Rae hätte wissen müssen, dass sie LoLo diese Frage nicht stellen sollte – hätte die Antwort erahnen sollen. Schließlich hatte sie inzwischen seit drei Jahren den Beweis dafür, dass LoLo eine andere Art von Mutter geworden war, die auch Rat respektierte und ihren Drang, Rae wie eine Marionette zu behandeln, zügelte. Stattdessen hielt sie sich zurück und ermutigte ihre Tochter, diese Frau, Mutter und Ehefrau, eigene Entscheidungen zu treffen und an ihnen festzuhalten, egal was wer auch immer dazu zu sagen hatte. Als LoLo Raes Entscheidungen erstmals ausdrücklich verteidigte, war Rae vor Staunen verstummt und sich nicht sicher gewesen, ob sie die Worte ihrer Mutter richtig gehört hatte. »Jetzt lasst sie alle mal in Frieden«, hatte LoLo ihren Freundinnen erklärt. Die Aunties Sarah, Cindy und Para Lee hatten sich bei LoLo eingefunden, um sie an ihrem Hochzeitstag zu trösten. – Um LoLo von der Tragödie abzulenken, davon, was sie alles verloren hatte, damit sie sich auf das Gute konzentrierte. Auf ihre schönen Erinnerungen. LoLos Freundinnen waren gut in so etwas – ein Trupp von Schwestern, die alles in ihrer Macht Stehende taten, um aufzuheitern, zu ermutigen, zu raten. Rae hatte das, als sie klein war, nicht realisiert, aber die besten Freundinnen ihrer Mutter hatten sie wertvolle Lektionen gelehrt – Lektionen darüber, wie man sein sollte. Aus ihrer Beobachtung lernte sie den Wert von Freundschaft und wie man sicheren Raum für Kinder und Lachen schuf. Sie lebte für die Umarmungen ihrer Aunties, deren Zustimmung und Wahrhaftigkeit. Und all das schenkten sie ihr im Überfluss. Doch bei dieser Gelegenheit wünschte Rae sich nur, sie würden es sein lassen.
Der Wirbel begann in dem Moment, als Rae sich die Stufen bei LoLo hinaufkämpfte. Ihr damals achtmonatiges zappelndes Baby im linken Arm, dazu eine Wickeltasche, einen Haufen von Skyes Spielsachen und Geschenke für ihre Mutter in der rechten Hand. Skye quengelte und wand sich, krallte sich in die Bluse ihrer Mutter und drückte schmatzend die Lippen an ihre Brust. »Schon gut, schon gut, es kommt gleich, Kleines!«, beruhigte Rae, während sie die Tasche im Flur fallen ließ und direkt auf den gepolsterten Sessel im Wohnzimmer zusteuerte, der gleich neben der Couch stand, wo ihre Mutter und die Aunties saßen. Fotoalben, die zwischen Karton und Plastikfolie Bilder und das Leben, das sie zusammen gelebt hatten, enthielten, lagen überall auf dem quadratischen Cocktailtisch vor ihnen und auf ihren Schößen verteilt. So offen wie ihr Lachen.
»Ooooh! Da ist sie ja, gib mir mein Grandbaby!«, sagte LoLo, streckte die Arme aus und winkte Rae samt Baby in ihre Richtung. Freudige Begrüßungen der Aunties schallten durch den Raum.
»Eine Sekunde, Mommy, sie ist so hungrig, dass sie einen Wutanfall kriegen wird, wenn ich sie nicht jetzt auf der Stelle füttere«, sagte Rae. Schon schob sie ihr T-Shirt hoch und öffnete den Still-BH. Schlagartig wurde es still. Skye gab noch ein paar Quäklaute von sich, während sie nach der Brust ihrer Mutter suchte, sich dann mit Lippen und Zunge an der Brustwarze festsaugte, schlürfte und schwer atmete. Ihre feuchten Augenlider waren erst schwer vor Verlangen, dann vor Zufriedenheit.
Auntie Para Lee meldete sich als Erste zu Wort. »Wie alt ist das Baby?«, fragte sie.
Rae griff nach Skyes Fingern und schaukelte ihr Kind mit dem ganzen Körper, während es trank. »Sie ist gerade acht Monate geworden. Ich kann gar nicht glauben, wie schnell die Zeit vergeht«, sagte sie. »Sie ist schon so groß! Es kommt mir vor, als würde ich jede Woche ein neues Kind sehen.«
Weil sie so mit Stillen beschäftigt war, bemerkte Rae nicht, wie Para Lee erst Cindy und Sarah, dann auch LoLo vielsagende Blicke zuwarf.
