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Sommer 1970

LoLo hatte kein Problem mit Pat Cleveland. Sie mochte sie sogar, fand aber die Beachtung ihrer Schönheit zu offensichtlich. Groß, dünn, hübsches Haar. Aber nichts davon unterschied sie von irgendeiner anderen Hellerhäutigen, nach der die Leute sich den Hals verrenkten, nur weil sie nicht wie eine stinknormale farbige* Frau aussah.

Luna dagegen war LoLos Girl. Sie hatte diese riesengroßen alten Augen, mit denen sie aussah wie eine Eule, die sich vor der Dunkelheit fürchtete. Ihre Arme und Beine erinnerten an die Äste einer dürren Eiche im Winter. Sie hatte ein bisschen mehr Farbe, aber keine nennenswerten Titties, Hüften oder einen Hintern wie die Mädchen auf der mittleren Doppelseite der Zeitschrift Jet. Jede Woche leckten farbige* Männer sich die Finger und hinterließen ihre Spucke an den Ecken der Hochglanzseiten. Sie überblätterten rasch die Anzeigen für Zigaretten und die kurzen Storys über Neuigkeiten von Negros*, auf der Suche nach diesen Fotos der halb nackten Marilyn, die gern schwimmt und liest, und Eloise, mit ihren Maßen neunzig-sechzig-neunzig, hinter einem Sekretärinnenschreibtisch an irgendeinem Negro*-College unten im Süden. Schwarze Männer wollten diese Mädchen – echte Frauen mit weichen, üppigen Körpern zum Festhalten. Luna war nichts für sie, und gerade das mochte LoLo an ihr. Es gab ihr ein gutes Gefühl hinsichtlich ihres eigenen ranken und schlanken, verlegenen Körpers, der nicht den Klischees dessen entsprach, wie der Körper einer Negro* Woman aussehen sollte. Was die Männer wollten. LoLo war außerweltlich, eine hübsche Marsianerin, genau wie ihr Idol. Heimlich liebte sie es, wie all ihre Freunde sich sogar angewöhnten, sie Little Luna zu nennen, weil auch sie ein skinny ol’ thang war, genau wie das Supermodel, das es geschafft hatte, die Prominente der weißen Modeindustrie zu werden, obwohl sie ein Negro* war. »Ihr habt sogar dieselben riesengroßen alten Augen«, hatte Cindy eines Nachmittags während ihrer Mittagpause in der Schneiderei gesagt. LoLo saß da und kaute an ihrem Sandwich mit Dosenfleisch, während sie durch eine Ausgabe der britischen Vogue blätterte, die sie im Stapel der Modemagazine versteckt hatte, die ihr Chef als »Inspiration« zur Hand hatte. Dabei war das in Wirklichkeit nur eine unverfängliche Bezeichnung dafür, dass er europäische Mode als seine eigenen »Original«-Kreationen an die wohlhabende, aber deshalb nicht schlauere weiße Klientel weitergab. Sie alle glaubten, überteuerte, maßgeschneiderte Kleider eines persönlichen Designers würden sie unendlich modischer machen. Wie die Damen auf den Gesellschaftsseiten der New York Times und des New Yorker. Und so klaute er weiter Entwürfe, um mitzuhalten. Lunas Ausgabe – die, bei der sie es erstmals auf die Titelseite geschafft hatte – hatte er allerdings weggeworfen. Er sah wohl nichts, das es wert war, von Lunas Körper gestohlen zu werden. Doch Para Lee hatte die Zeitschrift für LoLo aus dem Müll gerettet. Und Mr Deerfield, der wurde nicht schlau daraus.

»Denkst du, ich sehe wirklich wie sie aus?«, hatte LoLo gefragt. Sie hatte den Kopf schräg gelegt, die Augen leicht zusammengekniffen und ihr eigenes Gesicht in Lunas gesucht. Nur einen Moment lang stellte sie sich vor, nicht in diesem Keller, in Amityville, in New York und den Vereinigten Staaten zu sein, sondern wie Luna auf allen vieren über einen Laufsteg zu kriechen oder über ihren Augen das Fingerzeichen für Avedons Kamera zu machen. Vielleicht auch Mick Jagger auf seine dicken Lippen zu küssen und ihn dazu zu bringen, seine Liebe wieder und wieder zu gestehen.

