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Grace hatte auf dem Weg zum Haus der Brodersens schon Anweisungen bekommen. Deshalb wusste sie, dass sie sich in die Ecke stellen und nicht mehr als atmen sollte, außer wenn Maw Maw ihr etwas anderes auftrug. Sie war da, um zu lernen und bei Miss Ginnys vier anderen Kindern zur Hand zu gehen. Die saßen jetzt alle im Wohnzimmer und flüsterten miteinander, während sie auf das Stöhnen ihrer Mama lauschten. Die Kinder wussten, dass ein Baby kam, aber Genaueres wussten sie nicht, denn Fragen zu stellen war unmöglich. Ihr Vater, streng, brummig und überhaupt kein gesprächiger Typ, würde ihnen sofort auf den Mund hauen und sich auch eher selbst die Hand vor den Mund schlagen, als seinen Kindern zu antworten. Und so blieb ihnen nichts anderes übrig, als wilde Fantasien darüber zu entwickeln, was es mit den Kesseln voll kochendem Wasser auf dem Herd und der Schere, die in die blubbernden Blasen getaucht wurde, auf sich hatte. Oder mit den Bürsten und Stoffquadraten, die Granny, eine Erscheinung ganz in Weiß – vom Kopf bis zu den Strümpfen in den weißen Schwesternschuhen – auf ein kleines Tablett gestapelt hatte. Außerdem reckten sie jedes Mal die Hälse, wenn jemand die knarzende Tür zum Schlafzimmer öffnete. »Vielleicht schneiden sie das Baby aus ihrem Bauch«, flüsterte die Älteste, sie war sieben, als ihr Vater sich außer Hörweite befand. »Und vielleicht binden sie ihren Bauch mit den Tüchern wieder zu«, meinte die Fünfjährige und zog das dreijährige Kleinkind auf ihrem Schoß näher an sich heran. Die Unterlippe des Vierjährigen begann bei dem Gedanken zu zittern, und als kurz danach eine Wehe seine Mama kehlig aufschreien ließ, begann er heftig zu zittern.

»Heul bloß nicht«, warnte die Älteste und verzog missbilligend den Mund, während sie ihrem kleinen Bruder ins Ohr flüsterte. »Daddy wird kommen und dir das Fell über die Ohren ziehen, wenn du nicht tust, was er gesagt hat, und still bist.«

Der kleine Junge presste sich die Hand auf den Mund. Er hatte den Gürtel seines Vaters heute schon zu spüren bekommen und wollte nicht noch mehr davon. Die Siebenjährige überlegte ernsthaft, eine Tracht Prügel in Kauf zu nehmen, um rauszukriegen, warum sie wie ein kleines Baby hier hocken musste, während das kleine Nigger*mädchen im Zimmer bei ihrer Mama sein durfte. Ihr Daddy, der damit beschäftigt war, aus einer großen Holzkiste, Kissen und Decken ein Babybett zu machen, achtete nicht auf das Geflüster, Gejammer und die Spekulationen.

»Aber, aber«, sagte Maw Maw, während sie der stöhnenden Miss Ginny aus dem Bett half. Ihre Fruchtblase war ja schon vor geraumer Zeit geplatzt, und die Wehen kamen inzwischen in gleichmäßigem Rhythmus, doch ihr Körper signalisierte ihr noch nicht, zu pressen. So war es Maw Maws Aufgabe, es der ihr Anvertrauten so bequem zu machen, wie das eben möglich war, wenn der Schmerz wie ein Messer durch ihren Bauch fuhr. Wie bei allen anderen Gebärenden vor Miss Ginny ging Maw Maw auf und ab, redete und erinnerte Ginny an die Süße, die sie jenseits all der sauren Pein erwartete. »Das wird bestimmt eine wunderbare Zeit für Sie und Ihren Mann und das süße kleine Baby. Machen Sie sich wegen der Schmerzen bloß keine Gedanken. Mit Gottes Hilfe haben wir das schon viermal geschafft, und jedes einzelne der Babys kam gesund und kräftig auf die Welt. Das wird bei dem hier ganz genauso sein, sorgen Sie sich da mal nicht. Wir werden gleich wieder so ein Wunder erleben.«

»Yes, Ma’am«, war alles, was Miss Ginny herausbrachte. In ihren Augen stand Furcht.

