9

Man könnte es einfach einen dummen Zufall nennen, dass Grace beim ersten Sex schwanger wurde. Als sie es nicht darauf anlegte oder überhaupt wusste, wie ein unschuldiges Spiel mit Dale dafür sorgen konnte, dass sie auf dem Weg war, jemandes Mama zu werden. Hattie würde es jedenfalls einfach nur dumm nennen. Schließlich waren ihr, als Grace das erste Mal vor ihrer Tür stand, gleich Drohungen und Warnungen über die Lippen gekommen. »Hier zu sein ist eine Chance«, hatte sie gesagt und eher wütend als wohlwollend geklungen. »Danach verhältst du dich besser auch. Halt den Kopf gesenkt und die Beine geschlossen. Andauernd kreuzen hier törichte Landpomeranzen auf, mit großen Augen und schwupps – neun Monate später sitzen sie wieder im selben Dreck, aus dem sie rauskommen wollten. Die einzige Person, die Babys in dieses Haus bringt, bin ich, verstanden?«

Doch für Grace waren die Vermählung von Samen und Eizelle, die Reise in die Gebärmutter und das Heranwachsen im Bauch – zu einem Baby, zu Leben – ein Wunder. So viel hatte sie schon begriffen, indem sie Maw Maw bei der Arbeit zugesehen hatte. Aber auch dadurch, dass Maw Maw ihr nach und nach erklärt hatte, wie das alles funktionierte – Sex und neues Leben. Grace war ungefähr sieben oder acht gewesen, als sie unerwartet reingestolpert war, während Ben Charles draußen in der Holzhütte Bassey besuchte. Es war die Art von Besuch, die nicht für Kinderaugen gedacht war. Die Art, die unweigerlich eine Erklärung verlangte.

Mit der Aussicht auf ein Stück von Maw Maws noch warmem Shoofly Pie zum Nachtisch hatte Grace sich mit ihren häuslichen Pflichten vor dem Abendessen beeilt. Deshalb war sie auch zur Holzhütte gelaufen, um ein paar Scheite für den Ofen zu holen. Dort war sie auf ihre Mutter gestoßen, die über den Holzstoß gebeugt stand und ihr Kleid bis zur Taille hochgeschoben hatte. Dazu schrie sie, als würde Mr Charles ihr auf den Popo hauen, aber anstatt mit dem Gürtel, machte er das mit seiner Hüfte. Der hatte seine Hose um die Knöchel, und der Gürtel war noch in den Schlaufen. Grace versuchte, sich einen Reim auf das zu machen, was sie da sah. Es war Bassey, die Grace zuerst erblickte, als sie gerade in einem Anflug von Leidenschaft den Kopf verdrehte und nach Bens Hintern griff.

»Get yo lil’ fast ass on!«, schrie sie die Tochter an.

Überrascht ging auch Bens Blick dorthin, wo Basseys war. Er runzelte die Stirn, aber sein Körper machte weiter, als würde dieser Teil von ihm nicht mitkriegen, dass es falsch war, so etwas vor einem kleinen Mädchen zu tun. Bei Bassey schien überhaupt kein Teil ihres Körpers in Erwägung zu ziehen, dass sie damit aufhörte. Grace hatte gesehen, was sie gesehen hatte, aber kleine Mädchen, die im tiefen Süden aufwuchsen, sahen viele Dinge, die für ihr Alter noch nichts waren, und sie lernten, auch darüber hinwegzukommen. Und zwar schnell.

Grace war losgerannt. Sie fürchtete eher um die Sicherheit ihrer Mutter als deren Zorn. Und so suchte sie Schutz in Maw Maws Armen.

»Wo hast du dir wehgetan, Gal?«, fragte die und schob Grace ein Stück von sich weg, um sie von Kopf bis Fuß auf Verletzungen, blaue Flecken oder Blut abzusuchen.

»Der Mann da draußen haut Mama«, sagte Grace. Ihr ganzes Gesicht, von der Stirn bis zu den vollen, rosigen Lippen spiegelte Entsetzen.