»Hmm, sie ist hübsch, aber das kann doch kein Leben sein«, sagte Para Lee.

»Wie meinst du das?«, fragte LoLo, endlich von den Seiten der Zeitschrift aufblickend.

»Leute lieben es zu sehen, wie dieses Mädchen sich zum Narren macht und durch die Straßen läuft, als hätte sie keinen Funken Verstand«, erklärte Para Lee und zupfte eine unsichtbare Fussel von ihrem perfekt gestärkten, sittsamen Kleid. »Aber sie lieben sie nicht. Das macht einen Unterschied.«

»Tja, für jemand, der nicht geliebt wird, sieht sie aber schon aus wie jemand, der eine gute Zeit hat«, sagte Cindy, die über LoLos Schulter auf die inzwischen schon abgegriffenen Seiten mit den Bildern des Models spähte. »Eines weiß ich: Die Männer, mit denen sie es zu tun hat, sind keine Spießer.«

»Uah, welche Frau sollte denn schon wollen, dass dieser seltsame Andy Warhol ihr schräge Blicke zuwirft? Der behandelt sie, als wäre sie sein Haustier.«

»Bei der Asche, die der hat, wäre seine Peitsche vielleicht gar nicht so schlimm, stimmt’s, Little Luna?«, sagte Cindy kichernd.

LoLo schnitt eine Grimasse, und ihr Magen rebellierte beim Gedanken an eine Peitsche – oder eine körperliche Fessel – zur Kontrolle über Lunas Körper. Ihren Körper. Das war eine der Lieblingsbeschäftigungen ihres Onkels Bear, wenn seine Frau zu Besorgungen weg und das Haus still war. LoLo wusste, dass er sie finden würde, egal wo sie versuchte, sich zu verstecken, egal wie sehr sie sich in irgendwelche Winkel drückte. Er kontrollierte sie mit seinen Händen, einem Gürtel. Nach einer Weile brauchte er dafür nur noch sein Kommando. »Komm her«, sagte er zu LoLo mit einer Stimme, so dunkel wie seine Augen. Langsam näherte sie sich ihm und blieb vor dem Mann stehen. Ihr langer Körper mit seinen knapp ein Meter dreiundsiebzig und in bestrumpften Füßen machte sich vor seiner kleinen, aber muskulös gedrungenen Gestalt unterwürfig klein. Immer versuchte er, mit ihr zu spielen – sie da stehen zu lassen, wartend, ängstlich, wachsam. Nie war sie gefasst auf das, was als Nächstes kam. Und es spielte keine Rolle, dass es wieder … und wieder … und wieder passierte. Nie war sie darauf gefasst.

»Ich bin nicht dran interessiert, das Haustier von irgendwem zu sein«, hatte LoLo gesagt, abrupt die Zeitschrift zugeschlagen und sich wieder an ihre Nähmaschine gesetzt.