»Gracie, mach du jetzt das Bett hier«, schaffte Maw Maw ihr freundlich an. »Genau so, wie ich es dir beigebracht habe. Breite das Plastik über die Matratze, dann das Laken und dann das große Kissen, das Maw Maw genäht hat. Es ist in der Tasche da drüben, hübsch sauber. Das machst du als Erstes, und dann kümmerst du dich um die Waschschüsseln. Eine für Miss Ginny hier, eine für mich und eine für dieses neue Bündel der Freude, das bald bei uns sein wird.«

»Yes, Ma’am«, sagte Gracie. Sie machte sich sofort an die Arbeit, während Maw Maw weiter Anweisungen gab.

»Also, Mr Brodersen, ich werde Miss Ginny noch ein bisschen hier herumführen, während meine Enkeltochter das Bett vorbereitet. Und wenn dann auch die Waschschüsseln fertig sind, werden ich und meine Enkeltochter hier, wir werden dann raus in die Küche zu den Kindern gehen, während Sie und Miss Ginny dableiben und noch in Ruhe ein bisschen Zeit miteinander verbringen.«

»Das mach ich nicht«, sagte er kurz angebunden und stellte dabei das Bettchen für das Baby auf einen Hocker neben dem Ehebett.

Miss Ginny stöhnte erneut, als eine Wehe ihren Bauch zusammenkrampfte. Diesmal war der Schmerz so stark, dass er bis in ihre Zehenspitzen ausstrahlte. Sie krümmte sich zusammen, presste eine Hand gegen ihren Bauch und krallte sich mit der anderen in Maw Maws Arm.

»Oh, Mr Brodersen, jetzt genieren Sie sich vor mir nicht! Sie und ihre wundervolle Frau waren doch schon vor diesem Baby allein, und Sie sollten zusammen sein, nur Sie beide, während dieses Kind auf dem Weg in die Welt ist.«

»Ich hab Nein gesagt!«, schnauzte er. Das tiefe Dröhnen seiner Stimme ließ Grace zusammenzucken. Beim Zusammenzucken ließ sie das Kissen fallen. Und das Herabfallen des Kissens ließ Maw Maws Stimme genauso scharf und rücksichtslos werden wie die des weißen Manns.

»Heb das Kissen auf!«, herrschte Maw Maw sie an, obwohl Gracie es so schnell wieder hochgerissen hatte, dass nur eine winzige Ecke den frisch gefegten Teppich auf dem Holzboden berührt hatte. »Du weißt, wie lang wir gebraucht haben, damit der Bezug von dem Kissen steril war. Lass es mich sehen!« Dabei stützte Maw Maw immer noch Miss Ginny, die von einem Fuß auf den anderen trat, um sich vom Schock der letzten Wehe zu erholen.

Grace hielt ihrer Großmutter das Kissen hin, damit sie es inspizieren konnte. Makellos.

»Du musst besser aufpassen, Chile«, sagte Maw Maw, jetzt in sanfterem, freundlicherem Ton. »Alles hier drin muss sauber und steril sein, damit dieses Baby und seine Mama keine Infektionen bekommen, verstehst du?«

»Yes, Ma’am«, nickte Gracie. »Ich werd besser aufpassen, Maw Maw«, sagte sie und legte das Kissen aufs Bett. Die Ecke, die den Boden berührt hatte, drehte sie ans Bettende, wo Miss Ginnys Füße sein würden.

Maw Maw richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den störrischen Ehemann. Aber sie hütete sich, ihn davon zu überzeugen, was eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte und was genau das Richtige gewesen wäre. Seine Frau, nervös, innerlich quasi in Flammen und ängstlich, wie sie ihr neues Baby gebären würde, brauchte die weiche Seite ihres Ehemanns, um all das Harte auszugleichen. Doch dazu war er nicht in der Lage. Etwas nagte an ihm, und Liebe war ein zu schwaches Mittel für die Wunden, die er zu pflegen hatte.

