LoLo war zwölf, als sie das erste Mal beseelt wurde. Gleich dort, wo die gewundene Uferlinie des Windlow River auf den Altwassertümpel traf und das Rascheln der Blätter in der Brise des Südens für die Gläubigen klang, als flüstere Gott ihnen etwas ins Ohr. Pastor Charles und Diakon Claytor hielten LoLo an den Armen und warnten sie, vorsichtig aufzutreten, während sie ins Wasser wateten, das immer kühl blieb, obwohl die Sonne es beschien. Schon viele hatten sich vor ihr die Zehen an den Stümpfen der Zypressen gestoßen. Die waren Jahrzehnte zuvor von einer Sträflingskolonne gefällt worden, um dem Fluss Platz zu machen. Diese Baumreste unter Wasser waren Geister, die unaussprechliche Wahrheiten darüber festhielten, was hier zu Land geschehen war, noch bevor die Barsche sich darin tummelten: unnachgiebig hartherzige und besonders grausame Dinge. Erinnerungen, über die die Alten nicht sprechen wollten. Die guten und rechtschaffenen Gläubigen der Mount Nebo Church of God in Christ of Nazareth waren überzeugt, dass man, in der morgendlichen Stille und wenn man ganz genau lauschte, noch das Klirren der Ketten hörte, mit denen menschliche Körper – die Haut blutig aufgerissen, die Knochen gebrochen, Gliedmaßen zur Strafe für was für einen Affront oder aus welcher Laune heraus abgehackt oder abgesägt – einst an diese Bäume gefesselt waren. Das machte diese spezielle Stelle im Wasser heilig. Zu einem Ort, an dem der Name Gottes einem wie von selbst über die Lippen kam. Wo jenen, die glaubten, selbst in ihrer dunkelsten Stunde Gnade verheißen wurde. An den Tauftagen pflegte die Gemeinde in ihren frischgewaschenen weißen Gewändern am Ufer zu stehen und ihre Blecheimer unter lautem Gesang der Lieder vom Glauben an die Dreieinigkeit aneinanderzuschlagen. Um die Wassermokassinottern zu vertreiben, aber auch um die Geister zum Schweigen zu bringen. CLANG Take me to the water / Take me to the water BANG CLANG. Take me to the water / to be baptized BANG CLANG CLANG.
LoLo hatte sich an den Armen des Reverends und des Diakons festgeklammert. Trotz ihrer Furcht vor den Baumstümpfen, Geistern und sogar den Wasserschlangen wollte LoLo in diesen Fluss – um darin gekreuzigt und begraben zu werden und wiederaufzuerstehen. Um erneuert wieder aufzutauchen. Diakon Claytor hatte in LoLos Unterricht in der Sonntagsschule erklärt, wie all das funktionierte. Und Pastor Charles hatte oft genug darüber gepredigt, sodass LoLo die Bedeutung erkannte und begriff, selbst wenn Bears Zynismus unfassbar war und der Pastor die Vorzüge der Taufe eigentlich nur pries, um neue Mitglieder für seine Gemeinde und letztlich neue Zahler des Kirchenbeitrags zu gewinnen. Mit ihren zwölf Jahren und obwohl sehr erwachsene, sehr weltliche Probleme sie jeden Tag ihres elenden Lebens verfolgten, war LoLo immer noch jung genug, um zu hoffen und um an das Versprechen des Pastors zu glauben, dass ihr Untertauchen in diesem Wasser Dinge verändern könnte und würde. Dass Gott, Jesus und der Heilige Geist sie vom Bösen erlösen und mit Güte und Gnade ihre Hand halten, sie aus der Dunkelheit ins Licht führen würden.
»Es ist alles gut, Delores, wir werden dich nicht ins Wasser fallen lassen«, hatte Pastor Charles gesagt, als er und Diakon Claytor LoLo tiefer in den Fluss führten. Das Wasser schaukelte sie sanft, während sie sich den Händen der Männer anvertraute. Ihr langes, weißes Taufgewand sah aus wie Engelsflügel, die direkt unter der Wasseroberfläche flatterten. Sie schienen LoLo zu bestätigen, warum sie hier war. Nur die Rechtschaffenen / werden Gott schauen. BANG CLANG CLANG. »Vertrau uns«, sagte Diakon Claytor. »Vertrau auf Gott.«
Als sie an ihrer bevorzugten Stelle im Fluss angekommen waren, hoben die Männer LoLo behutsam auf einen der höheren Baumstümpfe unter der Wasseroberfläche – sodass ihr Kopf und ihre Schultern bequem aus dem Wasser ragten. Dann drehten sie sie so, dass sie sehen konnte, wie die Gemeinde singend und sich wiegend den Heiligen Geist herabbeschwor. Da war auch Bear, der seine Eimer zusammenschlug, und Clarette, die Hände zum Gebet erhoben, während sie die höchsten Noten des Chorals sang.
Pastor Charles hob die Hände, und sofort hörten Gesang und Eimerschlagen auf. »Dieses Wasser hat schon viele Sünder gesehen«, begann er.
»Yassuh«, flüsterte Diakon Claytor.
»Viele Seelen, die mit Gott ins Reine kommen mussten«, sagte Pastor Charles und sprach die letzten vier Worte in einem Stakkato.
»Yassuh«, erwiderte der Diakon wieder, aber diesmal lauter.
»Aber wenn du IHM dein Herz offenbarst, dich dem ›Ich-bin-da‹ ergibst«, sagte der Pastor, »dann wirst du, du, du neu werden.«
»New! Yassuh«, sagte Diakon Claytor, und Begeisterung schwang bei seinen knappen Worten mit.
»Du schenkst dem Herrn deinen Körper und deine Seele, und er wird dich segnen, o ja, das wird er!«, rief Pastor Charles.
