29

Rae kämpfte sich mit Skye auf der Hüfte, Wickeltasche und Handtasche über der Schulter, durch den Gang in der Mitte des Zugs. Beide Taschen waren vollgestopft mit Saftpäckchen, Windelhöschen, Büchern, Spielsachen und allen möglichen Snacks, die LoLo ihr noch eingepackt hatte. »Der ganze Junk muss mit der Kleinen mit, weil ich sonst fett davon werde«, hatte sie gemeint. Skye quengelte, weil sie selbst laufen wollte. Aber Rae hasste den Zug und besonders die Haltestelle Queens, diese eklige Bastion von Bazillen aus allen Ecken New Yorks, die sich in Stoffen, Wänden und sogar in der Luft dieses stinkenden Orts festsetzten. Sie wollte nicht, dass ihr Kind hier irgendetwas anfasste.

»Skye, Baby, lass Mommy dich einfach tragen, Honey«, sagte Rae und rückte das kleine Mädchen wieder auf ihrer Hüfte zurecht. Die Wickeltasche war ihr von der Schulter schon in die Armbeuge runtergerutscht, was ihren Arm und beide Taschen, die so unnötig schwer waren, nach unten zog.

»Laufen, Mommy!«, jammerte Skye, die abwechselnd zappelte, um sich schlug und sich einfach hängen ließ, um sich aus dem Griff ihrer Mutter zu befreien.

»Skye, Baby, bitte, hilf Mommy.«

Rae blieb kurz stehen, um sich zu sammeln – ihr Kind und ihre Sachen zurechtzurücken. Dieser abrupte Stopp kam bei einigen ihrer Mitreisenden nicht so gut an. Sie hatten wohl genug mit sich selbst zu tun, als dass sie dieser Frau mit ihrem Gepäck und dem jammernden Kind geholfen hätten. Und nach ihren lauten Seufzern und dem Augenrollen zu schließen, fanden sie anscheinend sowieso, dass die beiden zu viel Platz brauchten. Da war dieser weiße Mann, der hinter ihnen gesessen hatte, ein bulliger Kerl, so breit wie hoch. Anscheinend war es ihm keine Sekunde in den Sinn gekommen, der kleinen Rae dabei zu helfen, die schweren Taschen über ihren Kopf ins Gepäckfach zu heben, bevor der Zug losfuhr. Dann sah er ihr nur genervt zu, wie sie sich abmühte, sie wieder herunterzuholen, um sich aufs Aussteigen vorzubereiten. Jetzt machte er seinem Unmut über Raes Plackerei Luft.

»Come on, Lady!«, rief er und zog die Brauen zusammen.

Verlegen und erschöpft tat Rae ihr Bestes, um Platz zu machen, sich, ihr Kind und ihr Gepäck kleiner zu machen. Sich unterzubringen. Keine Last zu sein. Schließlich hatte sie schon zwei Stunden hinter sich, in denen aller Augen auf sie gerichtet gewesen waren: die des weißen Mannes; die der weißen Frau, die in ihrer Reihe saß, zusammenzuckte und sich mit ihrem ganzen Körper Richtung Gang drehte, als Skye, die sich für die Knöpfe der Polsterung interessierte, versehentlich ihre Hand berührt hatte; und sogar die der jungen, eleganten Schwarzen Frau, die auf der anderen Seite des Gangs eine Reihe weiter saß und immer wieder zu Rae hingesehen hatte, weil Skye sich während der Fahrt gemäß ihres Alters verhalten hatte; ihre Miene war voller – Widerwillen? Verachtung? – gewesen. All das zusammen ließ Raes Kopf pulsieren. Am liebsten hätte sie ihn eingezogen. Dabei war das wohl nur ein kleiner Vorgeschmack auf den Alltag, wenn sie sich allein durchschlagen müsste. Als Mutter mit ihrem Kind, ihrem Gepäck und der ständigen Sorge, alles zusammenzuhalten, während die Welt sie so ansah, kopfschüttelnd und murmelnd, wenn sie sich an den verärgerten Leuten vorbeischob. Als wäre sie, diese Schwarze Frau mit einem Kind und ohne Mann, das Problem. Eine Plage.