Maw Maw hatte so etwas schon vorher erlebt – überforderte Ehemänner, denen die Nerven durchgingen und die sich bis tief in ihr weißes Fleisch getroffen fühlten, weil sie krampfhaft überlegten, was genau es ihnen abverlangen würde, noch ein hungriges Maul zu stopfen. Maw Maw fühlte mit den Mamas, aber mit den Pas hatte sie wenig Mitleid. Sie schienen an nichts davon zu denken, wenn sie ihren Frauen mit steifem Schwanz nachjagten. Sie weigerten sich ja sogar, die Körper der Frauen heilen zu lassen, bevor sie wieder Sex von ihnen verlangten. Ihn sich einfach nahmen. Und dann kam schon wieder das nächste Baby, nach den ein oder zwei, die sie sich auch schon nicht leisten konnten. Gelegentlich war das dann nicht nur ein Problem dieser Familie, sondern auch Maw Maws. Das war das Schicksal der armen Mary Patterson. Ihr Mann konnte keine Arbeit finden, und die beiden hatten schon im vorletzten Winter reichlich Abende erlebt, an denen sie hungrig geblieben waren, als das Baby kommen sollte. Vielleicht ein paar Maisfladen hier und da, ein paar Bohnen, wenn Mary die Kraft aufbrachte, ein, zwei Ladungen Wäsche für ein paar Münzen zu waschen, die sie dann dem alten Bunch Cleary unten im Laden geben konnte. Aber meist beugten sie sich über kleine Schalen mit Grütze und ein wenig Fett aus Rückenspeck, damit es halbwegs genießbar schmeckte. Dabei drängten sie sich an den Herd, in dessen Bauch nicht mehr als ein paar kleine Stücke Holz brannten, die Joe Patterson sich bei der Suche nach Essen erbettelt hatte. Mary war so unterernährt, als sie mit jenem ersten Baby schwanger war, dass Maw Maw sich gezwungen sah, unten am Fluss ein Extra-Opfer zu bringen. Dabei bat sie die Ahnen, dem Baby Schmerz beim Tod zu ersparen, denn der schien Maw Maw unausweichlich. Leider setzten bei Mary die Wehen in der kältesten Nacht des Jahres ein. Die werdenden Eltern waren so schwach vor Hunger, Erschöpfung und den beginnenden Anzeichen von Unterkühlung, dass in den stillsten Momenten die einzigen Lebenszeichen schwache Wölkchen ihres warmen Atems in der eiskalten Luft waren. Maw Maw war keine drei Schritte ins Haus getreten, als die Leere darin und der Zustand der beiden sie alarmierte. Sofort hatte sie eine Nachbarin gerufen, damit die sie zu sich zurückfuhr, um ein paar Vorräte zu holen: eine überzählige Steppdecke, ein paar eingelegte Rüben, einen Sack Bohnen, Kaffee, Seife. Für das Baby hatte sie schon ein Flanellnachthemdchen genäht, aber sie nahm noch ein paar Stücke Stoff, eine Kiste und sechs kleine Flaschen mit, die sie mit warmem Wasser füllen würde, um dem Baby damit ein behagliches Bettchen zu bereiten. Sie wusste, dass die Knochen seiner Mama nicht ausreichen würden, es vor der Winterkälte zu schützen. Mary Patterson hatte eine schwere Geburt – eine der schwersten, die Maw Maw in all ihren Jahren, in denen sie Babys auf die Welt half, je gesehen hatte. Man darf sowieso keine schwache Frau sein, wenn man ein menschliches Wesen aus seinem Schoß presst. Und Mary? Die war an jenem Tag stark gewesen und hatte sich mit Maw Maws Hilfe zusammengerissen – für ihr Kind, für ihre Familie. Ihr Mann dagegen hatte einfach nur dagesessen. Nutzlos. Wartend. Unfähig. Kein ganzer Mann. Ließ seine arme Frau, die noch ganz wund war, aufstehen und ihm mühsam Essen machen, noch bevor sie ihrem kleinen Baby etwas Milch geben konnte. »Also, Joe, du musst Mary sich ausruhen lassen«, hatte Maw Maw ihm erklärt, als sie nach ein paar Wochen vorbeikam, um nach ihrer Patientin und dem Baby zu sehen. Denn da fand sie das Baby, nass und greinend in der Kiste, während Mary am Herd stand. Muttermilch hinterließ Flecken auf ihrem zerlumpten Kleid, während sie Grütze und eine Portion Brot in eine Schüssel füllte, die sie rasch vor Joe hinstellte.