»Welcher Mann?«, fragte Maw Maw. Sie schnappte sich ihr Gewehr und war damit schon an der Tür, bevor sie die Frage beendet hatte. Aber sie blieb genauso rasch wieder stehen, als sie zwei Gestalten neben der Holzhütte sah – eine strich ihr Kleid glatt, die andere schloss gerade ihren Gürtel. Beide kicherten, wischten sich den Schweiß ab und atmeten sichtlich schwer. Als Bassey endlich aufblickte und ihre Mutter mit dem Gewehr in der Tür stehen sah, packte sie Ben beim Arm und zog ihn schnell in die andere Richtung. Zurück auf die Straße. Dorthin, wo er hergekommen war.

Maw Maw holte tief Luft und drehte sich langsam zu ihrer Enkelin um. Wahrhaftigkeit, wie schmerzhaft oder peinlich sie auch sein mochte, war ihre Tugend. Sie hätte zwar nicht erwartet, diese Wahrheit ausgerechnet einer Achtjährigen erzählen zu müssen, aber das tat sie jetzt eben.

»Er hat deiner Mama nicht wehgetan, Baby«, sagte sie schlicht und hängte das Gewehr an seinen Platz zurück. »Sie haben nur gemacht, was erwachsene Leute machen.«

»Das versteh ich nicht, Maw Maw«, sagte Grace.

»Tja, wenn ein Mann und eine Frau sich zeigen wollen, wie gern sie einander haben, dann küssen und umarmen sie sich.«

»So wie du mich und Mama küsst und umarmst?«, fragte Grace.

»Es ist ein bisschen anders, Baby«, sagte Maw Maw und zog Grace zu sich heran. »Setz dich hin und lass Maw Maw dir einen Zauber erklären.«

Augen so groß wie Untertassen. Stirnrunzeln. Händeringen. Poom-Pooms und Pippis. Öffnungen und Hineindrängen. Samen und Eier und kleine Babys, aus denen in Bäuchen große werden. Von wo aus sie in Maw Maws Hände fallen, groß und stark werden, jemand suchen, den sie lieben und der sie zurückliebt, und dann mit Poom-Pooms und Pippis neue Babys machen. So wie Bienen andere Blüten hervorbringen. Die Erklärung dauerte fünf Minuten, erstreckte sich aber über das Terrain eines stundenlangen Vortrags.

Nachdem schließlich alles gesagt war und es beklemmend still wurde, stellte Grace die naheliegende Frage: »Und liebt Mama diesen Mann?«

Maw Maw konnte vieles, aber Sex und Lust außerhalb des Kontexts der Ehe einer Achtjährigen zu erklären, das überstieg sogar ihre Fähigkeiten. »Jetzt gehst du mal raus Holz holen, ja?«, sagte sie zu Grace und stand vom Stuhl auf. »Das Abendessen ist bald fertig, und du wirst doch nicht in kaltem Wasser baden wollen, oder?«

»No, Ma’am«, antwortete Grace.

»Na, dann holst du jetzt am besten das Holz fürs Wasser.«

Als Bassey erfuhr, dass Maw Maw ihrer Tochter das mit den Vögeln, Bienen und allem erklärt hatte, war sie empört. »Du hattest kein Recht, dem Baby das zu sagen! Das hätte sie noch nicht alles wissen müssen!«

»Sie hätte es auch nicht sehen müssen, aber so ist es jetzt eben«, gab Maw Maw zurück, unbeeindruckt vom Ton ihrer Tochter.

»Ich hab auch Bedürfnisse, Mama.« Mehr konnte Bassey dagegen nicht vorbringen.

Sie konnte auch nicht wissen, welche Wirkung die ganze Sache sieben Jahre später auf Grace haben sollte. Dass Maw Maws Worte über Babys als Beweis für die Liebe zwischen einem Mann und einer Frau in den Tagen nach ihrem Treffen mit Dale einen Jig in ihrem Kopf tanzen würden. Sie wachte mitten in der Nacht und gegen Morgen aus feuchten Träumen auf. Wenn die Vögel zu singen begannen und Marienkäfer die Blütenbüschel der Hortensien kitzelten, die an das Fenster stießen. Grace rieb sich an Kissen und der Armlehne von Hatties Couch. Dabei wurde ihr Höschen feucht von Vorfreude, Erinnerung und Verlangen. Den Teil – das Verlangen – hatte Maw Maw nicht erwähnt. Aber es war so real wie die Übelkeit, die sich rasch unterhalb ihrer Rippen ausbreitete. So greifbar wie das subtile Rumoren hinter ihrem Bauchnabel, genau an der Stelle, wo ihr Bauch sich anfühlte wie zu Thanksgiving, nachdem sie den Teller weggeschoben hatte, von dem sie Bohnen, Reis, Maisbrot und eine Extraportion Schweinshaxe gierig weggeputzt hatte. Dieses Völlegefühl, der Beweis für den Beweis, stellte sich sofort ein. Grace kannte ihren Körper. Sie kannte ihr Herz. Sie wusste, dass sie Dale und sein Baby wollte – dass sie beide mit der gleichen Inbrunst lieben würde wie Maw Maw und Bassey. Mit einem Gefühl wie Erde unter ihren nackten Füßen und wie Regenbögen, die um die Sonne tanzten.