»Sie ist fast ein Jahr alt, und du gibst ihr immer noch Ninny?«, fragte Auntie Para Lee mit gerunzelter Stirn. »Dabei hat sie inzwischen genug Zähne, um ein Steak zu essen.«
»Jedenfalls kann sie auf einem Stück Fleisch kauen, das nicht der Busen ihrer Mama ist, so viel ist mal sicher«, mischte Auntie Sarah sich ein.
Raes Lächeln verblasste langsam. Unbehaglich rutschte sie unter den Blicken ihrer Aunties in dem Sessel herum. Im Kopf hatte sie schon eine flammende Rede parat – über die Geschichte des Stillens in der Schwarzen Community und die schädlichen Auswirkungen von Milchpulver auf den empfindlichen Magen von Babys. Sie kannte alle Statistiken dazu, wie stark und gesund gestillte Babys waren und all die Vorteile, die es für sie brachte, sich von der Milch ihrer Mütter zu ernähren. Gerne hätte sie auch gefragt, warum es in Ordnung war, wenn ein Kind Flüssigkeit aus dem Euter einer Kuh schlürfte, aber es sie störte, wenn die Nahrung aus der Mutterbrust kam. Doch laut sagte Rae nichts, sondern presste nur die Lippen zusammen und steckte die verbalen Hiebe ein.
»Ich weiß gar nicht, was ihr alle habt«, meldete sich LoLo zu Wort. »Schaut doch, wie gesund mein Grandbaby ist. Ihre Mama macht also anscheinend was richtig. Viele Dinge richtig, wenn ihr mich fragt.« LoLos Freundinnen hörten auf, missbilligend mit den Zungen zu schnalzen. »Skye kriegt keine Erkältungen und hatte noch keine Ohrenentzündung. Schaut euch doch diese speckigen Beinchen an«, fügte sie hinzu und streckte die Hand aus, um ihre Enkelin liebevoll in den Oberschenkel zu zwicken. »Ihr Haar ist dicht und lockig …«
»Willst du nicht ein paar Spängchen in ihre Haare tun?«, unterbrach Auntie Sarah sie. »Bei den vielen Haaren willst du sie vielleicht mal auskämmen und ein paar Zöpfchen draus machen. Der Afro sieht ziemlich trocken aus …«
»Sarah, es gibt nichts auszusetzen am Kopf von dem Kind!«, echauffierte sich LoLo. »Ihr Afro ist so süß, wie er nur sein kann. Und jetzt lasst ihr alle mal mein Enkelkind in Frieden. Das ist Raes Baby, und sie macht einen tollen Job, so wie sie es großzieht.«
»Sieht ein bisschen kraus aus, wenn ihr mich fragt.«
»Es fragt dich aber keiner«, fauchte Rae, bevor sie sich versah. Aber sie bedauerte es sofort, denn so hatte ihre Mutter sie nicht erzogen. Deshalb bemühte sie sich, ein bisschen kühle Luft in die Atmosphäre zu pusten, die sich dermaßen aufgeheizt hatte. »Ich habe mich nur entschieden, Dinge anders zu machen, das ist alles. Es gibt da all die Vorteile, wenn man ein Baby mindestens ein Jahr lang stillt, und es tut doch niemandem was, wenn ich mein Baby mit der Milch füttere, die die Natur genau für diesen Zweck produziert. Und ich ziehe und zerre nicht an ihren Haaren, weil sie so eine sensible Kopfhaut hat und ich ihren Afro sowieso mag«, erklärte Rae. »Ich finde ihn süß.«
»Ich auch, Rae«, sagte LoLo, streckte den Arm aus und strich ihrer Tochter bestärkend übers Bein. Rae schaute auf die Hand ihrer Mutter, die ebenfalls eine sensible Kopfhaut hatte, dann sah sie ihre Mutter an. Sie hatte große Mühe, ihre Überraschung über all das zu verbergen.