»Sie ist in Ordnung«, sagte Joe und packte seine Frau auf eine Art und Weise um die Taille, dass Maw Maw beschämt den Blick abwandte. So, dachte sie, sollte kein anständiger Mann sich vor anderen benehmen. »Mary und ich und unser Kleines, wir kommen schon zurecht. Stimmt’s, Süße?«

»Ja, Joe«, antwortete sie leise. Dann drückte sie ihrem Mann die Schüssel auf den Schoß und zog gleichzeitig mit der anderen Hand das Kleid zurecht, das ihr nass am Körper klebte. Sie eilte zu ihrem Baby und legte in einer einzigen schnellen Bewegung ihren frustrierten, hungrigen Sohn an. Der schniefte und schmatzte schon, als Mary sich erschöpft und selbst den Tränen nahe auf das ungemachte Bett fallen ließ.

Drei Wochen später war sie wieder schwanger. Nach weiteren acht Monaten war da ein weiterer hungriger Mund zu füttern. Joe Patterson schuldete Maw Maw noch die fünf Dollar von der ersten Entbindung, als er an ihre Tür klopfte, um zu sagen, dass Marys Fruchtblase geplatzt sei und sie gebraucht würde, um dem zweiten Kind der Familie auf die Welt zu helfen. Ein Kind, das auf die ständig wachsende Liste der Menschen käme, die er nicht ernähren konnte, nicht ernähren würde.

Für Maw Maw waren Babys heilig. Deshalb würde es nie einen Moment geben, in dem sie ihr Handwerk – ein über Generationen weitergereichtes Geschenk – nutzen würde, um ein unerwünschtes Baby zum Sterben aus dem Mutterleib zu holen. Diese Schuld wollte sie keinesfalls auf ihre Seele laden. Doch die Pattersons und nur zu viele ähnliche Paare machten Maw Maw klar, warum manche Frauen diese Entscheidung trafen und warum es überhaupt nicht schwer war, jemand zu finden, der ihnen dabei half, falls die Eltern sich das vorgenommen hatten. Jemand zu verurteilen, das hatte noch kein Baby vor dem Haken einer Engelmacherin gerettet oder die Bauchschmerzen eines Babys beendet.

***

Durch das Schlafzimmerfenster, das zum Hinterhof hinausging, konnte Gracie sehen, wie Mr Brodersen mit einer Axt in der Hand auf ein großes Stück Robinie zuging, das er zu Brennholz machen wollte. Er sah wütend aus, was Grace wunderte. Wer konnte denn zornig auf so ein winzig kleines Ding sein, das frisch auf die Welt kam? Für Grace waren Babys wie Maw Maws Sonntagslimonade – randvoll mit Güte, aus Liebe gemacht. Ein paarmal hatte sie Evermore, das kleine Baby ihrer nächsten Nachbarn, der Dandys, gehütet. Dabei konnte Grace gar nicht genug davon kriegen, wie es duftete, wenn sie mit der Nase sein Kinn anstupste, oder wie es mit seinem zahnlosen Mündchen an ihrer Wange nuckelte, wenn sie ihm die hinhielt. Sein Atem war so süß – das Süßeste, was sie je gerochen hatte. Mrs Dandy warnte sie, das Baby nicht die ganze Zeit über im Arm zu halten. »Sie wird bloß verzogen, wenn du sie die ganze Zeit hältst, und keiner hat Zeit für ein verzogenes Baby«, warnte sie. »Leg sie hin, auch wenn sie quengelt. Sie muss lernen, in dieser Welt ohne das ganze Gehätschel zurechtzukommen.«

»Yes, Ma’am«, sagte Grace dann immer, doch noch bevor Mrs Dandy richtig zur Tür hinaus war, hatte sie die kleine Evermore schon wieder in die Arme geschlossen. Sie war geradezu süchtig danach, und das war nicht mal ihr eigenes Baby. Warum Mr Brodersen sich wegen seines eigenen Kinds so seltsam benahm, konnte Grace sich überhaupt nicht vorstellen.