Grace wollte es ihm sagen – sie wusste nur nicht, wie. Dale war fort – das wusste sie, nachdem sie ein paarmal an seinem Haus vorbeigegangen war. In der Hoffnung, ihn zu sehen oder von ihm gesehen zu werden. Doch es gelang ihr nur, bei der letzten dieser Gelegenheiten Dales Eltern zu sehen, wie sie ihn und seine Koffer in einen hellblauen Buick mit dem Autokennzeichen Georgias schoben. Sie waren zu beschäftigt mit ihrem tränenreichen Abschied, um Grace zu bemerken. In Graces Augen wiederum standen zu viele Tränen, um zu merken, dass jemand – Miss Ada Mae – an sie herangetreten war. Grace roch sie zuerst: den Duft von Gardenien, wie zu Hause. Sie griff nach Graces Arm, und das Mädchen zuckte zusammen.

»Psst … sag nichts«, flüsterte Miss Ada Mae. »Komm mit«, fügte sie leise hinzu und zog Grace behutsam in eine schmale Gasse zwischen einer leeren Bar und einem Möbelgeschäft mit vernagelter Front, die bei den Unruhen zerstört worden war.

»Ich muss nach Hause«, sagte Grace und machte ihren Arm los. »Ich krieg nur noch mehr Ärger, wenn ich hier draußen bleibe.«

»Zerbrich dir dein hübsches Köpfchen nicht, denn ich will dich nicht lang aufhalten«, sagte Miss Ada Mae. »Dieser Junge ist mir nachgelaufen, und ich musste versprechen, dass ich dir das hier gebe«, fügte sie hinzu, während sie Grace einen Briefumschlag in die Hand drückte. Dann legte sie ihre eigenen Hände auf Graces und zog sie an sich. Dabei glitt ihr Blick über all die Striemen und Blutergüsse in Graces Gesicht, dann über Hals, Brust und Bauch, bevor sie ihr wieder in die Augen sah. Und dann wusste sie es auch. Wo eben noch Sorge ihre Lippen umspielt hatte, war jetzt Freude. »Oh, Simbe tanzt!«, sagte sie und legte ihre Hände auf Graces Bauch. »Oh, du süßes, süßes Mädchen. Das ist ein Segen!«

Miss Ada Mae zog Grace an ihren Busen und umarmte sie so, wie Grace es, seit sie die Grenze des Bundesstaats New York überschritten hatte, kein einziges Mal mehr erlebt hatte. Dabei hatte sie sich nach dieser speziellen Zuneigung, dieser Familienliebe, so lange gesehnt. Doch in Hatties kaltem Zuhause war sie nicht zu bekommen, und so begann sie langsam zu verblassen, zu verschwinden. Sogar aus ihren Träumen. Bis da nichts mehr war außer Leere, wo die Liebe einst so selbstverständlich, so rein gewesen war, dass man sie nicht einmal denken musste. Sie existierte einfach.

Zuerst wehrte Grace sich gegen das, was sie nicht mehr erinnerte. Doch das Gedächtnis der Muskeln ist stark und schnell. Kapitulation trat an die Stelle von Widerstand. Grace ergab sich und ihre Tränen Miss Ada Mae.