Später, als alle ihre Portionen Essen, Kuchen und Freundschaft gehabt hatten und sich wieder ihrem eigenen Alltag zuwandten, legten LoLo und Rae sich in LoLos Bett, um fernzusehen, während das Kind einschlummerte. Da erklärte LoLo ihrer Tochter den neu entdeckten Standpunkt: »Keiner hat das Recht, dir zu sagen, wie du zu sein hast. Das ist dein Baby. Du ziehst sie groß, wie du es für richtig hältst, hörst du? Nichts, was irgendwer dazu zu sagen hat, spielt eine Rolle, wenn du es nicht willst. Vergiss das nicht.«
Diese LoLo war geradezu schockierend – unaufdringlich, eine Maria voll der Gnade. Wäre Rae wegen ihrer implodierenden Ehe nicht gerade erschüttert gewesen, dann hätte sie sich vielleicht den verständnisvollen Standpunkt ihrer Mutter angeeignet. Den nachsichtigen Umgang mit harten Tatsachen. Aber in diesem Moment brauchte sie eher LoLos Taschenlampe – etwas, das ihr helfen würde, durch diese Dunkelheit zu navigieren und den Weg zurück in eine Normalität zu finden, in der Ehemänner ihren Lebensunterhalt verdienten und Samstage genossen, an denen sie mit ihren Lieblingsgirls kuscheln konnten. Männer, denen die Familie ausdrücklich über alles ging.
Es war eine Woche her, seit Rae ihren Mann verlassen hatte. Und sie wusste immer noch genauso wenig, was sie als Nächstes tun sollte, wie in dem Moment, als sie sich ihr Kind geschnappt und mit allem, was sie in eine Reisetasche stopfen konnte, den Zug der Long Island Railroad genommen hatte, um in ihr Elternhaus zurückzukehren. Jetzt saß sie am Küchentisch: schläfrig, frustriert, traurig, sauer und mit nur wenigen Stunden Schlaf, der immer wieder von Ellbogen auf ihrer Nase und Füßchen im Rücken gestört worden war. Außerdem hatten sie die Erinnerungen daran wach gehalten, wie sie in diesem perfekt in Schuss gehaltenen Zimmer, auf dem perfekt in Schuss gehaltenen Bett als Teenager vor zwanzig Jahren Hausaufgaben gemacht, gelesen und Love Songs von Frankie Crocker auf ihrem kleinen Radiowecker gehört hatte. Damals hatte sie sich gewünscht, ihre Mutter würde aufhören, sie wegzusperren wie eine Schokoladen-Rapunzel, die man vor der bösen Welt beschützen musste. Und nun war sie hier, all die Jahre später, zweiunddreißig, mit einem Baby, aber immer noch in ihrem Turm und ohne klaren Plan, wie sie da herausfinden sollte oder ob der Prinz die Kletterpartie überhaupt wert war.
LoLo wirbelte lässig durch die Küche und rief gelegentlich Antworten auf die Fragen, die Alex Trebek in der aktuellen Folge von Jeopardy stellte, während sie ein schnelles Abendessen aus Schweinekoteletts, gedämpftem Brokkoli und Apfelmus zubereitete. Dabei merkte sie Raes zunehmende Gereiztheit nicht, mit der die Tochter am Küchentisch saß, eine schläfrige Skye auf dem Schoß.
»Was soll ich machen, Mommy?«, fragte Rae schließlich.
»In welcher Angelegenheit machen?«, fragte LoLo zurück, während sie zwei gefüllte Teller auf den Tisch stellte. Sie gab Skye einen Kuss und lächelte. »Ooh, ein müdes Baby.«
»Mein Mann betrügt mich. Unsere Familie. Was soll ich tun? Bleibe ich bei einem Mann, der mit einer anderen geschlafen hat? Bleibe ich bei dem Bad Guy, in guten wie in schlechten Zeiten? Mein Daddy war mein Held, aber er war auch ein Bad Guy. Hat seine Untreue daran was geändert? Sollte Romans Untreue was daran ändern, dass ich noch seine Frau sein will? Was soll ich machen?«
»Ich kann dir nicht sagen, was du tun sollst, Rae, und ich werde es auch gar nicht erst versuchen. Es ist deine Ehe, dein Leben. Was dein Vater und ich hatten, das war das, was ich wollte, aber es war nicht perfekt. Es ist nichts, was man auf einen Sockel stellen sollte, um zu sagen: Mach es wie wir. Ich habe versucht zu sein, was die Welt von einer Frau erwartet hat, und es hat mich verdammt noch mal fast umgebracht. Du wirst entscheiden müssen, was für dich richtig ist, egal, was du woanders mitangesehen hast. Es spielt auch keine Rolle, was irgendwer anderer will. Es geht um deine Bedürfnisse. Verstehst du?«
Rae wischte sich die Tränen ab. Nickte. Schaute auf ihr Baby. »Sie ist durch, was?«, sagte Rae und zwang sich zu einem Lächeln.
