher und ein paar Dezibel lauter, als es für einen Raum voller erschöpfter junger Mütter und Neugeborener angebracht gewesen wäre. Roman drückte ihren Arm.
»Äh, ich glaube, was sie sagen möchte, ist, dass wir schon ein Weilchen darauf warten, unser Baby wiederzusehen, und dass wir uns fragen, ob es vielleicht schon auf dem Privatzimmer ist, für das wir bezahlt haben?«
Die Krankenschwestern sahen sich noch zweifelnder an. »Ihr habt für ein Privatzimmer bezahlt? Das habe ich auf Ihrer Patientenakte nirgends gesehen.«
»Ich – ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich habe das schon vor ein paar Monaten bezahlt. Wenn Sie die brauchen, habe ich die Unterlagen in meiner Tasche.« Und an Roman gewandt: »Babe, kannst du die Mappe aus meiner Tasche nehmen?« Dann wieder zur Schwester: »Ich möchte einfach nur mein Baby zurück und mich eingewöhnen, das ist alles.«
Die zweite Schwester warf einen Blick auf die Unterlagen, die Roman ihr gegeben hatte, und verließ schweigend den Raum. Kurze Zeit später kam sie mit Skye zurück. Rae war nicht bewusst gewesen, dass sie quasi die Luft angehalten hatte. Sie atmete erst richtig auf, als sie ihr Baby wieder in den Armen hielt. Sie drückte Küsse auf Skyes Stirn, beide Wangen, ihre Lippen und die winzigen Finger, die ihre umklammerten. Seufzend betrachtete sie sie genau. Das Gesicht war jetzt nicht mehr so aufgequollen wie direkt nach der Geburt, und endlich hatte sie die Augen geöffnet. Die waren rund und schwarz – und riesig. Erst drei Stunden alt und schon der Mittelpunkt des Universums und all seiner Sterne. Skye sah aus wie ein neuer kleiner Mensch, mit diesen langen, dünnen Armen und entsprechend mageren Beinchen. Rae hielt ihre Hand an die Füßchen. Sie waren nur so lang wie ihr kleiner Finger. Das brachte sie zum Kichern, bis sie es entdeckte.
»Was ist das für eine Einstichstelle an ihrem Fuß?«, fragte Rae und hielt den Fuß ihres Babys näher an ihr Gesicht. Ein Blutstropfen hatte sich unter der Haut an Skyes linkem Fuß gesammelt.
Die Schwester, die noch in den Unterlagen und Quittungen herumblätterte, die Roman ihr ausgehändigt hatte, schaute nur beiläufig kurz auf. »Ach, das ist nichts.«
»Was – was meinen Sie mit nichts? Ich verstehe das nicht. Warum wurde ihr in den Fuß gestochen?«
Die zweite Schwester, die gerade eine Decke in das Gitterbett legte, in dem Skye hereingerollt worden war, hob auch kaum den Kopf. »Das ist vom Drogentest«, sagte sie.
»Was?«, riefen Roman und Rae wie aus einem Mund.
»Ach, das ist nichts. Der ist stichprobenartig angeordnet. Wir brauchen nur eine kleine Menge Blut, um sicherzugehen, dass das Baby keine Drogen im Körper hat, für den Fall, dass die Mutter welche nimmt. Damit wir das Baby entsprechend behandeln können.«
»Wie kommen Sie denn darauf, dass ich Drogen nehmen könnte?«, fragte Rae mit vor Entsetzen verdüsterter Miene.
»Hören Sie, das passiert nach dem Zufallsprinzip, okay? Das ist alles. Wir können doch nicht wissen, wer von denen hier vielleicht Drogen nimmt und wer nicht. Da geht’s um die Babys, nicht um Ihre Gefühle«, meinte die erste Krankenschwester schnippisch. »Ich sehe jetzt, dass Ihre Papiere in Ordnung sind. Wenn Sie keine weiteren Fragen haben, gehe ich mal zusehen, dass das Zimmer fertig ist, damit wir Sie dahin verlegen können.«
»Und schauen Sie auch nach dem Abendessen?«, fragte Roman. »Hier ist jemand am Verhungern.«
Die Krankenschwestern sahen einander an und gingen ohne ein weiteres Wort. Als ob Roman gar nicht da wäre und sie seine Worte überhört hätten.
»Das – das glaube ich alles nicht«, sagte Rae.