»Jetzt hör mir mal gut zu, ja?«, sagte die. »Das wird bestimmt kein Spaziergang. Aber du bist nicht allein. Erinner dich daran, was du schon weißt. Du hast alles, was du brauchst, in dir. Ruf in Gedanken deine Leute an, dir beizustehen, Baby. Die kennen gar nichts anderes, als dir gegenüber gut zu sein, Baby.« Sie schob Grace von ihrer Brust weg und sah ihr, während sie beide Hände auf die Schultern des Mädchens legte, eindringlich in die Augen, in die Seele. »Vertrau mit allem, was du in dir hast, darauf, verstanden?«

»Yes’m«, war alles, was Grace herausbrachte.

»Dann geh jetzt.« Sie streichelte Grace ein letztes Mal zärtlich die Wange. Danach würde Grace sich später am Abend sehnen. In einer Atempause von Hatties Zorn hatte sie sich ins Kellergeschoss zurückgezogen, um Dales simple, kurze Nachricht zu lesen: »Ich bin auf dem Weg nach Morehouse, Grace. Tut mir leid, dass wir nicht mehr Zeit hatten.« Die Worte bohrten sich wie ein Pfeil in ihr Herz.

Und dann war Grace wieder allein. Doch diesmal war es anders. Ein Baby – ihr Baby – war unterwegs. Grace wusste, dass ihr kleines Baby und all die Liebe, die dieses Kind in das Leben seiner Mama bringen würde, ihre Rettung wären.

***

Es fiel Grace leicht, ihren wachsenden Bauch vor Hattie und jedem anderen zu verbergen. Sie wuchs einfach zu einer dieser typischen kräftigen Schönheiten vom Land heran – kräftiges Hinterteil, dicke Schenkel und überall etwas Wackelndes. Da passte der Bauch zu einer Sechzehnjährigen aus dem tiefen Süden. Hattie bemerkte es, tat es aber mit ihren üblichen Kränkungen und ihrer barschen Art ab: »Man sieht dir deine Gier an. Vielleicht solltest du dir hin und wieder den Teller nicht so vollmachen«, sagte sie eines Abends, als Grace die Arme hob und ihr Hemd verrutschte, sodass ihr Bauch zu sehen war. Aus dem Augenwinkel sah Hattie die Wölbung und starrte auf die Portion, die Grace auf ihren Teller gehäuft hatte. »Du isst hier, als würdest du Schwerstarbeit verrichten.«

Die Übelkeit, die pulsierenden, schmerzenden Brüste, die aus ihrem abgetragenen BH quollen, das Schmetterlingsflattern, aus dem inzwischen kleine Fersen, Fäuste und ein Po geworden waren, die in ihrer Gebärmutter herumzappelten und gegen ihren Magen, ihre Rippen stießen. Das alles zu verstecken war eine andere Herausforderung. Grace gab sich große Mühe zu erinnern, was Maw Maw für Schwangere bereitgehalten hatte, denen ihre Babys Magenschmerzen gemacht hatten. Wenn es ihr gelang, ohne dass Hattie es merkte, verschaffte sie sich so manches davon. Ein paar Minzblättchen in der Tasche, um darauf zu kauen, wenn sie meinte, sich gleich übergeben zu müssen. Ein-, zweimal kräftig mit den Fingernägeln über eine Zitrone fahren, damit das Aroma unter ihren Fingernägeln blieb. Hin und wieder daran zu schnuppern, das half. Doch Grace wusste, es würde die Zeit kommen, wenn sie es nicht mehr verbergen konnte. Wenn sie nur noch aus Bauch und Fülle bestand. Und aus diesem unbekannten Schmerz, der Mrs Brodersen dazu gebracht hatte, ihren Gott anzurufen und sich so fest an die Seitenwände ihres Betts zu klammern, dass ihre Knöchel weiß wie Baumwolle wurden. Das wäre ihr Schicksal, und es machte ihr Angst. Nicht der Schmerz, aber die Aufdeckung. Die Reaktion. Die Verurteilung, die gewiss kommen würde. Das Geflüster und die gesenkten Augen, die trotzdem ein heißes Loch in ihren Bauch starren würden. Die Leute würden das Wunder nicht begreifen und auch nicht, dass an einem in Liebe gezeugten Baby nur Gutes war.