Aber heute Abend beabsichtigte sie, die Gazelle in dem Zirkus zu geben, den Tommy in ihrem neuen Haus veranstaltete – eine epische Housewarming Party, um die Trophäen seines Kriegs zu präsentieren. Er wollte, dass alle, die ihn kannten, seine Kinder sahen, das neue Haus, das er angeschafft hatte, damit sie darin herumstreunen konnten, den hübschen Wagen, der davor geparkt stand. Nur zu gern nahm LoLo die Rolle der pflichtbewussten Ehefrau ein, die Fisch frittieren und die besten Makkaroni mit Käse diesseits von Long Island zubereiten konnte, während sie die ganze Zeit über wie Luna aussah und ihr Mann seinen Arm um ihre Taille schlang. Sie hatte sich etwas genäht, das einer Modezeitschrift würdig gewesen wäre: eine kniefreie Version des golden schimmernden Kleids von Paco Rabanne, das in ihrem Shooting von David Bailey für die Vogue Lunas Körper praktisch umfloss. Das Material und ein simples Schnittmuster hatte sie bei Woolworth entdeckt. Dann wirkte sie den Zauber, den sie zwei Jahre lang in ihrem Job bei Deerfield’s Tailoring and Design gewirkt hatte. Dazu legte sie die ausklappbaren Seiten, die sie vorsichtig aus der Zeitschrift getrennt hatte, auf ihren Nähtisch und machte sich ans Werk. Natürlich passte das Resultat wie ein Handschuh. Und natürlich schlüpfte sie, während Tommy bei der Arbeit war und die Kinder Mittagsschlaf hielten, in ihre Kreation und schlich damit durchs Haus. Sie setzte sich anmutig auf die grüne Plüschcouch: den Rücken gerade, die Schultern zurück und die langen Beine von sich gestreckt, dazu streckte sie ihre Füße mit Größe 42 so, dass ihr Körper dreißig Zentimeter länger wirkte. Sie lachte gekünstelt, wedelte mit ihrer Zigarette und warf sich in Positur für die Kamera, bis sie genug hatte. Bis sie die Sehnsucht, aus ihrem neuen Zuhause und von ihren hübschen Babys und dem hart arbeitenden Ehemann wegzulaufen, ausreichend gestillt hatte. Wie Luna, die darauf beharrte, vom Mars zu stammen, wollte auch sie nicht von dieser Welt sein, keine normale Ehefrau, die das normale Leben einer normal-farbigen* Frau führte und nicht wagte, daran zu denken, was hinter den Sternen möglich und was größer als der Mond wäre.

***

»Ich hab nicht gesagt, dass mir das Kleid nicht gefällt. Es ist fantastisch«, meinte Tommy, als er im Kreis um LoLo herumging, die in ihrem golden glitzernden Kleid vor ihm stand. Beim ersten Anziehen hatte sie sich darin wie Venus gefühlt. Jetzt war sie Pluto. Klein, unbedeutend. »Ich kenne nur keine Frau, die sich wie ein Filmstar anzieht, um Fisch für eine Party mit Kartenspielen zu braten.«

Dabei war es doch genau das, was Tommy angeblich an LoLo fasziniert hatte, als er versuchte, ihr Herz zu erobern. Für LoLo war es eine Kleinigkeit, sich an ihre Nähmaschine zu setzen und extravagante Sachen herbeizuzaubern. Damit brachte sie Tommy dazu, sich aufzuplustern, wenn sie beide einen Raum betraten: Er klein und dunkel, mit der Statur eines Weltergewichts und Schultern, die sich wie Kanonenkugeln unter der Anzugjacke wölbten; sie wie ein Model, mit ihren Absätzen eine Handbreit größer und eine Erscheinung wie die Freundin eines Rockstars. Sie trug Etuikleider mit Handschuhen und passenden Kitten Heels, um bei A&P Brot und Zigaretten zu kaufen, als würde sie zum Jazzhören ins Minton’s gehen. Immer eine Show. Schließlich hatte sie schon genug Zeit damit verbracht, durchschnittlich zu sein. Und damit, sich sagen zu lassen, wer und was sie nicht sein konnte. Aber oben im Norden, in den Straßen von New York, da war sie ihre eigene Erfindung. Und die hatte Tommy sich ausgesucht. Es gefiel ihr, der Preis zu sein. Sein Preis. In einer Welt, die ihr Schutz verweigerte, war sie ein Juwel, das er begehrte – und in seinen Armen sicher.