LoLo schaute auf Skye, die sich an Raes Bauch gekuschelt hatte, als wäre er ihr Kissen. »Yeah, sie ist eingeschlafen«, flüsterte Rae.
»Lass mich sie hinlegen«, sagte LoLo und nahm sie Rae ab. »Ich bin gleich wieder da, okay? Iss du deine Koteletts. Du musst irgendwas essen, um bei Kräften zu bleiben.«
Rae sah ihrer Mutter zu, wie sie ihre Enkelin wegtrug, während die Füße des kleinen Mädchens ihre Oberschenkel streiften. LoLo war jetzt fast fünfundfünfzig Jahre alt, aber immer noch rank und schlank, Sie hatte sich nach Tommy ein gutes Leben eingerichtet – sie war jemand anderes geworden. Sogar das Haus war nicht mehr das Domizil, das die Lawrences in Long Island bezogen hatten. In Raes Kindheit hatte LoLo darauf bestanden, dass die Wände in allen Zimmern weiß waren, denn sie war überzeugt, dass Farbe nur was für Sofakissen, Bettüberwürfe und Kinkerlitzchen auf Etageren war. Außerdem hatte sie die Ansicht vertreten, Wohnzimmermöbel wären für Gäste, nicht für die Patschhändchen von Kindern oder für Erwachsene, die einfach nur rumgammeln wollten. Deshalb hatten sich alle meist in ihre jeweiligen Winkel zurückgezogen, denn es war LoLos Haus nach ihrem Geschmack und ihren Regeln gewesen.
Doch nun waren die Wände in dem Haus, das sie ohne Tommy bewohnte, knallig rot, goldfarben und babyblau. Und das Wohnzimmer, das einst für alle außer Gäste tabu gewesen war, diente jetzt als Treffpunkt, ob für Familie oder Gäste, Freund oder Feind. Dort hielt LoLo Hof: Sie servierte Snacks und Drinks, hielt Bibelstunden ab. Sie hatte sich sogar einen neuen Fernseher gekauft und so aufgestellt, dass sie dort Wäsche zusammenlegen oder ein Nickerchen machen konnte, während ein Thriller oder ein alter Western lief. Sie war die Direktorin ihres Ein-Frauen-Zirkus. Sie hatte ihre eigene Lebensweise gefunden, ihre eigene Form von Geselligkeit, ihre eigene Art zu sein. Ohne Tommy. Das war wunderbar anzusehen.
Rae drehte sich auf dem Stuhl so, dass sie die Küchenwand besser im Blick hatte, an der LoLo all die Familienfotos aufgehängt hatte, die die Familie einst von Glasregalen im Wohnzimmer angestarrt hatten. In der Mitte hing ein altes Foto von Tommy, in kariertem Anzug und grünem Turtleneck-Pullover, und LoLo in einem fast gleichen Kleid mit Bleistiftrock. Beide schauten in die Ferne, wie es die Leute auf diesen altmodischen Fotografien bei Sears gemacht hatten. Vor einem colorierten Hintergrund und mit extra glänzendem Finish. Rae fand LoLo so schön – so wunderschön. Groß und schlank wie ein Model. Sie erinnerte sich, viele Mal in der Umkleide von Kaufhäusern gesessen zu haben, wo LoLo einkaufte. Dann sah sie ihre Mutter in Outfits schlüpfen, die perfekt für ihren schmalen Körper geschnitten zu sein schienen. LoLo bevorzugte lange Kleider mit Gürteln um die Taille und Schulterpolstern, die ihre ohnehin schon breiten Schultern wie einen Kleiderbügel betonten – und ihre schon schmale Taille unglaublich und abnorm dünn erscheinen ließen. Aber sie hasste es, ihre Beine zu zeigen, was Rae überhaupt nicht verstehen konnte, weil sie absolut perfekt waren – lang und wohlgeformt. Kein Vergleich zu den kurzen, dicken Beinen, mit denen Rae sich in Hosen und Röcke pressen musste, die an den Oberschenkeln und am Hintern immer peinlich spannten und dann in der Taille Falten warfen oder zu weit waren. Rae erinnerte sich, auf den Bänken in den Umkleiden von Macy’s gesessen und sich gewünscht zu haben, sie hätte weniger die Figur einer Colaflasche und mehr die ihrer Mutter – hübsch und perfekt. So hübsch und perfekt.