In der Zwischenzeit wusste Grace, was sie zu tun hatte. Knapp zwei Monate, bevor sie ihr und Dales Kind gebären würde und mit fast keinerlei Besitz oder Autonomie über ihren eigenen Körper wurde Graces Mutterinstinkt aktiv. Sie hockte sich hin, suchte Zuflucht und rief sich immer wieder ins Gedächtnis, was Miss Ada Mae ihr gesagt hatte. Sie betete auf die Art, die sie kannte. Und sie brauchte nicht lange, um zusammenzutragen, was sie benötigte. Da war ein verblichenes Schwarz-Weiß-Foto von Hattie und Bassey, das Grace in einer Schachtel gefunden hatte, die Hattie im Keller versteckt hatte. Maw Maws Pfeife, gefüllt mit Tabak, den Grace aus den Kippen gesammelt hatte, die ihre Tante in Aschenbechern im ganzen Haus ausdrückte. Das Taschentuch mit Blumenmuster, in das Mr Aaron die Pfeife gewickelt hatte, bevor er sie in den Brotbeutel legte, den er Grace für ihre Reise nach Norden gab. Ein Glas Wasser. Ein kleines Stück Maisbrot. Gebete, Gebete. Gebete und Geheimnisse, geflüstert in der Ecke des Schranks für Lumpen, wo Spinnen und alle Erinnerungen Hatties zum Sterben hinkamen, wo aber auch Grace das Leben ihres Kindes verhandelte. Sie erbat Rat und Wohlwollen von ihren Ahnen. Genau wie Maw Maw es sie gelehrt hatte, als sie noch ganz klein war. »Zuerst stellst du dein Essen hin, siehst du?«, hatte Maw Maw liebevoll erklärt, während sie einen Blechteller mit Bohnen und ein paar Löffeln Reis auf das Stück glatte Erde stellte, die die schlichte Kiste aus Fichtenholz bedeckte, in der der Leichnam ihrer Mutter lag. »Und dann nimmst du etwas Besonderes – etwas, das dazu dient, sie zu dir zu rufen, und das dich an denjenigen erinnert, den du vermisst. Das legst du hin, und dann stellst du dein Wasser daneben. Siehst du, wie Maw Maw das macht?«

»Yes’m«, hatte Grace gesagt. Sie spielte aufgeregt mit ihrem Rock, während Maw Maw alles wie ein Bukett auf dem Grab arrangierte.

»Jetzt dankst du ihnen dafür, dass sie über dich wachen und deine Schritte lenken. Sie meinen es gut mit dir. Du musst sie nur wissen lassen, dass du es weißt und es dir ernst ist, verstehst du?«

»Ja, Maw Maw«, antwortete Grace und konnte den Blick nicht von der Pfeife lassen, die zwischen den Lippen ihrer Großmutter hing.

»Das hier ist eine Unterhaltung«, hatte Maw Maw erklärt. Die Worte schienen mit dem Rauch aus ihrem Mund und ihrer Nase fortzuschweben. »Sprich mit deinen Toten. Mach es laut. Deine Leute werden dir antworten und dich zum Licht führen.«

Mit der Zeit und durch Übung lernte Grace, dass weder der Tag noch die Uhrzeit eine Rolle für diese Gespräche spielten. Man musste nicht auf Sonntage, Kirchenbänke oder Zelte bei den Erweckungsversammlungen im Sommer warten. Pfeifen wurden dienstags bei Sonnenaufgang entzündet, oder um Mitternacht, wenn gebrochene Herzen Heilung brauchten. Wenn Geburtstage anstanden, gab man Gemüsesud mit einem Stück Brot in Becher. Und es war nie vergebens, sondern immer der richtige Zeitpunkt, um mit den Toten zu sprechen. Allerdings hatte Maw Maw gewarnt, dass manchmal die Gesellschaft, die man hatte, einem vorschrieb, wann man solche Momente ausleben konnte. Gottesfürchtige Christen konnten einfach nicht sehen, wie heuchlerisch es war, wenn sie auf die Knie fielen und zu einem toten weißen Mann beteten, der nur auf den Seiten eines staubigen alten Buchs existierte, während sie sich gleichzeitig über diejenigen mokierten, die zu den Geistern sprachen, nach denen ihre Herzen sich sehnten. Das machte es zu einer einsamen Angelegenheit, sich um die Toten zu kümmern, und sie um Hilfe zu bitten zu einem stillen, persönlichen Vorhaben. Um also den Zorn von Hattie und allen anderen, die Jesus ihren eigenen Blutsverwandten vorzogen, nicht über sich zu bringen, tat Grace, was sie gelernt hatte: Sie erzählte ihre Geheimnisse nur in stillen Winkeln.