Natürlich hatte er für sie Abstriche gemacht. Ihre körperliche Erscheinung, ihre eher festen als weichen Brüste, die eher kantigen als kurvigen Hüften – nichts davon entsprach seinem Ideal. Aber sie war sexy, verführerisch. Die Sorte Frau, nach der Leute die Köpfe drehten, selbst wenn sie es nicht darauf anlegte, aber vor allem wenn sie es tat. Tommy gefiel diese Aufmerksamkeit. Er führte sie gern an seinem Arm. Damals hatte er mit ihr größer gewirkt, stärker. Wenn jemand ihr Avancen machte, war er schnell zur Stelle. »Sie hat’s nicht nötig, dass du ihr Drinks ausgibst«, hatte er einmal einen potenziellen Verehrer angeknurrt. Der hatte LoLo einen Drink bringen lassen, als sie an der Bar stand, sich zu Where Did Our Love Go von den Supremes wiegte und mit den Fingern schnippte, während sie wartete, dass Tommy von der Toilette zurückkam. Der hatte ihr den Drink, einen ordentlichen Bourbon, sofort aus der Hand geschnappt und ihn dem Kerl vor die Brust gedrückt, der eben mit ausgestreckter Hand ankam, um das Mädchen zu begrüßen, das ihm aufgefallen war. LoLo beeindruckte nicht, wie Tommy den Mann umstieß oder wie bereitwillig er sich schlug, um sich ihrer würdig zu erweisen. Viel besser gefiel ihr, wie er eine Hand auf ihre Hüfte legte und sie hinter sich schob. Als wäre er eine schützende Mauer gegen alles, was ihr drohen mochte. Zwar hatte er das Chaos ausgelöst, aber ihr darin ein Gefühl von Sicherheit vermittelt. Schnell wurde er ihr Superheld, ihr Beschützer.

Aber jetzt, für seine Freunde, in dem Zuhause – dem Leben –, das er geschaffen hatte, da wirkte er größer, wenn sein Fisch gut frittiert und das Bier kalt war. LoLo hatte sich noch nicht wirklich daran gewöhnt, ihre Schnitte zu ändern und sich vernünftigere Stücke auf den Leib zu schneidern. Aber das sollte sie tun, nicht wahr? So sollte sie werden, oder? Jemandes Frau, jemandes Mutter, jemandes Ruhepol. Die Frau, die es wert war, beschützt zu werden.

Also machte sie den Schnitt.

Nur Stunden später hatte sie das Kleid und dessen Grandeur komplett vergessen. Sie schob ihre rechte Hüfte vor und ließ neue Stückchen von mit Maismehl paniertem Barsch ins blubbernde Fett fallen. »Nehmt euch alle mal ein kaltes Bier aus dem Cooler«, rief sie und lächelte strahlend, als Cindy mit ihrem Mann Roosevelt reinkamen und Tommys Bruder Theddo sie auf die Wange küsste. »Ich hab keine Ahnung, wo Tommy gerade steckt. Vielleicht ist er draußen auf der …«

»Ich bin schon hier, Frau«, sagte Tommy und gab ihr scherzhaft einen Klaps auf den Po, der jetzt in einem grün-gelb-braun karierten Minirock steckte. Er liebkoste seine Frau ein bisschen und griff dann um sie herum nach einem frisch frittierten Stückchen Fisch, das zum Abtropfen auf einem Stapel Küchenpapier lag. LoLo schlug ihm auf die Hand.

»Ah-ah! Sonst verbrennst du dir die Zunge«, sagte sie. »Und was soll ich dann mit einem Mann anfangen, der seine Zunge nicht benutzen kann?«

Der ganze Raum brach in »Ohoo« und »hört, hört« aus. Tommy lachte glucksend, dann beugte er sich mit offenem Mund und Zunge in Bereitschaft zu einem Kuss vor. LoLo sah ihn eindringlich an, streckte ihre eigene raus und nahm seine in ihren Mund. »Mhmmm«, machte Tommy anschließend. »Ich hab mir eine sexy Frau genommen, das kann ich euch sagen.« Dann schnappte er sich ein Stückchen Fisch und stopfte es sich in den Mund, bevor LoLo ihn daran hindern konnte. »Und kochen kann sie auch!«

»Jetzt aber raus aus meiner Küche, Mann!«, rief LoLo mit gespieltem Zorn und wich einem weiteren Klaps auf ihren Po aus. »Wenn ich mit dir hier rummache, wird kein Fisch mehr übrig bleiben.« Ihr Lachen kam tief aus dem Bauch und war ehrlich.

Und genau so ging der Abend weiter – locker und unverfälscht. LoLo kümmerte sich um den Fisch, einen Topf voller Rübengemüse mit Schweinshaxe und eine Auflaufform mit ihren geliebten mit Käse überbackenen Makkaroni. Cindy kümmerte sich darum, dass immer genug Bier in der Kühlbox war, und gab sich alle Mühe, Roosevelt von der Brandyflasche fernzuhalten. Sarah tanzte zusammen mit LoLo durch die Küche und drehte mit der Handkurbel Portionen von frischer Vanille- und Erdbeercreme aus der Eismaschine, während sie zu dritt herumalberten und zu Marvin Gaye und den Temptations shaketen.