Rae spürte es zuerst in der Nase, dann in den Augen. Sie vermisste ihren Daddy, aber es schmerzte sie, was er dieser Frau angetan und wie er ihren Schmerz vergrößert hatte. In der Sekunde, wenn sie in die Küche zurückkäme, beschloss Rae, würde sie ihr sagen, wie hübsch sie gewesen war und wie sehr sie zu ihr aufschaute und wie dankbar sie ihr war. Dankbar, dass sie gekommen und sie geholt und sie zu ihrer eigenen Tochter gemacht hatte. Dass sie nicht verdient hatte, was Tommy ihr und der Familie angetan hatte. Dass sie eigentlich wütend auf ihn sein wollte, aber es zwischen ihrer Wut und der intensiven Liebe für ihren Daddy irgendwie nicht schaffte. Denn diese Liebe kannte keine Grenzen und war sogar noch gewachsen, seit er nicht mehr da war. Sie wollte ihrer Mutter sagen, auch wenn sie deren Schmerz nicht ganz verstand, wusste sie doch, dass sie litt, und Rae würde für sie da sein. Für ihre Mutter, diese Frau, deren Blut sie nicht teilte, aber die sie trotzdem innig liebte.
Und dann roch Rae ihn. Ihren Daddy. So als würde er direkt hier vor ihr stehen, wie in ihrem Traum. Der Duft war unverkennbar. Das Aftershave hatte Tommy praktisch täglich auf seine Wangen, sein Kinn und seinen Hals gespritzt, egal ob er sich rasiert hatte oder nicht. Er liebte den Duft. Nach Neroli und Bergamotte, mit einer Spur Rose und Kaki im Hintergrund und ein wenig Patschuli. Sinnlich und Schwarz. Dieses Spazier-in-einen-Barbershop-Schwarz oder das Badezimmer-eines-Schwarzen-Mannes-an-einem-Samstagnachmittag-Schwarz. An einem weißen Mann würde es stinken.
»Mommy«, rief Rae so leise nach LoLo, dass sie ihre Tochter fast nicht hörte.
Rae wischte sich die Tränen mit ihren Handgelenken ab und drückte sich vom Tisch hoch. In der Sekunde, als LoLo auf die Schwelle zur Küche trat, blieb sie so abrupt stehen, als wäre sie gegen eine unsichtbare Barriere gelaufen. Sie schloss die Augen und holte so tief Luft, dass sie beinah husten musste.
»Riechst du es?«, fragte Rae. »Es ist schon eine Weile her, dass er gekommen ist, aber da ist er wieder. Für dich und die Kleine. Vielleicht auch für mich.«
»Hast du Daddys Aftershave benutzt?« Fragte LoLo und missverstand völlig, was gerade passierte.
»Nein, Mommy«, sagte Rae sanft. »Das ist Daddys Duft.« Rae schaute ihrer Mutter in die Augen. Ihre Pupillen schienen sie zu durchbohren – und sie sagte ihr genau das, was LoLo verstehen musste.