»Yassuh! Oh, bless His holy name!«
»Tauche rein wie Schnee aus diesem Wasser auf!«
LoLo hatte ins Nichts gestarrt, während der Prediger predigte, und seine Worte aufgenommen, die sich nicht wirklich von dem unterschieden, was er an den meisten Sonntagen sagte. Doch an diesem speziellen Tag, als das Wasser um ihr Gewand wirbelte und ihre Zehen sich in das aufgeweichte Holz pressten, da ließen seine Worte – die Versprechen von Wiedergutmachung und Befreiung – den Schmerz in ihrem Intimbereich verschwinden. Sie ließen sie so leicht wie Luft werden. Verwandelten Bear in ein Lamm, das sie nicht mehr fürchten musste, denn wenn sie in diesem Wasser untertauchte, würde sie wieder neu. Und Gott, ER würde den Ort an ihrer Seite einnehmen, weil sie SEIN Kind war und ER ihr Erlöser, der Allmächtige, Emmanuel, ihr Heiler, ihr Versorger. Ihr Beschützer. Der Pastor sagte es, und so würde es sein. Keine Verletzungen mehr. Kein Schmerz. Keine Schatten und finsteren Winkel. Nur Licht.
»Little sister«, sagte der Pastor und presste seine nasse Hand an LoLos Stirn. »Erkennst du Jesus als deinen Herrn und Retter an?«
»Ja«, flüsterte LoLo und starrte dabei Bear an.
»Erkennst du ihn an als den einen wahren Gott und versprichst du, IHM zu gehorchen bis ans Ende deiner Tage?«
»Ja«, flüsterte LoLo und schloss die Augen, um sich auf das Lamm konzentrieren zu können statt auf Bear.
»Dann sag es dem Herrn, dann – rufe es laut!«, rief der Pastor.
»I love Jesus«, sagte LoLo.
»Oh, das kannst du besser, sag es deinem Erlöser!«
»I love you, Jesus!«, rief LoLo.
»Noch mal! Lass es IHN hören, über die Meere bis nach Jerusalem!«
»I love you, Jesus!«, schrie LoLo wieder und wieder, während eine Brise durch die Blätter fuhr und Gott ihr ins Ohr flüsterte. Zuerst spürte sie das Vibrieren in ihren Zehen. Dann breitete es sich über ihre Beine bis in den Magen aus – es brannte in ihrem Herzen und steckte ihr Inneres in Brand. Sie wiegte sich und tat einen kleinen Sprung – noch einen, höher diesmal, und noch einen. »I love you, Jesus!«, rief sie aus voller Kehle in den Himmel, die Arme zum Hosianna erhoben.
»Lob sei Gott!«, schrie der Pastor, bevor er und Diakon Claytor LoLo noch fester bei den Schultern packten und sie rücklings ins Wasser zogen.
Unter Wasser war der Schmerz fort. Unter Wasser war nichts.
Unter Wasser war LoLo frei.
So blieb ihre Beziehung zur Kirche, wenn sie in ihren besten Sachen, die extra für den Anlass genäht waren, den Mittelgang entlangtrippelte, damenhaft in der Kirchenbank ihre guten Sonntagsschuhe kreuzte, den Prayer Cloth über den Knien, das Tamburin neben sich. Die Fingerspitzen auf der Bibel. Diese Verse, die Gebete – sie waren der Schlüssel zu ihrer Erlösung, als sie noch ein Teenager war und um einen Weg zur Befreiung von Bears Tyrannei kämpfte. Es waren diese frühen Sonntagmorgen, wenn die ganze Stadt, Bear eingeschlossen, sich kollektiv um ihr Seelenheil bemühte, an denen sie sicher war. Dann war er ein Engel – ein Mann Gottes, zu beschäftigt damit, den Rechtschaffenen zu spielen, um Falsches zu tun. Barmherzig sogar. »Das hier ist meine kleine Nichte«, pflegte er den Rechtschaffenen von Mt. Nebo zu erklären. »Armes Ding hatte keinen außer Gott, der auf sie geschaut hätte, bis wir sie gefunden und hergebracht haben. Haben ihr das Leben gerettet. Jetzt bringen wir sie hierher, um ihre Seele zu retten.«
»Amen«, sagten die Leute, salbten LoLo Schultern und Stirn und riefen ihr »Ain’t God Good«.
Suffer the little children. Lasset die Kinder zu mir kommen. Die Kirche konnte LoLo nicht vor Bear oder vor dem Ausschaben retten, aber als sie ungefähr sechzehn war, ordnete der Pastor an, einen Kollekte-Teller kreisen zu lassen. Bear und Clarette hatten den Plan bekanntgegeben, LoLo nach Norden zu schicken, in ein Haus auf Long Island, das der Kirche gehörte und von einer Freundin der Familie geführt wurde. Der Einfachheit halber hatte das Paar verschwiegen, dass Clarette von Bear verlangt hatte, LoLo verdammt noch mal aus dem Haus zu schaffen. Das passierte keine zwei Tage vorher, als sie Bear im Hühnerstall auf LoLo gefunden hatte.