»Vergiss es«, empfahl Roman ihr. »Ich versteh dich, aber vergiss es.«
»Was gibt denen denn das Recht, so zu sein?«, beharrte Rae. »Wie kann das okay sein? Wie kann irgendwas davon okay sein?«
Rae hielt ihr Kind fest an sich gepresst – ihre Brust an Skyes gepresst, sodass sie ihren Herzschlag spüren konnte. Sie hatte Angst und war wütend. Sie kam sich klein vor. Machtlos. Wissentlich und bewusst würde sie dieses Baby nicht noch einmal aus der Hand geben, nachdem das Krankenhaus sich dazu verschworen hatte, auf ihrem Baby, ihrer Familie herumzutrampeln und sie abzustempeln. Von Anfang an. Sogar in ihrem Privatzimmer hielt Rae ihr Baby fest im Arm, obwohl es da keine neugierigen Blicke oder ausdruckslosen Gesichter mehr gab und die Schwestern sie und ihr Kind vergessen zu haben schienen. Sie kamen nur einmal vorbei, um eine Tüte mit Probepackungen von Milchpulver, Babypuder und einem Stapel Coupons für Babysachen vorbeizubringen, von denen Skyes Zimmer zu Hause in Brooklyn sowieso schon überquoll. Rae sah ihr beim Atmen, Seufzen und Schlafen zu, bis sie selbst die Augen nicht mehr offen halten konnte.
Das ist ein hübsches kleines Baby.
Plötzlich war Tommy da. Er stand vor seinem Kleiderschrank im Haus ihrer Familie und trug einen neuen, eleganten schwarzen Anzug. Neben sich hatte er eine ebenso lässig-elegante schwarze Reisetasche. Er hatte sich zum Reisen immer schick gemacht. Denn er war zutiefst davon überzeugt, dass der Flug mit einem riesigen Vogel durch den Himmel ein Wunder war – ein Luxus, den man der Genialität des Menschen verdankte, zum Vergnügen der Privilegierten, die sich das leisten konnten. Wenn er sein Ticket einem Mitarbeiter der Fluggesellschaft vorlegte und an Bord der Maschine ging, wollte er gesehen werden. Respektiert. Hereingebeten. Und daher zog er sich dem Anlass entsprechend an.
Daddy?
Mir geht’s gut, Baby. Das hast du dich doch gefragt, ja? Mir geht’s gut.
Wo … wo willst du hin?, fragte Rae, und ihr Blick ging von ihrem Vater zu der Reisetasche und wieder zu ihm zurück.
Hier ist es friedlich.
Wo? Daddy, wo bist du?
Ich bin gleich hier. Meine Enkeltochter – sie wird jemand Besonderes werden. So wie du. Gib ihr Zucker und Grütze mit Butter. Nimm du dir auch davon. Du wirst es für deine eigene Reise brauchen, hörst du?
Aber ich verstehe nicht.
Das ist okay. Das wirst du noch. Jetzt fütter das Baby.
Tommy zog die Schiebetüren des Schranks zu und griff nach seiner Tasche. Dann warf er seiner Tochter Kusshände zu. Dabei hielt er seine Hand so, dass die Kussgeräusche besonders laut waren.
Geh nicht, Daddy, bitte. Bitte, Daddy. Bitte geh nicht, Daddy. Komm zurück. Komm zurück! Komm zurück!, sagte Rae wieder und wieder, während ihr Tränen über die Wangen liefen.
Die Küsse ihres Vaters wurden lauter, bis sie ihre Bitten übertönten.
Skye wand sich in ihrem Arm und begann zu wimmern. Schnaufend und quengelnd bewegte sie den Kopf hin und her. Rae spürte zuerst die Bewegung, dann ein Prickeln in ihren Brustwarzen. Aber sie brauchte noch ein paar Sekunden, bis sie die Lippen ihrer Mutter an ihrem Gesicht bemerkte. Die küsste sie immer wieder neben das Ohr. – So hatte sie Rae schon mit Küssen überhäuft, seit sie ein kleines Baby war. Schließlich schlug sie die Augen auf und staunte – darüber, wo sie war, was los war, warum ihr Gesicht so nass war, warum ihre Brustwarzen pulsierten und warum ihre Mutter sie küsste, als wäre sie noch sechs Jahre alt.
Rae fuhr erschrocken zusammen.
»Ganz ruhig, ganz ruhig, du hast ein Baby an Bord«, sagte LoLo leise und legte eine Hand auf den Rücken des Babys, um sie an Raes Brust zu besänftigen. »Sei ganz unbesorgt.«
Rae schüttelte den Kopf, blinzelte und versuchte, sich zusammenzunehmen. Zuerst sah sie ihre Mutter und TJ, dann ihr Baby und schließlich Roman. Der saß noch an derselben Stelle wie ein paar Stunden zuvor, als sie endlich vor Aufregung, Anstrengung und Sorge eingeschlafen war. Langsam kam ihr alles wieder zu Bewusstsein. Sie war jetzt die Mama von jemand. Und ihre Mama war da. Aber ihr Daddy war fort. Die verschiedenen Kräfte in ihrem Herzen ließen Raes Schläfen pulsieren – als würde alles in ihrem Inneren zerbrechen.
Skye weinte, und Rae weinte auch.
»Mommy«, rief sie. Es war das einzige Wort, das sie zwischen ihren Schluchzern herausbrachte.
»Ich bin hier«, sagte LoLo. »Ich bin gleich hier, Kind. Und ich gehe nirgendwohin.«