»Er kommt zu dir? Einfach so?«
»Manchmal ist es sein Duft, den ich rieche – das Aftershave«, sagte Rae. »Manchmal kommt er im Traum zu mir. Einmal bin ich sonntagmorgens aufgewacht und habe ganz deutlich Kalbsleber gerochen. Ich sprang aus dem Bett, raste in die Küche, und die war still und leer, alles an seinem Platz. Aber ich roch es, als stünde er am Herd und würde Leber mit dieser Sauce kochen, die ich so mag. Mit Reis. Sein Lieblingsgericht. Ich hab es dir nicht erzählt«, fügte Rae hinzu, »weil ich dachte … ich dachte, du würdest es für etwas Böses halten.«
»Du weißt, dass ich nicht an dieses Hoodoo-Zeug glaube. Davon steht nichts in der Bibel, und Gott sagt uns, wir sollen keine falschen Götzenbilder verehren.«
»Mommy, ich kann das nicht steuern. Ich sehe dauernd Dinge in meinen Träumen – schon seit ich klein war. Ich hab es dir nur nie erzählt. Ich dachte, vielleicht wäre ich böse und würde mich gegen Gott versündigen. Denn in dem Glauben hast du uns erzogen. Aber du riechst ihn ja auch. Wie soll Daddys Anwesenheit etwas Böses sein?«
»Lass mich ausreden, Rae«, sagte LoLo und hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. »Ich muss dir etwas zeigen. Lass mich nur erst das Kind hinlegen. Ich bin gleich wieder da.«
LoLo verschwand über den Flur und kam rasch wieder zurück, diesmal mit einem kleinen weißen Beutel in der Hand. Sie strich zögernd mit dem Daumen darüber und stand da, als würden ihre Füße auf dem Linoleum kleben, das Tommy eigenhändig verlegt hatte. Damals war Rae noch klein und hatte hinter der Türschwelle zur Küche herumgetanzt, während sie ihren Vater mit der Nacherzählung ihres Lieblingsbuchs, Sara, die kleine Prinzessin, unterhielt.
»Das gehört dir«, sagte LoLo schlicht und drückte Rae den Beutel in die Hand.
Rae schaute das Säckchen fragend an und öffnete es schließlich. Zuerst berührten ihre Finger eine Haarlocke. Als sie sie herausnahm, begann ihr ganzer Körper zu prickeln, als würde sie durch einen Stromstoß wachgerüttelt. Sie legte die Locke auf den Tisch, dann die Hasenpfote daneben und schließlich noch die Pfeife. Als sie das Taschentuch auspackte und die Blutflecke darauf sah, stockte ihr der Atem. Unwillkürlich ließ sie es auf den Tisch fallen. Dabei zitterten ihre Hände und sie legte den Kopf erst zur einen Seite, dann zur anderen, während sie alles mit tränenverschleierten Augen betrachtete.
»Eine Sache ist noch drin«, sagte LoLo leise.
Zögernd griff Rae erneut in den Beutel und zog das gefaltete Stück von einer braunen Papiertüte heraus. Langsam faltete sie es auseinander und las.
»Was … was ist das?«, fragte sie und schaute endlich hoch.
LoLo suchte nach den Worten, die sie – aus Furcht vor Tommys und Gottes Meinung dazu – fast dreiunddreißig Jahre lang nicht ausgesprochen hatte. Wie sie so dastand, angesichts des weit geöffneten Herzens ihrer Tochter, da fand sie den Mund dazu. »Dein Daddy wollte nicht, dass ich dir das zeige, aber …« LoLo verstummte.
»Mommy, was ist das?«, fragte Rae wieder, und ihr Herz raste, während sie das Stück Papier zwischen ihren Fingern drehte und auf die Buchstaben starrte.
Dieses Baby
Dieses Baby
Dieses Baby
ein schönes, behütetes, wohlhabendes Leben
»Das war in der Tasche, in der sie dich vor dem Waisenhaus gefunden haben.« LoLos Worte, die sie vor so langer Zeit runtergeschluckt hatte, sprudelten jetzt nur so aus ihr heraus. »Ich glaube, deine leibliche Mutter hat das für dich hinterlassen. Siehst du, was es ist?« Sie zeigte auf den Kreis aus Wörtern auf dem Papier. »Es ist ein Wunsch, wie ein Gebet. Aber so, wie man das früher aufgeschrieben hat, damals im Süden, als man an Geister und Ahnen und so was glaubte. Es ist eine Petition.«
»Eine – eine was?«
»Eine Petition. Ein Gebet – für dich, Rae. Ich denke, von deiner Mutter, die um Schutz für dich gebeten hat«, sagte LoLo. »Ich glaube, sie wollte, dass der Wortlaut und die Beigaben bei dir bleiben. Ich glaube, dass hat sie für dich erhofft. Schutz. Dein Daddy war dein Beschützer. Er war mein Beschützer«, sagte LoLo. Sie streichelte Raes Schultern, während sie sprach. »Das ist alles, was ich von ihm verlangte, und er hat es getan. Er hat uns beschützt. Er hat dich in diesem Kellergeschoss gefunden, und er war derjenige, der geschaut hat, dass alles mit dir okay war, selbst wenn ich dir wehgetan hatte. Er wollte nicht, dass ich dir das hier gebe, denn in seinen Augen waren wir deine Familie und du wurdest an dem Tag geboren, als wir dich nach Hause brachten. Wir sind deine Eltern. Nichts, was davor war, spielte für ihn eine Rolle. Aber dieses Stück Papier, diese Petition – er hat getan, worum er gebeten worden war. Und seine Anwesenheit jetzt und hier zeigt mir, dass er es immer noch tut.«
Rae war überwältigt von der Vorstellung, dass ihre leibliche Mutter ihr das Beste gewünscht hatte, dass sie jetzt deren Haar und Blut in der Hand hielt. Überwältigt davon, dass ihr toter Vater in dem Zimmer anwesend war, in dem sie und ihre Mutter sich gerade befanden, nur durch den Flur von ihrem schlafenden Baby getrennt. Rae lief los – aus der Küche, den Flur entlang und ins Badezimmer, immer gefolgt von dem Duft. Dann warf sie die Tür zu und ließ sich auf die Badematte fallen, die noch feucht war, weil sie vor weniger als einer Stunde hier ihre Tochter gebadet hatte.