»Warum brauchst du denn so lange, um die Eier zu holen?«, hatte Clarette verärgert gemurmelt, bevor sie selbst zum Hühnerstall geeilt war. Untätig hatte sie vor einer Schüssel mit Mehl und Zucker in der Küche gestanden und auf die fehlende Zutat gewartet. Zu einer Erweckungsfeier am Samstagabend wollte sie einen White Cake beisteuern. Weder Bear noch LoLo hatten sie gehört, als sie durch die Stalltür stürmte. – Er wetzte geschäftig grunzend und schwitzend auf ihr herum, LoLo lag nur mit totem Blick da und dachte an Wasser und Zypressen, in denen Gott flüsterte. Als ihr Verstand begriff, was ihre Augen da sahen, blieb Clarette abrupt stehen und fuhr zurück, als wäre sie gegen eine Mauer geprallt. Ihren Schatten bemerkte LoLo als Erstes. Langsam suchten ihre Augen, bis sie Clarettes fanden. Sie hielten einander in einer Art Ringshout aus Wut, Ekel und tiefer Traurigkeit fest. Nichtsahnend kletterte Bear von seiner kleinen Nichte runter, deren Körper immer noch von der Ausschabung schmerzte und heilen musste. Da brüllte seine Frau: »Entweder du schaffst sie von hier weg, oder ich packe mein Zeug und lass euch beide hier zurück!«
Die Kirche war Ultimatum und Drohung zugleich im Haus von Miss Ella, LoLos erster Station in New York. »Du kommst hier rein und bringst deine Sachen runter in den Keller«, hatte sie gesagt, als sie die Haustür aufmachte und noch bevor LoLo auch nur eine große Zehe über die Schwelle des einstöckigen Hauses mit zwei Schlafzimmern gesetzt hatte, das genauso pedantisch rein und makellos war wie die Frau, die hier das Regiment führte. »Hier wirst du vor Sonnenaufgang aufstehen, deinen Platz in Ordnung halten, deinen Lebensunterhalt verdienen, und der Sonntag ist für den Herrn. Wenn du dich an diese Regeln hältst, werden wir gut miteinander auskommen. Wenn nicht, bricht in der Stadt die Hölle los, verstanden?«
»Yes’m«, erwiderte LoLo rasch. Aber nicht um Miss Ella zu gefallen, sondern weil ihre Forderungen überhaupt keine Forderungen waren. Sie machten es LoLo sogar leicht, der Inbegriff dessen zu sein, was sie damals war. Wonach sie sich verzweifelt gesehnt hatte. Frei zu sein.
***
»Ja, Baby, so macht man das. Beweg den Käse auf der Reibe hin und her, als würdest du ihn schrubben«, wies LoLo Rae freundlich an, während sie kurze Makkaroni in einen großen Topf mit kochendem Wasser schüttete. »Jetzt musst du dich beeilen. Sie werden bald hier sein, und es bleibt uns gerade noch genug Zeit, um die Makkaroni mit dem Käse in den Ofen zu bringen, bevor deine Aunties hier sind.«
LoLo war dankbar dafür, dass Rae ihr half, das Abendessen für Sarah, Para Lee und Cindy vorzubereiten, die zu einem seltenen Besuch nach New Jersey kamen, um LoLo zu sehen. Es war erst der zweite Besuch, seit ihre geliebte Freundin drei Autostunden von ihren Freundinnen, ihrer Wahlheimat, ihrem Job, ihrer Kirche und allem, was ihr außer dem Ehemann und den Kindern wichtig war, weggezogen war. Aber es war tatsächlich sowieso an der Zeit, dass das Mädchen ein paar Grundlagen übers Kochen lernte. – Zumindest fand LoLo das. Zum Teufel, sie selbst hatte Hühnern den Hals umgedreht und Fische ausgenommen, bevor sie ihre Regel bekam. Und sie hatte nicht vor, eine Tochter großzuziehen, die sich in der Küche nicht auskannte. LoLo wischte sich die Hände an einem Küchentuch ab und stellte sich neben Rae, die den Käse zaghafter, als ihre Mutter es gern gesehen hätte, über die Reibe aus Metall schob. »Jetzt komm! Tu nicht, als hättest du Angst, dir den Käse vorzunehmen«, rief sie, sodass Rae erschrak und ein bisschen schneller rieb. »Die Reibe schneidet dich, wenn du Angst davor hast. Denk gar nicht drüber nach, sondern reib einfach.«
Wenig später bewunderten die beiden ihr Werk und schlugen Tommy und TJ auf die Finger, damit sie nichts von den Leckereien auf dem Tisch naschten: Makkaroni mit Käse, frittiertes Hühnchen, grüne Bohnen, Kartoffeln und ein Southern Lemon Pound Cake. LoLo sah aus wie ein Filmstar, mit Rouge auf den Wangen und in Minirock und Bluse, wie frisch aus dem Katalog von Sears. Alles musste perfekt sein. Einfach alles.
Tommy gab LoLo einen Klaps auf den Po und meinte: »Mhmm, wir müssen öfter Gäste haben.« Dazu umkreiste er sie wie ein Jäger seine Beute.
»Ach, lass das, bevor die Kinder es sehen!«, kicherte LoLo und reckte ihm den Po gleich noch mal hin. Tommy reagierte entsprechend. Ihr so seltenes Lachen klang ungezwungen.
»Sie sind da, Mommy!«, rief Rae, die sich gerade in die Vorhänge im Wohnzimmer wickelte.
»Geh raus aus meinen Vorhängen, bevor du sie noch runterreißt!«, schrie LoLo, aber eher aus Vorfreude auf ihre Freundinnen als aus Sorge um die Vorhänge oder das Verhalten ihrer Tochter. Sie eilte zum Plattenspieler und blätterte durch die Alben im Fach unter der Konsole. Songs in the Key of Life von Stevie Wonder würde für die richtige Atmosphäre sorgen. Sie pustete auf die Platte, ließ sie kurz kreiseln und legte sie auf den Plattenteller. Gerade als sie vorsichtig die Nadel auf die Rille von As setzte, wurde an die Haustür geklopft.
»Who dat at my do’!«, rief LoLo mit verstellter tiefer Stimme durch die Holztür.
»Chile, wenn du nicht gleich die Tür aufmachst! Da sind wir so weit hergefahren, und ich muss mal tee-tee!« schrie Sarah, von Gekicher unterbrochen, zurück.