Das hielt sie alle drei Nächte wach, die sie im Haus ihrer Eltern verbrachte, während sie über die Worte ihrer Mutter nachdachte und sogar über all die Gründe, aus denen eine Frau bei einem Mann blieb, der fremdging – oder überhaupt bei einem Mann. Sie war sich sicher, dass ihre Mutter ihren Vater und ihre Familie geliebt hatte. Aber nun gab ihre Mutter zu, dass sie ihren Teil der Ehepflichten erfüllt hatte, weil es im Gegenzug etwas gegeben hatte, was ihr und Frauen wie ihr wertvoller erschienen war als Liebe: einen Pakt, bei dem es eher um finanzielle Stabilität, physischen Schutz ging als um irgendein Märchen. Sie fragte sich, ob die Dinge sich stark geändert hatten. Ob die gleiche Logik dafürsprach, dass sie bei ihrem untreuen Ehemann blieb. Der hatte sie lieb gebeten, doch zurückzukommen, hatte immer wieder Bitte gesagt und wiederholt, dass er der Vater ihrer Tochter sei und Töchter ihre Väter im Leben brauchten, was in Raes Augen außer Frage stand. Es war auch der Grund, warum sie sich Romans Bitten – »bitte, komm nach Hause, Baby, ich vermisse dich, ich brauche dich, ich will meine Familie zurück« – überhaupt angehört und sie in ihrem Herzen abgewogen hatte. Und nicht nur dort, sondern auch an der Stelle, wo sie Logik, Statistiken und soziales Kapital verarbeitete. Nachdem sie das alles durchgerechnet hatte, kam sie zu dem Schluss, dass es für sie besser wäre, mit ihrem Kind nach Brooklyn zurückzukehren und die Dinge mit ihrem Mann zu regeln. Besser als sich der Welt als Schwarze alleinerziehende Mutter zu stellen. Und so machte sie es. Was ihr auf dem Weg nach Hause widerfuhr – dass all die Leute rundherum eher missbilligten, wie sie und ihr Kind Platz einnahmen, als Mitgefühl für ihre Plackerei zu zeigen –, bestätigte sie in ihrer Entscheidung.

»Entschuldigen Sie, tut mir leid«, sagte Rae und bemühte sich, Platz zu machen. »Skye! Lass das!«, schrie sie, packte ihre Tochter am Handgelenk und schüttelte sie ein bisschen. Sie machte das in dem Moment, um die Aufmerksamkeit des Kindes zu bekommen. Doch als sie später mit sich allein war und darüber nachdachte, welches Verhältnis sie zu ihrer Tochter hatte, wie sie sie liebte, behandelte, betrachtete, wurde ihr eines klar: Als sie ihr Kleinkind in dem Zug vor diesen Leuten angeschrien hatte, da war es ihr nicht um Skye gegangen. Sie fühlte sich wie ein Judas, weil sie ihr Kind und sich betrogen, die Dornenkrone auf ihr eigenes und das Haupt ihrer Tochter gedrückt hatte.

Ungefähr vierzig Minuten später hatte sie ihre Sachen samt Buggy auf dem Gehweg gestapelt. Rae stand da und kochte. Es nervte sie, dass Roman nicht dran gedacht hatte, so rechtzeitig zu kommen, dass er sie im Bahnhof abholen konnte, um mit Kind und Gepäck zu helfen. Der Typ war Roman nicht – umsichtig, ein Kavalier. Er öffnete keine Autotüren oder ging als Erster durch eine Drehtür oder bestand auch nur darauf, an der Straßenseite zu gehen, um Rae vor dem Verkehr oder was auch immer zu beschützen. Ihm kam auch nur in den Sinn, mit den Einkäufen zu helfen, wenn Rae ihn darum bat. Morgens passierte es, dass er nur seine Seite des Betts machte – also tatsächlich die Kissen ordnete und Decken glatt strich, aber nicht dort, wo Rae geschlafen hatte. Das war Rae schon früh aufgefallen, und sie hatte ein paarmal die Stirn darüber gerunzelt. »Warum machst du nur das halbe Bett?«, hatte sie ihn gefragt. Teils aus Neugier, teils von wegen: What the fuck?

Roman hatte nur mit den Schultern gezuckt. »Ist mir gar nicht aufgefallen.«

Ihn drauf hinzuweisen bewirkte nicht, dass er damit aufhörte. Es war seltsam und störte Rae nicht besonders – bis es das dann irgendwann doch tat.

An jenem Tag am Bahnhof begnügte Rae sich damit, am Bordstein auf Roman zu warten. Sie beobachtete die Leute, die andere abholten, und fragte sich, ob überhaupt irgendwer glücklich war. Ob Freude überhaupt existierte. Natürlich wusste sie, dass New Yorker eine gewisse Patina besaßen – eine schroffe Art, die sie grau, abgenutzt und hart wirken ließ und Falten in ihr Äußeres grub. Mit Fremden tauschte man keine Nettigkeiten aus. Zeit war schließlich so knapp wie Geduld, und Interaktionen konnten ebenso leicht entflammen wie Gesinnungen. Deshalb drängten sich Fremde schnaubend und hektisch aneinander vorbei, nicht viel mehr als die Strecke von A nach B im Sinn.