Miss Ginnys Schrei riss das Mädchen schlagartig aus ihren Gedanken und holte sie zu den Ereignissen hier im Zimmer zurück. Der Frau gaben die Beine nach, und wäre Maw Maw nicht zur Stelle gewesen, wäre sie direkt auf den Boden gestürzt.

»Rubelle«, sagte sie und schien kaum Atem zum Sprechen zu haben. »Es ist so weit. Ich muss pressen.«

»Jetzt warten Sie noch, Miss Ginny. Sie wissen doch, dass Sie nicht pressen dürfen, bis wir sicher wissen, dass es so weit ist. Kommen Sie, ich helfe Ihnen.«

Grace trat von einem Fuß auf den anderen, während Maw Maw die Laken zurückschlug und Miss Ginny auf das mit dem Kissen vorbereitete Bett half. Pflichtbewusst und schnell holte sie den Kessel aus der Küche und schüttete heißes Wasser in die weiße Schüssel, die am Fußende des Betts auf einem Tischchen stand. Darauf hatte Maw Maw alle Gerätschaften aus ihrer Tasche ausgelegt.

»Okay, Miss Ginny, jetzt legen Sie sich auf den Rücken und lehnen sich an ihr Kopfkissen«, wies Maw Maw sie an. »Ich werde sehen, wie weit Sie schon sind. Was auch immer Sie jetzt tun, pressen Sie noch nicht, okay? Wir wollen nicht, dass das Baby stecken bleibt, und wir wollen auch ganz bestimmt nicht, dass Sie sich selbst wehtun, hören Sie? Sie denken ans Atmen, ja?«

Miss Ginny nickte, obwohl der Schmerz einer Kontraktion sie das Gesicht verziehen ließ.

»Okay, dann atmen Sie während der Wehe, ja? Das hilft gegen den Schmerz. Ich werde mir jetzt die Hände waschen, und dann machen wir weiter und kommen zur Sache«, sagte Maw Maw.

Grace kam es wie eine Ewigkeit vor, als Maw Maw sich über diese Waschschüssel beugte und mit großer Sorgfalt und Präzision ihre Hände, Finger, Fingernägel und Unterarme mit einer Bürste schrubbte. Dabei drückte sie die Borsten so fest in die Haut, dass Grace sich sicher war, sie würde sich das Fleisch unvermeidlich von den Knochen reißen. Als sie fertig war, hielt sie die Hände in die Luft und griff dann nach einem der weißen, sterilen Tücher, die sie neben der Schüssel deponiert hatte. Ihr Blick wanderte durchs Zimmer, während sie sich abtrocknete. Schere, Jodtropfen, Vaseline, Seife, sterile Tücher, ein Krug für Schmutzwasser, Waage, Kiste und Kleidung fürs Baby. Sie war zufrieden – alles war bereit.

»Na gut, lassen Sie uns Ihre Beine aufstellen und sehen, was los ist«, sagte Maw Maw, bevor sie sich bückte und Miss Ginnys Nachthemd anhob.