LoLo riss die Tür auf. »Tu bloß nicht so, als wärst du den ganzen Weg hierher ohne einen Nachttopf in diesem alten Schlachtross von einem Station Wagon gefahren, Sarah Johnson. Du wohnst in New York, aber ich weiß, dass du noch nicht vergessen hast, wie man in Alabama reist!«
»Ich? In einen Eimer pieseln? In diesem Kleid?«, sagte Sarah, während sie LoLo in die Arme fiel. »No Ma’am!«
»Außerdem hatten wir Gesellschaft«, sagte Para Lee und deutete mit dem Kinn über ihre rechte Schulter. Direkt hinter ihr stand Cindy und – ein Mann. Ein Mann, der nicht Roosevelt war.
»Heeeeey«, sagte Cindy und winkte, während sie LoLo zuzwinkerte. »Das hier ist Leo.«
LoLo trat beiseite, um Sarah und Para Lee vorbeizulassen, aber dann blockierte sie die Tür, als Cindy versuchte, die Schwelle zu überqueren. »Tja«, sagte sie, Para Lee und Sarah hinter sich. Sarah trat von einem Fuß auf den anderen, weil sie die Show nicht verpassen wollte. »Und wer ist dieser Typ vor meiner Tür? Mir hat niemand was von einem Extra-Gast gesagt!«
»Er ist eine Überraschung«, meinte Cindy frech.
»Für mich?«, fragte LoLo und griff nach dem Goldkreuz um ihren Hals. »Aber nein, Sir, ich fürchte, ich bin schon vergeben. Ich hab schon einen Mann.«
»Jetzt lasst den Mann mal alle in Frieden!«, sagte Tommy, umarmte Sarah und Para Lee von hinten und schob sich dann zu dem Gentleman durch, der vor seiner Tür stand. »Komm einfach rein, Brother. Diese Ladies kommandieren dich noch bis nächste Woche rum, wenn man sie lässt«, sagte Tommy, während er Leos Hand schüttelte und Cindy und ihren neuen Mann hereinwinkte.
»Mmmmmpf!«, machte LoLo und musterte Cindy von oben bis unten. Als sie schließlich an ihr vorbeiging, lachte sie dreckig.
Und einfach so, so einfach, war LoLo wieder ganz. Gestärkt durch die Anwesenheit der drei Frauen, die ihr … Luft zum Atmen schenkten. Bis sie an ihrem Esstisch saßen, sich die Teller mit LoLos Soulfood füllten – ihrem Liebesbrief an sie alle –, war LoLo gar nicht aufgefallen, wie lange sie die Luft angehalten hatte. Wie erstickt sie sich gefühlt hatte, vor lauter Sehnsucht nach den Menschen, den Dingen, die sie so geliebt hatte.
»Oh, das mach ich schon – lass mich das abräumen«, sagte Leo und schob seinen Stuhl zurück, als LoLo nach den Tellern greifen wollte, um Platz für den Nachtisch zu machen.
»Ach, das musst du nicht, ich erledige das schon«, meinte LoLo und versuchte, ihm die Teller höflich wieder abzunehmen.
»Ich bestehe drauf«, sagte er hartnäckig. »Ist ja das Mindeste, was ich tun kann, die paar Teller abspülen, nachdem du so herrlich gekocht hast.«
LoLo warf Tommy einen Blick zu. Der runzelte vor Staunen die Stirn, während er Leo nachsah, der das Geschirr zur Spüle trug. Seine Augenbrauen berührten praktisch seine Nasenspitze, als er sich wieder dem Tisch zuwandte. Dort saßen alle Frauen mit schräg gelegten Köpfen und großen Augen. Sie betrachteten Leo, der Spülmittel auf das schmutzige Geschirr spritzte und Wasser ins Becken laufen ließ.
»Welp, das Spiel läuft schon«, meinte Tommy schließlich. »Und es guckt sich ja nicht von selbst. Ladies«, verabschiedete er sich mit einem Kopfnicken, stand vom Tisch auf und steuerte seinen verstellbaren Sessel an – was exakt niemanden überraschte.
»Mmmmmhmmmm, I’mma need me some details, Missy«, flüsterte LoLo zu Cindy gebeugt, kaum dass Tommy außer Hörweite war. »Wo hast du Roosevelt verscharrt? Denn ich weiß, der Nigga* ist nicht einfach beiseite getreten und hat Platz für Mr Perfect hier gemacht.«
Sarah und Para Lee drehten sich demonstrativ in Cindys Richtung und warteten darauf, dass sie die pikanten Details auspackte.
»Ich hab ihn mitgebracht, weil ich fand, du solltest mich auch mal glücklich sehen«, fing Cindy an. Sie warf einen Blick auf ihren Mann und seufzte.
»Sie hat ihn mitgebracht, weil sie in der Sache mit ihr und diesem Nichtsnutz Roosevelt endlich etwas richtig gemacht hat«, sagte Sarah und hob ihre Hand zu einem High-Five. Para Lee klatschte sie ab.
Cindy beschwichtigte die Frauen, damit sie nicht Leos Aufmerksamkeit erregten, aber der tauchte selbstvergessen die Hände ins Seifenwasser und schrubbte die Teller, wobei er zwischendurch immer wieder über die Frühstücksbar spähte, um etwas von dem Basketballspiel im Fernsehen mitzubekommen. Als Tommy aus seinem Sessel aufsprang, um irgendwas zu bejubeln, was die Mannschaft, auf deren Seite er war, vollbracht hatte, rief er: »Aaaaye! Na endlich!«
»Sie hat sich von Roosevelt getrennt, weil er ihr endlich einen Grund gegeben hat, hinter den sie gekommen ist«, sagte Para Lee trocken. »Erzähl ihr von der anderen.«
»Und von dem Baby, das unterwegs ist«, sagte Sarah.