»Woooo, dieser Marvin hat eine Stimme, die wie ein heißes Messer durch süße Sahne geht, das kann ich euch sagen«, meinte Cindy, als sie die Hüften zu How Sweet It Is To Be Loved By You schwang, das aus dem Plattenspieler dröhnte. »That man smooth

»Hmmm, ich steh auf Eddie Kendricks«, sagte Sarah, während sie an der Kurbel drehte und drehte und drehte, sodass ihr Bizeps im Rhythmus tanzte. »Der müsste nur in meine Richtung knurren, und schon würde ich aus diesen Hot Pants springen.«

Tommy knallte seinen Joker so fest auf den Tisch, das der unter dem Gewicht seiner Hand wackelte. »Run ’em, muthafuckas!«, brüllte er dazu, und das Haus wackelte vor Gelächter. Es erfasste die Frauen in der Küche, die Männer mit breit gespreizten Beinen, Zigaretten zwischen den Lippen und vom Rauch und Alkohol blutunterlaufenen Augen am Tisch und die Paare, die sich im roten Licht, in das die Wände getaucht schienen, zur Musik lasziv aneinanderrieben.

Über die Musik und die lauten Gespräche hinweg konnte LoLo schwach das hohe Geräusch eines weinenden Babys hören. Ein Wimmern, aus dem jeden Moment echtes Gebrüll werden würde. Die Kinder waren schon vor Stunden ins Bett gebracht worden und hatten bereits tief geschlafen, als die ersten Gäste eintrafen. Allerdings hatte LoLo sich keine Gedanken darüber gemacht, wie sie angesichts der ausgelassenen Stimmung in Ruhe weiterschlafen könnten. Jetzt steckte sie den Kopf aus der Küche und richtete lauschend den Blick auf die Türen, hinter der die Kinder schlafen sollten.

»Den Kindern geht’s gut«, sagte Tommy und richtete beim Kartenmischen den Blick auf LoLo, die die Türen nicht aus den Augen ließ. »Lass sie einfach.«

»Ich dachte, ich hätte eins von ihnen gehört«, sagte LoLo.

»TJ dreht sich bloß um, das ist alles. Der beruhigt sich schon wieder. Geh du dich wieder um den Fisch kümmern, bevor er verbrennt. Und sieh zu, dass du fertig wirst, damit ich mit meinem scharfen Weib einen Slow Drag tanzen kann.«

LoLo kicherte und warf Tommy einen Blick zu, von dem sie wusste, er würde danach am liebsten Fisch, Bier, Kartentisch und alle Leute rausschmeißen, um ihre Beine um seine Taille zu schlingen, während sie unter ihm lag.

Der Türknauf von TJs Zimmer wackelte, und aus Raes Greinen wurde Geheul. Tommy und LoLo verbissen sich ihr Verlangen und stöhnten im Chor auf. »Ich muss den Fisch umdrehen«, sagte LoLo schnell und wedelte wie zum Beweis mit ihren bemehlten Fingern.

»Komm schon, Baby«, sagte Tommy. »Ich hab gerade ein Blatt, mit dem ich gewinne. Cindy kann auf den Fisch schauen.«

»Ah, nah, lass Cindy nich’ an ’en Fisch«, lallte Roosevelt und sortierte die Karten in seiner Hand. »Sie versaut ihn bloß. Außer ihr mögt ihn fad und verbrannt.« Roosevelt hatte schon drei Gläser Brandy und ein paar Biere intus. Genau die richtige Mischung, um seine Streitlust zu wecken. Die fand, einmal losgelassen, irgendwie immer ihren Weg zu Cindy. Entweder in Form von ein, zwei Beleidigungen, irgendwelchem Geschrei und manchmal einem Klaps. Wenn Roosevelt erst loslegte, wussten alle, wie heikel die Situation war. »Das Einzige, wozu sie taugt, ist, sich um das Eis in der Kühlbox zu kümmern. Verdammt, wenn ich so drüber nachdenke, kann sie nicht mal das. Mein letztes Bier, das sie mir gebracht hat, war warm.« Und dann zu Cindy: »Hey, bring mir diesmal ein kaltes, verdammt.«

»Hör mal, du musst nicht so mit ihr reden«, sagte Sarah leise. Dabei stellte sie sich vor Cindy. Die war schon so lange ihre Freundin, dass sie ihre Geheimnisse kannte und ihre Wunden versorgte, wenn sie tief und frisch waren.