Da bot sich Gracie ein Anblick, wie sie ihn mit ihren dreizehn Jahren noch nie gesehen hatte – sie war sich auch nicht sicher, ob sie das überhaupt sehen sollte: das Untenrum einer erwachsenen Frau. Die Mumu einer weißen Frau. Am nächsten war sie dem Anblick einer Mumu erst vor Kurzem gekommen, als sie sich auf dem Gartenklo ihre eigene angesehen hatte. Wie schon bei den paar Malen vorher hatte sie gewartet, bis Maw Maw zum Fluss hinuntergegangen war. Dann hatte sie sich den alten, trüben Handspiegel genommen und war damit hinters Haus gehuscht, um festzustellen, wie ihr Untenrum jetzt aussah, wo sie doch eine »Frau« mit monatlicher Regel war. Als sie sich das erste Mal betrachtet hatte, war sie acht und von sich aus neugierig gewesen. Sie wollte die Hautfalten, das Rosa und auch das sehen, was so ein komisches Gefühl machte, wenn sie sich ihr Kissen vor dem Einschlafen zwischen die Beine schob oder wenn sie mit dem Zeigefinger daran rieb. Das nächste Mal stibitzte sie den Spiegel, als sie all die feinen, krausen Haare bemerkte, die zwischen ihren Beinen wuchsen. Sie wusste, dass sie auch unter den Armen welche bekommen würde. Den Beweis dafür hatte sie bei ein paar älteren Mädchen an ihrer Schule gesehen, als eines Nachmittags die Jungs Mabel Tawny damit gehänselt hatten, sie würde stinken. »Von den ganzen Haaren riechen deine Achseln wie ein Abfallhaufen, der brennt«, hatte Lewis Melton in der Pause geschrien. Und zwar offenbar nicht, um Mabel über den Geruch zu informieren, sondern um sie vor einem ganzen Schulhof voller Kinder, die alle scharfe Zungen und wenig Mitleid hatten, bloßzustellen. Mabel hatte an dem Tag wegen der ganzen Hänseleien geweint, und Grace hatte fortan versucht, für Lewis unsichtbar zu sein. Außerdem hatte sie im Stillen darum gebetet, dass ihr niemals Haare unter den Achseln wachsen sollten, damit Lewis und auch sonst niemand, sie deshalb ärgern könnte. Doch jener Nachmittag war der Beginn ihrer Obsession für Haare – wo sie wuchsen, warum sie genau dort wuchsen, was passieren sollte, wenn einem welche wuchsen, ob es bei allen so war oder ob Mabel einfach das Mädchen mit dem meisten Pech der Welt war, weil sie unter den Armen Haare hatte, die nach brennendem Abfall rochen. Ausgerüstet mit dem trüben Spiegel sollte Grace ein paar Jahre später feststellen, dass ihre Mumu noch ziemlich so aussah, wie sie es immer getan hatte. Und das obwohl Maw Maw sagte, sie wäre jetzt eine richtige Frau und könnte selbst ein Baby kriegen. Sie hatte erwartet, dass ihre Mumu dicker wäre – rundlicher, wie ihre Hüften und ihr Po, fleischiger, wie ihre Schenkel, wenn auch ein bisschen matter, denn nur die Haut, die an die Sonne kam, war dunkler, glänzender und einfach hübscher als die Bereiche, die unter ihren Jutesack-Kleidern verborgen blieben. Enttäuscht musste sie einsehen, dass sich nicht viel daran geändert hatte, seit sie begonnen hatte zu bluten.

Aber hier war Miss Ginnys Mumu – mit einer ganz anderen Farbe als ihre übrige blasse, weiße Haut und mit Haaren, die eher wie die aussahen, die sie auf dem Kopf hatte, mehr glatt als lockig. Und zwischen den Falten und Lippen waren eine Menge dunkles, krauses Haar, Blut und Schleim zu sehen. Das alles pulsierte oberhalb von Miss Ginnys Poloch.

Grace wurde flau. Da drin war ein Baby.

Maw Maws Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Miss Ginny, gleich werden Sie meine Finger hier am Rand spüren. Wissen Sie noch, wie ich Sie bei den anderen Kindern massiert hab?«

»Yes, Ma’am«, brachte Miss Ginny hervor.

»Okay, gut. Dann halten Sie still und lassen mich damit weitermachen. Das gibt Ihnen ein bisschen Erleichterung und lindert das Brennen. Auch damit dass Baby rauskommt, ohne Sie in Stücke zu reißen. Das wollen wir ja nicht.«

»No, Ma’am.«

Grace sah mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Staunen, wie ihre Großmutter der Patientin mit ihrem Handrücken über die Beine strich und sie ermunterte, »nach unten zu pressen«, als eine Wehe ihren Bauch erfasste. Sie wusste natürlich, was jetzt kam, denn Maw Maw hätte sie niemals bei einer Geburt dabei sein und helfen lassen, ohne vorher genau zu erklären, wie Babys auf diese Welt kamen. Grace kannte die Einzelheiten. Und trotzdem war es etwas ganz anderes, einen Menschen zwischen den Beinen eines anderen herauskommen zu sehen. Maw Maw nannte das »ein Wunder zwischen einer Mama und ihrem Gott«.