Sorgsam legte Grace ihre Opfergaben zurecht, dann riss sie ein Streichholz an und inhalierte tief. Sie zog an der Pfeife, wie Maw Maw es getan hatte, wenn sie Gräber aufsuchte und mit der Erde, dem Wasser und den Bäumen sprach. Die Hitze des Tabakrauchs brannte in Graces Brust und zwang sie zum Husten, das sie schnell zu unterdrücken versuchte, damit sie Hattie nicht weckte. Die Tante schlief betrunken auf dem Boden direkt über Graces Kopf. Und sie hatte ja schon gesagt, welche Regeln in dieser Hinsicht bei ihr galten: »Glaub ja nicht, dass du dieses Zeug in mein Haus bringst, verstanden?!« Das hatte sie gesagt, als sie erstmals einen Teller mit einem Haufen Sonnenhutblüten und einem Rest Maisfladen auf einem Tischchen im Kellergeschoss entdeckt hatte. Hattie kannte sich aus. Sie wusste außerdem genau, dass die alten Traditionen des Südens keinen Platz in ihrer neuen Ordnung des Nordens hatten. Also hatte sie den Teller samt allem, was darauf lag, in die Abfalltonne aus Metall gleich neben der Hintertür geworfen. Dann war sie zurück ins Haus gestapft und die Treppen hinauf. Grace war weinend zurückgeblieben.

Doch jetzt war das Bedürfnis der schwangeren Grace nach vertrauter Kommunikation größer als ihre Furcht vor der Tante. Ihr Auftrag lautete, Bassey und Urgroßmutter Lizbeth und all die anderen Ahnen anzurufen, die sich um ihr spirituelles Wohlergehen sorgten. Sie hatte vor, ihnen für das Wunder und ihre Gunst zu danken. Für sie selbst. Für ihr Kind – dieses Wunder, das tückisches Terrain überwunden hatte, das eigentlich nicht hätte überleben sollen, aber jegliches physisches Hindernis und einen Berg aus emotionalem Leid überwunden hatte, um zu werden. Um Graces jemand zu werden. Sie hatte nur ein einziges, schlichtes Anliegen: dass ihrem Baby die Freude zuteilwürde, die Grace einst hatte. Danach sehnte sie sich. Nach der Familie, dem Zuhause, das sie brauchte wie die Luft zum Atmen.

In dem Moment, als sie die Bitte vortrug, begann vor ihrem inneren Auge, grobkörnig, dunkel, mit Störungen durchsetzt, ein Film. Grace hatte zunächst Mühe, etwas zu erkennen, und dann war da Bassey. Sie lächelte so hübsch wie eh und je, in ihrem Lieblingskleid, dem weißen mit den Blumen. Sie hielt ihren Bauch mit einer Hand und zeigte mit der anderen auf Graces. Bassey strahlte vor Stolz. Grace konnte das spüren – dieses Kribbeln in ihren Fingerspitzen, den geschwollenen Brustwarzen und den Zehen. Ihr kleines Baby spürte es auch. Es begann in Graces Bauch zu zappeln, als wolle es durch Raum und Zeit rückwärtsschwimmen, um seiner Großmutter ins Gesicht zu sehen. Bassey warf den Kopf zurück und lachte ihr schallendes Lachen – tief aus der Brust.

»Mama«, sagte Grace mit süßer Stimme, »wo ist Maw Maw?«

Bassey Lachen war eine Blume, die wuchs und sich der Morgensonne entgegenstreckte. Ihre Schultern wackelten davon. Sie sagte kein Wort, aber das Glitzern in ihren Augen war wie ein Band präziser Nachrichten, die zu hören Grace jahrelang gewartet hatte: Sie ist stark. Die Ahnen stehen hinter ihr. Mach dir keine Sorgen. Mach dir keine Sorgen. Mach dir keine Sorgen. Konzentrier dich auf deine Freude.