»Und vergiss nicht die Sache, dass er versucht hat, dich zu überreden, bei ihm zu bleiben und das Baby mit diesem anderen Girl aufzuziehen.«
Para Lee und Sarah lachten lauthals, doch LoLo sah die Falten in Cindys Augenwinkeln. Und wie ihre Brust sich sichtbar hob und senkte, weil ihr das Atmen schwerfiel.
»Ich hab Roosevelt verlassen«, sagte sie leise, »weil er gesagt hat, er würde mich nicht mehr schlagen, und letztlich ist mir klar geworden, dass er nichts anderes als ein Lügner ist. Er hat ein Baby hinter meinem Rücken bekommen. Hab ich deshalb meine Sachen ein bisschen schneller gepackt? Yeah. Aber ich bin nicht vor Roosevelt weggelaufen. Ich hab mich frei gemacht, damit ich bereit für einen Mann war, der gut zu mir ist. Und da tauchte Leo auf.« Sie schaute zu ihrem Freund rüber, der gerade einen Packen frisch gespültes Besteck aufs Abtropfgitter legte. »Dieser Mann will nichts von mir, außer meine Liebe. Und er gibt mir viel davon zurück. Und nichts da dran tut weh.«
LoLo ergriff Cindys Hand und streichelte sie.
»Ihr versteht alle nicht, wie das ist, weil ihr alle glücklich verheiratet seid – mit guten Männern«, sagte Cindy an Para Lee und Sarah gewandt, deren fröhliches Schmunzeln vom Kummer ihrer Freundin gedämpft wurde. Die hatten ihren Kummer leichthin abgetan, nachdem sie jahrelang mitangesehen hatten, wie ihre Freundin Roosevelts Jähzorn über sich ergehen ließ. »Alles, was ich je wollte, war, geliebt zu werden. Dass einem Mann so viel an mir lag, wie mir an ihm. Hab einen Moment gebraucht, um zu kapieren, dass Roosevelt nicht so ein Herz besaß. Und es hat mich noch ein paar Momente mehr gekostet, um zu kapieren, dass meins noch schlug.«
Cindy schaute zu Leo, der wohl spürte, dass vom Esstisch Energie in seine Richtung floss. Er sah seine Freundin an und lächelte strahlend. »Brauchst du irgendwas, Baby?«, fragte er lässig.
Cindy rieb sich die Nässe von den Wangen und schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Dann werd ich mir mal den Rest von dem Spiel gönnen«, sagte er und legte das Spültuch gefaltet auf den Rand des Beckens.
»Danke, dass du den Abwasch gemacht hast!«, rief Lolo ihm nach.
»Keine Sache«, sagte er, winkte und verschwand Richtung Couch.
»Seht ihr? Da hab ich mir einen guten gefunden«, meinte Cindy breit lächelnd. »Er ist genau wie Tommy, LoLo.«
»Wie wer?«, fragte LoLo. Sie verschränkte die Arme, sah Cindy fragend an und lachte kurz auf.
»Jetzt tu nicht so, als ob du keinen guten Mann hättest«, sagte Sarah und lehnte sich zurück.
»Aber wirklich«, sagte Cindy. »Stell ihn nicht so hin!«
»Jetzt kriegt euch mal wieder ein, ich hab ja nicht gesagt, dass er schlecht ist. Er ist ein guter Mann, und ich liebe ihn dafür, dass er mir und unserer Familie dieses gute Leben ermöglicht«, relativierte LoLo. »Aber keiner hier ist perfekt, auch Tommy Lawrence Senior nicht.«
Para Lee, Sarah und Cindy stimmten ihr stumm zu.
»Kommt schon, Para Lee und Sarah. Tut nicht, als wüsstet ihr nicht, was eine Ehe ist. Wir haben doch schließlich schon – wie viel? – fast zwei Jahrzehnte davon hinter uns. Lasst uns diesem Girl doch auf Teufel komm raus die Wahrheit sagen.«
»Hmm, es ist nicht leicht, das weiß ich«, sagte Para Lee.
»Das stimmt, es ist nicht leicht«, schloss LoLo sich an.
»Also, was ist denn das Schwere daran?«, fragte Cindy. »Ich meine, kommt schon. Eure Männer sind gute Männer. Sie schlagen euch nicht, sie ernähren euch und eure Babys. Sie machen keine Babys mit anderen Frauen. LoLo, du hast dieses tolle große alte Haus in Jersey, wo du wohnst wie eine feine Miss Anne.«
»Das denkst du? Dass ich hier draußen Bonbons esse und das Leben genieße?«, meinte LoLo scharf. »Ich hocke hier im Nirgendwo, sitze an den meisten Tagen alleine rum, nur ich und Gott, bis die Kids über den Rasen gestapft kommen. Ihr denkt, Tommy wäre so ein guter Mann? Was macht der gute Mann denn, wenn er mit dem Abendessen fertig ist?«
LoLos Freundinnen sagten keinen Ton.
»Ich muss es euch nicht mal sagen. Ihr habt es selbst gesehen. Dein Mann hat sich die Teller geschnappt. Meiner hat seinen einfach stehen gelassen, ist ins andere Zimmer gegangen und hat die Füße hochgelegt, als gäb’s hier Zimmerservice.«
»Shit, meiner macht’s genauso«, sagte Sarah. »Und ich weiß, dass Judge auch nicht mit Spülmittel hantiert, oder, Para?«
»Naw«, sagte sie. »Ich glaube, er weiß nicht mal, wo das Zeug steht.« Sie blickte zum Spülbecken. »Du hast Leo trainiert, was? Dass er einfach rübergegangen ist und den Abwasch erledigt hat.«
»Sie hat sich ein neues Modell Mann gesucht«, meinte LoLo lachend.