Wenn jemand vom Flughafen abgeholt wurde, mochte die Sache vielleicht etwas anders aussehen. Als ob eine Person, die den New Yorker Verkehr auf sich nahm und den ganzen Weg von wo auch immer zum Bordstein vor dem Bahnhof zurücklegte, das nicht nur aus zwingenden Gründen tat, sondern vielleicht auch aus Liebe zu dem Menschen, der in den Zug gestiegen war und viele Meilen auf Schienen hinter sich gelassen hatte, um zu der Person hier zu gelangen. In deren Arme. Doch für Rae sah es eher anders aus – nach einer Reihe seltsamer Aktionen von einem Haufen Leuten, die hart und kalt waren. Ein Wagen nach dem anderen fädelte sich in die Parkbucht und kam quietschend vor seinen Passagieren zum Stehen. Begrüßt wurde sich mit ungefähr der Gefühligkeit und Aufmerksamkeit eines Taxifahrers, der einen Gast aufpickt. Mütter konnten sich kaum ein gegrunztes Hallo für ihre Kinder abringen, Arme hingen schlaff an den Seiten, anstatt sich um die Sprösslinge zu schlingen. Ehefrauen drückten Ehemännern ihre Koffer in die Hände und nahmen auf Beifahrersitzen Platz, mit verkniffenen Mündern, während die Männer Kofferraumdeckel zuknallten und sich wieder hinters Steuer setzten. So feierlich wie bei einem Begräbniskonvoi, die Begrüßungen eher flüchtig als warm und herzlich. Die Leute sahen einander kaum an, die Hälse stocksteif, die Gesichter geradeaus gerichtet. Bewegung sah man nur, wenn die Autos sich ruckartig wieder in den Verkehr einreihten und ihre Fracht wieder in die jeweiligen Ecken, in ihren Alltag transportierten.

Rae fragte sich erneut, wer von den Leuten – falls überhaupt irgendwer – einfach glücklich war. Oder ob das einfach typisch für Familien war. Dass Männer und Frauen, die sich irgendwann mal zueinander hingezogen gefühlt und vielleicht sogar geliebt hatten, zuließen, dass alles von den harten Wahrheiten verkrustet wurde. Davon, wer sie wirklich in ihrem Inneren waren, wenn der Lack ab war und keiner mehr darauf schaute, was er wollte. Wenn all die anderen Dinge wichtiger waren. Die Kinder. Das Haus. Der Job. Die Bedürfnisse. Die Lebensumstände. Rae fragte sich, ob das jetzt auch ihr Los war. Sie fragte sich, ob sie so stark sein konnte wie ihre Mutter – ob sie aufbringen konnte, was nötig war, um ihre Ehe zu retten.

Endlich entdeckte sie die Motorhaube von Romans rotem Corolla. Er glitt in die Parkbucht, als ein Paar mit versteinerten Gesichtern in einem Ford Jeep davonfuhr. Roman verkündete seine Ankunft mit einem kurzen Hupen. Skye, die sich endlich mit ihrer Decke und dem violetten Stoffhund eingekuschelt hatte, bewegte sich ein bisschen in ihrem Buggy, träumte dann aber weiter, als wäre die Welt nur himmelblau. Rae zwang sich zu einem starren Lächeln.

Roman sprang aus dem Wagen und kam mit ausgebreiteten Armen angelaufen, um seine Frau zu umarmen. »Ayyyye, da sind ja meine Girls«, rief er. Rae blieb in seinen Armen stocksteif. Sie wollte eigentlich nicht von diesen Händen angefasst werden, die vermutlich den BH geöffnet hatten, den Rae gefunden hatte. Und schon gar nicht wollte sie ihm signalisieren, ihre Rückkehr nach Hause würde bedeuten, sie hätten keine Probleme. Die hatten sie nämlich.

»Hey«, sagte Rae knapp und bewegte sich mit der gleichen Kühle und Dringlichkeit wie all die anderen Passagiere, die vor ihr in Autos gestiegen waren. Genau wie ihre Mutter vor all den Jahren ihren Vater, TJ und sie begrüßt hatte.

»Schau sich einer mein Mädchen an – sie ist k.o., was?«, sagte Roman und schob das Verdeck des Buggys zurück, damit er seine Tochter sehen konnte. »Wie war’s mit ihr im Zug?«

»Es war in Ordnung. Sie war in Ordnung«, erwiderte Rae kurz angebunden.