Während sie sich bemühte, der Anweisung ihrer Mutter zu folgen, flog Grace in der zweiunddreißigsten Woche ihrer Schwangerschaft schließlich auf. Verraten hatte sie die Babykleidung, die sie aus Stoffresten genäht hatte, die in Hatties Kellerschrank gelegen hatten. Hattie, die sich langsam wieder in die Gemeinschaft zurückarbeitete, die sie im vorangegangenen Sommer ausgeschlossen hatte, wollte sich selbst ein neues Outfit nähen. Sie hatte sich für etwas aus einem Stoff entschieden, den sie bei Woolworth gefunden hatte. Der sah elegant und raffiniert aus. Perfekt, weil sie es sich nicht mehr leisten konnte, Kleidung von der Stange zu kaufen. Es war die bescheidene Rückkehr zu einem Zeitvertreib, von dem Hattie sich abgewandt hatte. Vor langer Zeit hatte sie ihre Nähmaschine und Stoffe ganz hinten in ihren Kellerschrank geworfen – ein notwendiger Schritt, um in die Black Brooklyn Society aufgenommen zu werden. Aber die Zeiten waren hart, und dass man sie mied, schmerzte nicht nur ihren Stolz, sondern auch ihren Geldbeutel. Es würde vorläufig keine Ausflüge mehr in Kaufhäuser geben – kein Geld, das sie für schöne Kleider und Schuhe ausgab, um zu beeindrucken. Sie musste wieder zu dem zurück, was sie kannte. An diesem speziellen Tag war sie aus einem ihrer Räusche aufgewacht und bereit, sich etwas Schönes zu nähen. Etwas, das ihre Figur betonte und knapp saß. Sittsamkeit würde sie des Nachts ja nicht warm halten.

Die Ordnung im Schrank fiel ihr als Erstes auf. Sie war wütend gewesen, als sie das, was sie eigentlich liebte, in dieses Loch geworfen hatte – auf einen großen Haufen mit einem oder zwei Fotoalben, die Beweis für ihr früheres Leben waren. Ein Leben, das sie zurückgelassen und dessen schiere Existenz sie zu leugnen versucht hatte. All das hatte Hattie in den dunklen Schrank geworfen und die Tür zugeknallt. Aber da waren die Stoffe. Alle ordentlich gefaltet, nach Farben sortiert und aufgestapelt. Ganz oben lagen Sachen, die sie nicht genäht hatte. Winzig kleines Zeug, für das sie auch keine Verwendung hatte. Und gleich daneben eine Reihe von Dingen, sorgsam ausgelegt. Ihr Aussehen, ihr Geruch, ihre Ausstrahlung – all das verband Hattie mit … zu Hause.

Hattie strich mit den Fingern über das Blech des Wasserbechers und auch die Pfeife. Als sie sie an ihre Nase hielt und tief einatmete, fühlte sie sich zurückversetzt nach Black Rose. In den Wald, zu den Gräbern und ins kühle Wasser, das ihre Knöchel umspielte, als sie klein war. Damals hatten sie und Bassey sich an den Händen gehalten, während Rubelle mit den Winden sprach und sie um ihre Gunst bat. Die Erinnerung besänftigte sie. Man könnte sogar sagen, dass sie ihre Mundwinkel eine Spur nach oben zwang. Doch das Gefühl war nicht von Dauer. Rasch nahm ihr Gesicht wieder den Ausdruck von ständigem Unmut an, als ihr Blick wieder auf die Babysachen fiel. Sie nahm sie zwischen Daumen und Zeigefinger, als wären sie ranzig – eklig anzufassen. Das Gleiche tat sie mit dem Schwarz-Weiß-Foto von sich und Bassey. Es war genau jenes, das das dickköpfige Mädchen auf ihren Befehl hin hatte wegräumen sollen. Jetzt hatte sie es wieder direkt vor der Nase. Es erinnerte sie daran, was sie in Virginia verloren hatte. Daran, was sie in Brooklyn versucht hatte zu vergessen. Und dann stand Hattie wie unter Strom.