Im Laufe der Jahre hatte Rae ihre Fantasie benutzt, um sich die Geschichte ihrer Geburt farbig, hell und anmutig auszumalen: Vielleicht war ihre leibliche Mutter jung und verängstigt gewesen und hatte sich nicht vorstellen können, allein ein Kind großzuziehen, das war einer ihrer ersten Gedanken. Manchmal gab es in der Geschichte auch Bösewichte: Vielleicht hatte eine Familie, die sich weigerte, sie und ihr Kind zu unterstützen, sie gezwungen, mich auf den Stufen dort abzulegen oder Vielleicht war sie durch Missbrauch entstanden, und ihre Mutter fürchtete, dass sie in diese Gewalt mit reingezogen würde. Die Storys variierten so wie die Bücher, die sie auf dem obersten Bord im Schrank ihrer Kindheit verwahrte. Aber immer stellte Rae sich ihre leibliche Mutter als Heldin vor. Schließlich gab es so viele Arten und Weisen, auf die das Leben für ein kleines, schutzloses Baby hätte schlimm ausgehen können. Doch diese Frau verdiente ihren Platz auf dem Sockel, den Rae in ihrem Herzen hatte. Dort stand sie für immer, reglos, unverrückbar, unschuldig, wie die kleinen Porzellanengel, die LoLo auf ihrer Etagere aus Glas stehen hatte.
Nachdem sie das Blut ihrer Mutter an den Fingerspitzen gehabt hatte und ihr eigenes Baby ein Stück nur den Flur hinunter schlief, da war für Rae diese Frau so viel mehr als ein lebloses Objekt oder eine ausgedachte Märchenfigur, die auf einem Regal Staub ansetzte. Rae begriff ihre Menschlichkeit. Ihre Entscheidung, was Rae betraf, war schön, selbstlos, getränkt von Schmerz, Herzeleid und, ja, Liebe gewesen. Diese Liebe konnte Rae jetzt verstehen, weil auch sie eine Mutter war, die ihr Baby ausgetragen hatte und sich die Kraft, den Mut und die Entschlossenheit nicht vorstellen konnte, die es ihre leibliche Mutter gekostet haben musste, ihr Kind, ihr Fleisch und Blut, den Schlag ihres Herzens, auf irgendwelchen Stufen abzulegen. Damit jemand anderer – LoLo und Tommy, die sie von Herzen liebten – sie haben sollte. In Raes Augen war dies das höchste Opfer. Ein Wunder, das sich nicht vom Wunder der Empfängnis unterschied. Diesem Wunder, wenn Samen- und Eizelle sich trafen, die Eizelle sich in der Gebärmutter einnistete, die wiederum die absolut perfekten Bedingungen für neues Leben bot, bis das den Weg in liebende Arme fand. Der weiße Beutel war der Beweis dafür, dass Rae sich genau dort befand, wo sie sein sollte.
Rae presste das Stück Papier an ihre Brust und inhalierte den Duft ihres Vaters. »Daddy, I miss you. I love you. I love you. I love you and I miss you and I love you«, sagte sie.
Und dann weinte sie um ihre Mutter, deren Blut in ihren eigenen Adern floss.