»Also was willst du uns damit sagen, LoLo? Stimmt mit deinem Modell was nicht? Denn aus meiner Perspektive wirkt Tommy schon wie ein guter Mann.«
LoLo wägte ihre Worte. »Ich hab nicht gesagt, dass er das nicht ist«, sagte sie zögernd. »Tommy Lawrence ist ein guter Mann. Einer der besten, die’s gibt. Leo scheint das ja auch zu sein. Dass er gleich vom Tisch aufspringt, den Abwasch macht und so. Er erhebt nicht die Hand gegen dich. Ist auch ein gut aussehender Typ. Aber zwischen einem Mann und einer Ehe ist schon ein Unterschied.«
»Hmm, da bin ich ganz deiner Meinung«, sagte Sarah beinah flüsternd.
»Erzähl’s ihr, LoLo!« Para Lee klatschte in die Hände und nickte zustimmend. »Das muss mal jemand laut aussprechen.«
»Ich meine nur, Liebe ist Liebe. Eine schöne Sache. Wie Sonnenschein. Wenn du Glück hast, ist sie genau wie Stevie singt, hotter than the fourth of July.« Während LoLo das sagte, wiegte sie sich auf ihrem Stuhl von einer Seite zur anderen. »Aber die Ehe? Shit, das ist wie eine Ameisenstraße über dein Picknick. Die futtern dir den Zucker aus deiner Wassermelone, schwimmen in deinem Bier. Tagtäglich musst du dein Picknick auf der Decke auspacken und dann gegen diese verdammten Ameisen ankämpfen. Hoffen, dass sie das Picknick nicht ruinieren. An manchen Tagen schaffen sie’s. An vielen sogar. Du musst dich an jedem einzelnen Tag entscheiden, an dem du die Augen aufschlägst, ob du ein neues Picknick veranstalten willst. Hoffen, dass die Sonne rauskommt und die Ameisen heute verdammt noch mal in ihrem Loch bleiben. Das ist eine Entscheidung. Eine harte. Das ist alles, was ich dir zu erklären versuche.«
»Aye, LoLo!«, rief Tommy von nebenan. »Wann schneidest du den Kuchen an?« Dann hörte man ihn zu Leo sagen: »Mann, meine Frau hat heute Morgen dafür gesorgt, dass es hier wie Weihnachten roch. Möchtest du Kuchen? Hey, LoLo, warum schneidest du den Kuchen nicht an? Ich nehme meinen mit ein bisschen Eis.«
LoLo hielt den Blick auf Cindy gerichtet, während sie sich Tommys dezente Befehle anhörte. Sie reckte den Kopf Richtung Wohnzimmer, hielt aber Blickkontakt mit ihren Freundinnen. »Willst du Schokolade oder Vanille dazu?«, rief sie zu Tommy hinüber.
Die Lautstärke ihrer Stimme ließ Cindy ein klein wenig zusammenzucken.
***
LoLo zog die Falttüren des Schranks in ihrem Schlafzimmer auf und stemmte die Hände in die Hüften. Dann starrte sie auf die Vielzahl der Kleider, die sie sich ausschließlich für den Sonntagsgottesdienst genäht hatte. Damals in Long Island den Mittelgang der Right Church of God and Fellowship entlangzuschreiten, mit ihren breitkrempigen Hüten, die ihre Augen beschatteten, und in langen Röcken, die rauschten wie Laken in einer Sommerbrise – das hatte ihr das Gefühl gegeben, jemand zu sein. Nicht nur irgendeine Näherin, die den Großteil ihrer Tage in einem schäbigen, formlosen grauen Kittel zubringt und Roben näht, die sie sich weder leisten noch zu irgendeinem eleganten Anlass tragen könnte. An manchen Sonntagen stolzierte sie über den roten Teppich der Kirche, erhobenen Hauptes und den Blick auf den weißen Jesus gerichtet, der an der Wand hinter der Kanzel die Arme ausbreitete. Das sah aus, als winke er ihr, damit sie sich an den Saum seines langen, weißen Gewands setzte. An anderen Sonntagen nickte sie vielleicht anderen Gemeindemitgliedern zu – nur den Frauen allerdings, denn einige der Diakone waren gut aussehend und der Rest verheiratet. Auf solche atmosphärischen Störungen konnte LoLo verzichten. Immer quetschte sie sich irgendwo zwischen Para Lee und Sarah, manchmal auch neben Cindy, falls die nicht zu ihrem Zweitjob musste oder Roosevelt seine Sonntagsstrafen austeilte und sie es tatsächlich in die Kirche schaffte. Mit Pfefferminzbonbons auf der Zunge leckten sie sich die Finger an und blätterten durch die dünnen Seiten ihrer Bibeln zu den Stellen, die der Pastor ausrief, während sie nickend »Amen« sagten. Oder sie deuteten mit den Köpfen in die Richtung von wem auch immer, der für welche Verfehlung auch immer das Missfallen der Freundinnengruppe auf sich zog. »Loo-loo-loo-look. Nach rechts«, pflegte Para Lee vernehmlich zu flüstern, und alle drehten langsam die Köpfe in die Richtung, um zu sehen, welche Narretei auch immer sich dort zutrug. Sarah war diejenige mit der Singstimme. LoLo hätte eine Note nicht mal dann halten können, wenn man sie ihr in Geschenkpapier gewickelt überreicht hätte, aber liebte die Stimme ihrer Freundin. Sie genoss es, wenn der Organist die ersten Töne von Jesus on the Mainline anstimmte. Dann sprang Sarah auf und übernahm die Stimmführung – ihr rauer, schwerer Alt war stärker als der Zusammenklang der ganzen Gemeinde. Para hantierte mit dem Tamburin, und zusammen riefen sie den Heiligen Geist herab. LoLo kam in Fahrt und wurde von ihm erfüllt. »Hah, Gloray!«, rief sie zuerst, dann zog sich ihr Körper zusammen, während sie einen Arm reckte und mit den Füßen einen Rhythmus, immer auf den zweiten und den vierten Schlag, stampfte. Para pflegte die Arme auszubreiten, als müsse sie den Verkehr regeln, um ihre Freundin zu beschützen – und auch ihre Banknachbarn, falls das Heiden waren, die reglos dasaßen. Sarah sang quasi die Mauern des Altarraums nieder. Nach der Kirche lachten sie ganz viel und sprachen über die Güte des Herrn.