»Was denkst du, mit wem du redest, Bi …«

»Whoa, whoa, wohoa«, machte Tommy, um das Feuer auszudämpfen, bevor es noch mehr Sauerstoff bekam. Den Blick auf Roosevelt gerichtet, sagte er zu LoLo: »Ich kümmer mich um das Kind. Geh du und mach noch eine Portion von dem Fisch, ja? Man soll nichts unterbrechen, was perfekt läuft. Ich seh nach ihm.«

Unbehaglich und verunsichert griff LoLo nach Cindys Hand und zog sie zurück in die Küche – außer Sichtweite von Roosevelt. Sie wusste, wie das sonst lief. Sarah wusste es auch. Genau wie Tommy, auch wenn es dem ein echtes Anliegen war, sich nicht in die Angelegenheiten eines anderen Mannes einzumischen. Vor allem nicht, wenn’s um Geld und Frauen ging. Oft schon hatte er LoLo geraten, es »einfach auf sich beruhen zu lassen«, wenn sie erzählte, dass Cindy mit einem blauen Auge oder blauen Flecken im Gesicht zur Arbeit gekommen war. »Das ist ihre Sache«, pflegte er zu sagen. »Wenn’s ihr nicht gefällt, wird sie schon gehen.«

»Denkst du, einer Frau gefällt es, von ihrem Mann geschlagen zu werden?«, sagte LoLo an einem Abend zu ihm, als sie bereits viel zu lang über die Angelegenheiten eines anderen Paars gestritten hatten. »Dann musst du verrückt sein!«

»Ich sage ja nicht, dass es ihr gefällt«, hatte Tommy deutlich gemacht und LoLo mit Handgesten zu beschwichtigen versucht. »Ich sage nur, wenn eine Frau die Nase voll hat, wird sie nicht mehr versuchen, die Sache am Laufen zu halten.«

Als sie so zusammen in der jetzt stillen Küche waren, während das Fett brutzelte und Sarahs Kurbel rhythmisch an der Metallschüssel der Eismaschine schabte, da fragte LoLo sich, wann Cindy ihre Versuche aufgeben und anfangen würde, etwas für sich selbst zu tun. Doch sie wussten alle, dass das keine leichte Sache war. Frauen wussten das.

Ein Chor aus »Awww«- und »Hey Little Man!«-Rufen im Wohnzimmer riss sie alle aus ihren Gedanken. »Mmmmhmmm«, machte Sarah und gönnte sich eine Pause vom Kurbeln, in der sie kurz um die Ecke spähte. »Da habt ihr euch wirklich hübsche Babys ausgesucht.«

Cindy schlich zu ihr, um selbst einen Blick zu riskieren. »Sie hat sich auch einen guten Mann ausgesucht. Schaut euch mal Tommy mit den beiden an. Da weiß man, er liebt die Kids.« Und dann an LoLo gerichtet: »Du bist ein Lucky Girl. Du hast einen Mann, der dich liebt und für dich und diese Kinder sorgt, die nicht mal seine sind.«

»Es sind seine«, verbesserte LoLo sie schnell.