Außer sich packte sie den Stapel Babysachen, die Pfeife und das Foto und rannte damit, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, um schneller bei Grace zu sein, die Treppe hinauf. Als sie diese in der Küche fand, in einem weiten Blumenkleid und einer dicken Strickjacke, wie sie gerade ein Spültuch ins heiße Seifenwasser tauchte, da schmiss sie die Sachen mit aller Kraft gegen Graces Rücken. Bevor es auch nur begriff, was da vor sich ging, wirbelte Hattie das Mädchen zu sich herum, riss die Strickjacke auseinander und griff nach ihrem Bauch. Graces Bauch, klein, aber kompakt unter dem Stoff und Hatties Fingern, drückte zurück. So traf eine Kraft auf die andere.

Hattie wich zurück, sah Grace ungerührt in die Augen und schlug ihr Mündel dann so hart mit dem Handrücken ins Gesicht, dass Spucke durch die Luft flog und auf dem Frühstücksgeschirr landete, das die junge werdende Mutter eben abgewaschen hatte.

Wäre sie Herrin ihrer Sinne gewesen, hätte sie den Verstand und die Schlauheit benutzt, auf die sie ihr neues Leben oben im Norden aufgebaut hatte, dann hätte Hattie sich noch einmal überlegt, was sie als Nächstes tat. Aber Wut und Neid sind eine berauschende Mischung, die einen Raffinesse zugunsten eines direkteren Vorgehens vergessen lassen kann. Ohne eine richtige Jacke gegen die einstelligen Minusgrade und mit Hauspantoffeln, die auf dem von einem morgendlichen Regenschauer noch feuchten Gehsteig klapperten, stapfte und schlitterte Hattie die Straße hinunter. Dabei zog sie ihre schwangere Nichte hinter sich her, die sich hütete, Widerstand zu leisten, weil sie fürchtete, was dann als Nächstes passieren würde. Als sie schließlich an der Nostrand um die Ecke bogen und auf das Haus der Spencers zusteuerten, da versuchte Grace doch, wenn auch vergeblich, sich aus Hatties Griff zu befreien. »Nein, nein, nein«, war alles, was ihr einfiel, während sie versuchte, sich aus Hatties Fingern zu winden. Doch es nützte nichts. Das Unheil nahm seinen Lauf.

»Lucinda Spencer!«, brüllte Hattie vom Fuß der Treppe. Grace sah sie beschämt an und versuchte weiter, sich loszumachen. »Lucinda Spencer, ich weiß, dass du mich hören kannst! Komm da raus!«

Es gab eine kleine Bewegung der Vorhänge – geschickt, aber erkennbar. Das ließ Hattie nur noch lauter schreien und Grace sich noch ein bisschen heftiger wehren. Aber die Tante kämpfte sich, ihre kleine Verwandte im Schlepptau, die Stufen hinauf. »Lucinda Spencer, wenn du diese Tür nicht gleich aufmachst, dann wird die ganze Nachbarschaft erfahren, welchen Mist dein ach so guter Sohn angerichtet hat, bevor er sich aus der Stadt davongemacht hat. Also komm jetzt lieber raus!«

Es dauerte noch ein Weilchen, bis die Haustür sich langsam öffnete und Mrs Spencer zum Vorschein kam: ungeschminkt und mit Lockenwicklern, in einem bodenlangen Morgenrock und mit einer Zigarette zwischen ihren zarten, manikürten Fingern. Ohne Hattie aus den Augen zu lassen, nahm sie einen langen Zug aus ihrer Zigarette und blies den Rauch aus Mund und Nase direkt ins Gesicht ihres lauten ungebetenen Gasts. Unerschrocken zog Hattie Grace vor sich und riss ihr die Strickjacke auseinander. Mrs Spencer starrte Hattie eine Ewigkeit lang an, bevor sie schließlich den Blick auf die Stelle senkte, wo ihre Erzfeindin ihn haben wollte. Mrs Spencer starrte, während sie einen weiteren Zug aus ihrer Zigarette nahm, und sie starrte noch weiter, während der Rauch über ihre Zunge rollte und wieder aus ihrer Nase quoll. Langsam ließ sie die Augen über Graces Bauch zu den prallen Brüsten bis hinauf zu ihrem Gesicht, der geblähten Nase und über ihre Gänsehaut wandern, bis sie Grace in die vor Furcht und Trauer geschwollenen Augen sah. Sie schnaubte, schnippte ihre Zigarette weg, tat einen eleganten Schritt rückwärts und knallte Hattie und Grace die Tür vor der Nase zu.