»Okay, Miss Ginny, dieses Baby ist fast da«, sagte Maw Maw und legte ihre Hände vor Miss Ginnys mit Vaseline eingeschmierte Mumu. Eine darüber, eine darunter, fast als wolle sie einen Ball fangen. Miss Ginny gab ein tiefes, kehliges Grunzen von sich und presste dann mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte. Der Schub war stark genug, um den Kopf voller Locken aus ihrem Leib zu kriegen. Maw Maw umfasste behutsam den Kopf mit einer Hand, während die andere beherzt die Augen des Babys mit einem sterilen Tuch abwischte und in jedes einen Tropfen Jod gab. Kaum hatte sie das Fläschchen mit den Tropfen wieder auf den kleinen Tisch gestellt, gab Miss Ginny ein letztes Stöhnen von sich und presste den ganzen zappelnden Körper in Maw Maws wartende Hände.

»Puh, schau sich einer dieses hübsche Baby an!«, rief Maw Maw über das Schreien des Kindes hinweg. »Sie haben ein gesundes Mädchen geboren. So wunderschön, wie es nur sein kann. Sieh mal, Gracie!«

Maw Maw hatte recht: Sie war wunderschön – hübscher als all die anderen Brodersen-Kinder, die inzwischen auf der Couch fest schliefen.

»Lassen Sie es mich sehen«, verlangte Miss Ginny so forsch, dass Maw Maw ein klein wenig zusammenzuckte.

»Haben Sie ein bisschen Geduld, Miss Ginny. Lassen Sie mich es für Sie sauber machen, wiegen und anziehen. Damit alles seine Ordnung hat.«

»Bitte«, sagte Miss Ginny, diesmal etwas sanfter.

Verblüfft warf Maw Maw Miss Ginny einen langen, eindringlichen Blick zu, die wiederum einen langen, eindringlichen Blick auf das Baby warf. Maw Maw folgte Miss Ginnys Augen zu dem Kind, und da sah sie es selbst, wie sie Grace später erzählte: Das kleine Mädchen, erst Augenblicke alt und seit einer halben Minute mit frischer Luft in den Lungen, trug die Last der Welt auf den Spitzen ihrer Ohren. Denn die waren braun. Nicht ganz die Farbe von denen, die ein schwarzer Farmpächter hätte, aber eindeutig der Hautton eines Landbesitzers, dessen Familie hart gearbeitet hatte, um den Fehltritt eines Sklavenschinders Generationen zuvor auszumerzen. Mehr brauchte es nicht, damit Maw Maw begriff, was sie sah – und was auf dem Spiel stand.

»Bitte«, flüsterte Miss Ginny flehend.

Maw Maw schwieg. Nervös sah sie Grace an, die zu klug war, um die bedrückte Stimmung im Raum nicht zu spüren. Aber sie war gleichzeitig zu unerfahren, um zu wissen, dass das Baby und Miss Ginny, die weiße Frau eines weißen Mannes mit einer kleinen Farm, sechs hungrigen Mäulern und dem Stolz jedes weißen Mannes vor und nach ihm, in höchster Gefahr schwebten, nachdem sie gerade ein Schwarzes Kind geboren hatte.

»Na, na«, sagte Maw Maw und gab sich größte Mühe, ruhig zu bleiben und Ginny zu beruhigen. »Sie wissen, wir müssen die Nachgeburt aus Ihnen rausholen. Und dann muss ich Ihr Baby wiegen und untersuchen.« Miss Ginny machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber Maw Maw schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab. »Es wird alles gut werden, ja? Machen Sie sich bloß keine Sorgen. Dieses Baby ist gesund. Und hübsch obendrein. Und die ganze Welt wird wissen, dass sie eine Brodersen ist, verstanden?«

Maw Maw wandte sich an Grace. »Chile, geh an Maw Maws Tasche und hol meine Formulare raus. Die legst du auf den Küchentisch. Ich fülle sie aus, wenn wir hier fertig sind.«

»Ich kann die ausfüllen, Maw Maw«, sagte Grace, die gerne ihre Schulbildung unter Beweis stellen wollte.