Sarah warf Cindy einen tadelnden Blick zu. »Ja, das sind sie«, sagte sie, ohne den Blick von der Übeltäterin zu nehmen. »Eine große, glückliche Familie, das ist es, was wir alle verdienen.«

LoLo wischte sich das Maismehl von den Fingern und ging hinüber, um selbst nachzusehen. Tommy hatte sich in einen kleinen Sessel auf der anderen Seite des Raums gesetzt und hielt TJ und Rae links und rechts im Arm. Rae versteckte ihr Gesicht an seiner Brust. Ihr kleiner Afro, schief und zerdrückt, war praktisch das Einzige, was außer ihrem weißen Strampler und ihrer dicken Stoffwindel noch zu sehen war. TJ saß stoisch da und rieb sich gähnend die Augen. Die Blicke, die Musik, der Geruch von Zigaretten und Joints und verschwitzten Körpern vom Tanzen und Lachen schienen ihm nichts auszumachen. Nicht einmal der Blitz einer Polaroidkamera störte ihn. Monate später sollte TJ seine Mutter in eben diesem Sessel sitzen sehen, während sie das Foto lächelnd betrachtete. Er würde natürlich nicht wissen, dass der Blick von LoLo der war, mit dem sie ihre Familie betrachtete. Diese Einheit, die sie selbst erschaffen hatte und in die sie sich endlich so richtig verliebte. Zum ersten Mal sah sie etwas, von dem sie lange geglaubt hatte, sie würde es nie bekommen. Schutz. Liebe. Eine eigene Familie, die ihre Liebe erwiderte.

***

Später am Abend, als die Kinder wieder fest schlummerten, die letzten Gäste nach halbstündigen Verabschiedungen und Alright nahs gegangen waren und Sarah LoLo geholfen hatte, die Teller und Gläser abzuräumen und die Spuren von Bier und Zigarettenasche wegzuwischen, die Gäste lachend und zu Marvin Gaye tanzend hinterlassen hatten, da wusch LoLo sich das Gesicht, schälte sich aus ihrem Minirock und trat mit dem Tuch, das sie nachts um ihre Haare band, in der Hand ans Bett. Sie war noch zu benommen von Joints und Brandy, um sich Locken einzudrehen, und hatte dazu sowieso keine Lust. Dass sie das getragene, schäbige Tuch, das von Haarfett und Schweiß noch leicht feucht war, auf den Nachttisch warf, war ein Signal. Sie wollte Tommy. Und der würde sich ihr gerne beugen.

LoLo sagte ihrem Ehemann nie ausdrücklich, dass sie Sex wollte, weil sie wusste, so gefiel es ihm. Wie jeder andere Mann erwartete auch er, dass seine Frau unverfälscht ins Ehebett kam. Bereit, ihm in der Dunkelheit wie auch im Licht des Morgens die Führung zu überlassen. Da mochten die Hippies »freie Liebe« und »Revolution« schreien – die Ehefrauen wussten Bescheid. Die Männer hatten das Sagen. Ihr Haartuch auf den Nachttisch zu legen, das war das Maximum an körperlicher Selbstbestimmung, das LoLo in ihren dreiundzwanzig Jahren auf dieser Erde erreicht hatte.

Der Mond warf bläuliches Licht auf Tommys nackte Brust und eins seiner muskulösen Beine. Wie das Bild von einem Mann lag er auf den weißen Laken. LoLo konzentrierte sich auf das Weiße in seinen Augen, als er seinen Körper in ihre Richtung verlagerte, um besser sehen zu können, wie sie ihr Nachthemd aufknöpfte und zu Boden gleiten ließ. Joints und Brandy zogen ihre Marionettenfäden. So legten sie ihren Körper mit gespreizten Armen und Beinen hin, ließen ihn auf der quietschenden Matratze schaukeln und kapitulieren und federn. Stöhn, sagten sie, also tat sie es. Mach deinen Mund weit auf, sagten sie, also tat sie es. Beug den Hals und streich mit deinen Fingernägeln über seinen Schwarzen Rücken, stöhn wieder, sagten sie. Und so tat sie es. Joints und Brandy wussten immer genau, was zu tun war. Joints und Brandy waren laut und wild – was Tommy am liebsten mochte. Joints und Brandy entspannten die Muskeln, erstickten und ertränkten die Erinnerungen. Ließen Abgestorbenes wieder atmen. Sie sorgten dafür, dass Tommy bei heruntergekurbelten Fenstern schnell fahren konnte. Mit heißem, rumpelndem Motor. Sorgten dafür, dass LoLo einfach mitfahren konnte.