LoLo nahm ihren Lieblingshut vom obersten Regalbrett und drehte ihn in ihren Händen. Er hatte so lange unbehelligt dort oben gelegen, dass der Filz ganz staubig war. Eine passende, um nicht zu sagen, tragische Erinnerung daran, wie lange es schon her war, dass sie den Mittelgang einer Kirche entlangstolziert war. Auf der Suche nach ihren Freundinnen und dem Good Word. Auf der Suche nach Gott. Ein Kirchenbesuch in der Nähe war überhaupt keine Option. LoLo würde ihren Kopf an diesem Sonntagmorgen eher noch eine Stunde länger auf ihr Kopfkissen drücken, als den Hut aufzusetzen und sich in die Bank einer biederen weißen Kirche zu hocken, wo man altbackene Choräle sang und ein Prediger nicht wusste, wie man das Feuer in ihren Knochen entzündete. Und Tommys Verwandte in Philly waren Muslime. LoLo blieb also nur die Sehnsucht – nach ihren Freundinnen und ihrem Gott.
Tommy rührte sich im Bett und drehte auf der Suche nach einer kühlen Stelle sein Kissen um. Er tastete mit der Hand nach LoLo, doch da war nur das leere Laken. Also öffnete er erst ein Auge, dann das andere. »Der Hut hat dir immer gut gestanden«, sagte er, bevor er herzhaft gähnte.
LoLo rieb den Staub ab und nahm den Hut genauer in Augenschein. »Ich vermisse es, ihn zu tragen«, sagte sie schließlich. »Ich will in die Kirche gehen.«
»In die Kirche, was?«, sagte Tommy und schob eine Hand unter seinen Kopf. Er seufzte. »Vielleicht fährst du dann besser nach Philly. Da gibt’s eine Menge Kirchen, auch solche Holy Roller Churches, wie du sie magst.«
»Ich will aber nicht in Philly in die Kirche.«
»Lieber hier? Ich weiß nicht, ob die in Willingboro haben, was du suchst …«
»Ich will in Long Island in die Kirche. In die Right Church – mit Para Lee und Sarah.«
Tommy setzte sich auf. »Das sind drei Autostunden. Wenn du jetzt losfährst, kommst du ein bisschen zu spät, oder?«, meinte er und lachte glucksend.
»Ich will den Sonntagmorgen nicht hier damit verbringen, auf meinen Kirchenhut zu starren. Ich will ihn in der Kirche tragen. In meiner Kirche. In Long Island.«
Tommy runzelte die Stirn und schwieg einen Augenblick. »Was soll das alles?«, fragte er dann. »Ist das wegen dem Besuch deiner Freundinnen gestern? Hast du Heimweh oder was?«
»Ich vermisse meine Freundinnen«, sagte LoLo und legte den Hut zurück in den Schrank. »Ich vermisse die Dinge, die wir gemacht haben, als wir noch dort wohnten – Bowling und samstagabends zu Para Lee zum Barbecue und Bier gehen, Sarah am First Sunday singen hören …«
»Sei nicht so. Du tust ja, als hätten wir hier kein gutes Leben«, sagte Tommy. Die Worte kamen schnell und undeutlich aus seinem Mund. »Deine Freundinnen kommen zu Besuch, und jetzt ist dein Leben einen Dreck wert?«
»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte LoLo rasch. »Dreh mir nicht das Wort im Mund herum.«
»Wenn hier irgendwas verdreht ist, dann deine Vorstellung, dir würde was fehlen. Mach ich dich etwa nicht glücklich?«
LoLo machte dicht. Das tat sie immer, wenn Tommy mehr auf seine eigenen Antworten gab als auf die Worte – Bitten – seiner Frau.
»Ich gehe mit dir und den Kindern zur Ponderosa, und wir essen schick zu Abend, wir haben meine Familie in der Nähe und die behandelt dich wie Ihresgleichen, den Kindern fehlt es an nichts, du wohnst in diesem hübschen Haus, machst was immer du willst«, fuhr er fort. »Was ist das Problem?«
LoLo strich noch ein letztes Mal über den Hut, bevor sie ihn zurück aufs Regal legte. Sie konnte seine Frage nicht so beantworten, dass er damit zufrieden gewesen wäre. Außerdem besaß sie gar nicht die Kraft dazu. Am liebsten hätte sie sich wieder hingelegt. Mit gerade ausgestreckten Beinen, die Arme über der Brust gekreuzt, Kinn nach oben, Augen geschlossen. Diesmal vielleicht für immer. »Die Kinder sind auf«, sagte sie und schloss die Schranktüren. »Ich geh mich ums Frühstück kümmern.«
LoLo spürte, wie sein Blick ihr folgte, als sie das Zimmer verließ, den Flur hinunter Richtung Küche. Obwohl sie seine Aufmerksamkeit erregt hatte, wusste sie, die würde nicht länger währen, als sie ein Glühwürmchen in ihren Händen halten konnte. Das Leuchten war faszinierend, hübsch, aber trotzdem war es eigentlich nur ein ekliges Insekt, das gegen ihre Handflächen anflog, bis sie genug davon hatte – und es fliegen ließ.