»Nein, Chile. Das Gesetz schreibt vor, dass ich das ausfüllen muss«, sagte sie. Wieder an Miss Ginny gewandt fügte sie noch hinzu: »Und es schreibt auch vor, dass ich die Geburtsurkunde wahrheitsgemäß ausfüllen muss. Gemäß der Wahrheit, das ist wichtig.«

»Yes, Ma’am«, sagte Miss Ginny nickend. »Und wir wissen, was die Wahrheit in dieser Gegend bedeutet, nicht wahr, Granny?«

Maw Maw nickte, versorgte das Neugeborene, badete es und schlug es in ein Tuch ein. Das verknotete Tuch hängte sie an eine Hakenwaage, hob das Baby damit hoch und beugte sich vor, um die Zahlen ablesen zu können. Sieben Pounds, drei Ounces. »Yes, Ma’am, das wissen wir«, sagte sie schließlich, nahm das Bündel vom Haken und wickelte das Baby in eine Decke. »Jetzt müssen Sie noch ein letztes Mal fest pressen, Miss Ginny, damit wir die Nachgeburt rausbekommen, ich sie kontrollieren und sicher sein kann, dass Sie und die Kleine hier okay sind.«

Die Plazenta glitt blutig, aber intakt zwischen Miss Ginnys Beinen heraus und auf das Geburtskissen, wo Maw Maw sie begutachtete und auf Risse oder andere Beschädigungen untersuchte, die ein Hinweis auf Komplikationen bei ihrer Patientin sein konnten. Alles war in Ordnung. Dafür würde Maw Maw sorgen. So viele andere Male, wenn die kleinen Babyöhrchen Lügen offenbart hatten, hatte Rubelle Adams dafür gesorgt.

»Grace, Baby«, rief sie jetzt ihre Enkelin, die eben wieder ins Zimmer gekommen war, und wickelte die Plazenta in mehrere Blätter der Zeitung vom Wochenende. »Nimm das hier und geh zu dem Birnbaum ganz hinten im Hof. Dann fragst du Mr Brodersen nach seiner stärksten Schaufel und gräbst dort ein schönes, tiefes Loch, verstanden? Da tust du das rein und deckst es gut wieder zu. Du weißt, was du zu tun hast, Kindchen. Darüber haben wir ja gesprochen. Erinnerst du dich?«

»Ja, Maw Maw, ich erinnere mich«, sagte Grace und nahm das Päckchen in Empfang.

Als sie sich umdrehte, um das Zimmer zu verlassen, prallte sie gegen den breiten, harten Körper von Mr Brodersen. Der roch nach Erde und Schweiß und Robinienholz. Und nach Wut.

»Gibt keinen Grund, das unter dem Birnbaum zu vergraben«, sagte er grimmig.

»Oh, Mr Brodersen, natürlich tun wir es unter den Birnbaum – genau wie bei allen anderen Babys vorher. Das wissen Sie doch noch, oder? So ist es Tradition. Schon meine Mama und meine Großmama haben immer gesagt, vergrab die Nachgeburt unter dem Baum, damit deine Babys dich nie und nimmer verlassen.«

Mr Brodersen sah Maw Maw direkt in die Augen und hielt ihren Blick fest, bis sie unbehaglich von einem Fuß auf den anderen trat. Ihre Gummischuhe gaben dabei ein quietschendes Geräusch von sich, das in der stehenden Luft geradezu schrill klang.

Er brauchte nur einen langen Schritt, um sich an der kleinen Grace vorbeizuschieben und direkt vor Maw Maw zu stehen. Er hielt ihren Blick fest, sogar während er ihr das Baby aus den Armen nahm. Seine langen, kräftigen Finger zogen dem Kind die Decke vom Kopf, und erst da riss er den Blick von Maw Maws Gesicht los und schaute in das des Neugeborenen. Lange und eindringlich musterte er ihre schwarzen Locken, Stirn, Nase, Lippen und Hals. Das Baby bewegte den Kopf und ließ seine kleine Zunge sehen.

Mr Brodersen wich einen Schritt zurück, sah erst seine Frau, dann Maw Maw und schließlich Grace an. Seine Stimme verriet keine Spur von Gefühl, doch sein Befehl erschütterte Grace bis ins Mark. »Nimm das Päckchen und verbrenn es im Ofen. Sofort.«