Beide lagen am Ende als verschwitzter Haufen aus verdrehten Körpern zwischen Laken und Kissen. Und sie schliefen so tief, dass keiner von ihnen merkte, wie TJ neben ihrem Bett stand. Mit großen Augen starrte er in die Dunkelheit und versuchte, sich einen Reim auf die nackte Haut und alle möglichen Körperteile zu machen. In der rechten Hand hielt er seine nassgepinkelte Pyjamahose, während der nass gesabberte Daumen seiner Linken ihn beruhigte. TJ schaute auf den Penis seines Vaters, dann auf seinen eigenen, auf die Nippel seiner Mutter und anschließend auf seine eigenen. Normalerweise hätte einer von ihnen beim Geräusch seiner sich öffnenden Tür reagiert, aber momentan waren seine Eltern wie tot. Als er seine Mutter an der Schulter anstupste, wurde sie ruckartig lebendig. Ihr Aufschrei und die plötzliche Bewegung ließen auch Tommy wiederauferstehen.

»Mein Gott, Junge, was fehlt dir denn?!«, rief LoLo und blinzelte. Das Weiß seiner Pyjamahose erkannte sie als Erstes scharf, dann seinen untenherum nackten Körper.

Tommy schaute auch, schüttelte den Kopf und ließ sich wieder zurück aufs Bett fallen.

»TJ, Junge, hast du wieder ins Bett gemacht?«

Langsam schüttelte der den Kopf. »Ja.«

LoLo rieb sich den Kopf und ließ ihn noch mal aufs Kissen sinken. Ihre Stirn und ihre Schläfen hatten einen eigenen Pulsschlag. Sie machte die Augen wieder zu. Vielleicht war es nur ein Traum. Ja, ein Traum. Sie würde wieder einschlafen und normal aufwachen. Wie jeder andere Mensch auch. Ausgeruht und in dem Bewusstsein, dass mit der Welt alles in Ordnung war.

Tommy stupste sie an. »LoLo, bring den Jungen aus dem Zimmer. Er riecht nach Pisse.«

Seine Stimme schlug wie ein Hammer gegen ihre Stirn. »Ich kann mich nicht … rühren«, sagte sie und hatte Mühe, die Worte rauszupressen.

Beide Eltern schliefen, betrunken und noch halb bekifft, wieder ein. Die Geräusche der Nacht – Grillen und Zikaden – ließen sie wegdämmern. Da nahm TJ den Daumen aus dem Mund und drückte damit gegen den Arm seiner Mutter. »TJ! Was?!«

»LoLo, geh den Jungen umziehen. Ich versuche zu schlafen, verdammt!«

LoLo setzte sich rasch auf und sagte in ihrem Kopf all die Dinge, die sie am liebsten laut ausgesprochen hätte: Ich auch, verdammt. Hast du irgendwas mit deinen Händen? Sind die zu gut, um kleine verpinkelte Pos abzuwischen? Ich hab den Fisch frittiert, die Küche aufgeräumt, die Böden geputzt, dich gevögelt. Und du kannst diese eine Sache nicht machen? Dann schwang sie die Füße aus dem Bett, zog das Laken mit sich, um ihre Brüste zu bedecken, als sie nach ihrem Bademantel griff. Gleichzeitig konzentrierte sie sich darauf, die Galle, die in ihr hochstieg, in Schach zu halten. TJ stand da und beobachtete, wie LoLo sich in das Kleidungsstück zwängte. Sie fixierten einander mit ihren Blicken und wechselten kein Wort. Auch nicht, als LoLo den Gürtel zuknotete. Sie stand einfach da und schlug dann dem Jungen ohne Vorwarnung mit dem Handrücken ins Gesicht.

Sein Heulen schallte wie eine Sirene durch den Raum, sodass Tommy sich kerzengerade aufrichtete. »LoLo, what the fuck! Warum schlägst du ihn denn?«

LoLo packte den Jungen am Arm und zischte mit zusammengebissenen Zähnen: »Weil er lernen muss, seinen Daddy nicht zu wecken.« Dann zog sie ihn hinter sich her aus dem Schlafzimmer, über den Flur und in sein Zimmer, wo es nach Urin und Angst roch.