Am restlichen Vormittag sagten die beiden nicht mehr viel. Sie kauten ihren Fatback-Speck und Lachsfrikadellen, während das Roastbeef und die Yamswurzeln, die LoLo für das sonntägliche Abendessen vorbereitete, im Ofen waren. Die Kids schienen von der Anspannung und miesen Stimmung, die über dem kleinen Holztisch hing, nichts zu merken.
»TJ, wenn wir mit Essen fertig sind, gehst du raus in den Schuppen, holst den Mäher und das Benzin raus, damit wir uns ans Rasenmähen machen können«, ordnete Tommy an.
»Yessir«, antwortete TJ schnell.
»Wenn wir damit fertig sind, fahr ich mit euch beiden zur Dairy Farm raus, damit eure Mama sich ein bisschen ausruhen kann.«
In Raes und TJs Gesichtern ging die Sonne auf, während LoLos immer noch einem bewölkten Himmel glich. Tommy schien das nicht zu kümmern.
***
Tommy nahm Butter Pecan in einer Waffel, TJ Schokolade. Rae aß nur Erdbeereis, und selbst mit ihren zwölf Jahren hatte sie noch Probleme, die cremige Süßigkeit so zu essen, dass das Eis nicht an den Seiten herunterlief, bevor sie es aufschlecken konnte. Deshalb war das blaue T-Shirt, auf dem ihr Name in regenbogenbunten Buchstaben stand, dermaßen verkleckert, dass ihr Vater sie gleich zum Umziehen schickte, als sie das Haus betraten. Immer tat Rae, was man ihr sagte, und so war sie zu beschäftigt, um das Durcheinander im Garten hinter dem Haus zu bemerken. Das war auch besser, denn LoLo hatte schließlich nicht bedacht, wie ihre Tochter es verkraften würde, wenn sie den Leichnam ihrer Mutter fände, der auf dem Grund des Baches auf einem Bett aus Steinen lag, zugedeckt mit einem Laken aus Wasser. Das Einzige, woran LoLo gedacht hatte, war, unter Wasser zu gelangen und dort zu bleiben. An dem einzigen Ort, von dem sie wusste, hier konnte sie frei sein.
TJ hörte das Rufen zwar, hielt es aber für Kampfgeschrei von Daisys jüngstem Sohn Mark und dessen Freunden, die wahrscheinlich Football spielten. Einmal hatte TJ versucht mitzuspielen, doch danach fand er schnell eine Unzahl von Ausreden, warum er das nicht mehr konnte. Und zwar passierte es in der Sekunde, als zwei von Marks Freunden ihn jeweils von einer Seite attackierten und zischten »Stay down, Nigger*«, während sie sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen seinen mageren, zerknautschten Körper warfen. Als er jetzt das Geschrei hörte, folgte er rasch Rae ins Haus.
Tommy dagegen hörte und entschlüsselte die Schreie, die hinter dem Haus erklangen, sofort. Das war kein Footballspiel oder irgendeine lustige Balgerei. Daisy war da draußen und rief um Hilfe. Er schlug die Autotür zu und klimperte mit den Schlüsseln, während er den Blick zur vorderen Veranda der Daleys schweifen ließ. Er wollte sehen, ob die Nachbarn ihre übliche Position eingenommen hatten: in ihren Schaukelstühlen sitzend, während sie sich in die Angelegenheiten der Nachbarschaft einmischten. Doch die Veranda war leer. Die Schreie wurden panischer.
Tommy schlich um die Ecke seines Hauses, den Blick immer noch auf die Veranda der Daleys gerichtet, aber den Rufen folgend. Jemand schrie: »Mein Gott, so hilf mir doch wer! Ich krieg sie nicht hoch! Steve, irgendwer, zu Hilfe! Bitte, hört mich jemand?«
Endlich beschleunigte Tommy seine Schritte. Er konnte nur einen hektisch zuckenden Kopf erkennen, aber das glatte graue Haar war eindeutig: Daisy stand unten im Bach und schrie irgendwas. Als sie ihn entdeckte und seinen Namen rief, rannte Tommy los. »Daisy, was ist passiert? Was ist denn los?«, rief er und wäre fast hingefallen, während er den Hügel hinunter zum Wasser stürzte. Dort fand er Daisy, die an Armen und Beinen zog, flehte und bettelte. »Delores, Honey, bitte! Setz dich auf! Du wirst sonst im Wasser ertrinken!«
Geschickt sprang Tommy ins Wasser und arbeitete sich über Felsen hinweg so schnell vor, wie er konnte. »LoLo! Baby, setz dich auf! Steh auf! Was machst du da?«, brüllte er. »Daisy, was ist passiert? Daisy!«
Daisys Worte überschlugen sich, während Tommy LoLo aufhob. Ihr Körper war schlaff, eine leblose Last. »Ich habe gewunken und ihren Namen gerufen, aber sie hat nicht reagiert. Sie lief einfach weiter, als könnte sie übers Wasser gehen.«
Tommy schlug seiner Frau ins Gesicht und schüttelte sie. »Baby! Baby! Komm schon, atme. Komm schon!«
LoLo hustete und fixierte erst Daisy, dann Tommy. »Warum habt ihr das getan?«, japste sie und versuchte, sich aus dem Griff ihres Mannes zu winden. »Warum hast du das getan, Tommy? Gott ist da unten. Er wollte mich gerade befreien.«
Tommy wiegte LoLo, während sie sich weiter wehrte.
»Ich will frei sein.«
Diesmal sagte Tommy nichts. Diesmal hörte er zu.