»Okay, lass mich den Kindersitz vorbereiten. Willst du sie aus dem Wagen heben?«

Die nächsten paar Minuten waren sie stumm und mit fließenden Bewegungen beschäftigt, alles zu verstauen. Roman befestigte dann den Sitz mit dem Sicherheitsgurt und nahm dann Skye aus den Armen ihrer Mutter entgegen. Kaum hatte ihr Vater sie reingesetzt und den Gurt über den Schultern und zwischen ihren Beinen geschlossen, kuschelte sie sich weiterschlafend in den Sitz. Er trat schnell beiseite, damit Rae sie mit ihrer Lieblingsdecke zudecken konnte, bevor sie rasch auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Roman setzte sich hinters Steuer, legte den Gang ein und gab praktisch schon Gas, bevor seine Tür zu war. Keiner sagte ein Wort. Sie fanden nicht die richtigen Worte, und so übernahm die Stereoanlage das. Ella, Billie, Sarah, Abbey – sie alle erzählten Halbwahrheiten und fette Lügen zugunsten von Roman. An sie wandte er sich immer – tauchte in ihre Musik ab –, wenn er ein schweres Herz hatte. Rae kannte das gut. Es war seine Playlist – ein nie endender Strom von CDs mit altem Jazz, die sich neben seiner Stereoanlage zu Hause stapelten –, die er in Dauerschleife gehört hatte, als er und Rae sich kennenlernten. Damals hatte er schwer damit zu tun, die Trennung von seiner ersten Frau zu verwinden.

»Warum hörst du immer diese alte Musik?«, hatte Rae ihn irgendwann gefragt, nachdem sie oft genug mit ihm ausgegangen und ein paarmal bei ihm zu Hause gewesen war. Es gab vieles an ihm, was sie mochte, aber auch manches, an das sie sich gewöhnen musste – und zwar dass er etwas älter war als sie. Vier Jahre, um genau zu sein, was sich für eine Sechsundzwanzigjährige schon sehr erwachsen anfühlte. An der Grenze zu alt. Und er trug mit seiner irgendwie großmütterlichen Musik auch nichts dazu bei, dass sich das änderte.

»Was? Magst du die Jazzgrößen etwa nicht?«, hatte er gefragt. »Ella, Sarah, Miss Abbey Lincoln. Diese Musik ist zeitlos.«

»Sie ist so, so – trostlos. Ihre Stimmen sind schön, versteh mich nicht falsch. Aber niemand klingt glücklich.«

»Sie haben gute Musik gemacht. Mir gefällt sie derzeit einfach, das ist alles. Die Musik passt zu meiner Stimmung.«

»Und was für eine Stimmung ist das?«

Roman hatte eine Weile nach den richtigen Worten gesucht. »Ich dachte, ich würde jetzt glücklich verheiratet sein und eine Familie gründen. Das wünsche ich mir, weißt du? Eine gute Frau an meiner Seite und ein paar Kids. Mein Dad sagt immer, er sei ein besserer Mensch, weil er eine gute Frau gefunden hat. Zwischen meiner Ex und mir ist es aus, und das ist auch gut so. Wir waren nicht gut füreinander. Aber ich schätze, es hängt mir immer noch nach, dass ich nicht habe, was ich wirklich will.«

»Und was wäre das?«, hatte Rae nachgehakt.

»Eine eigene Liebe.«

Rae und Roman hatten schweigend dagesessen, während Abbey Lincoln darüber sang, was hätte sein können. Er war ein bisschen auf dem knarzenden Leder seines Chesterfieldsofas herumgerutscht. Sie hatte reglos und mit geschlossenen Augen, aber mit flatterndem Herzen gelauscht, während sie sich auf ihre Mission einstellte, diesem Mann zu geben, was er sich gewünscht hatte. Was sie gewollt hatte. Nicht lange nach diesem Abend hatte er »I love you« gesagt. Und obwohl das schnell gegangen war, weil sie sich noch nicht so lange kannten, hatte Rae ihm das abgenommen. Sie hatte es zurückgesagt und irgendwann auch selbst gemeint.

Roman trat langsam aufs Bremspedal, als rote Rücklichter ein Muster auf allen vier Spuren des Highways bildeten. Als das Auto langsamer wurde, ließ das Geräusch des Fahrtwinds nach und die Musik wirkte lauter, forscher. Rae kannte das Stück, Ella Fitzgeralds Melancholie in In a Sentimental Mood. Roman streckte die Hand aus und drehte die Lautstärke leiser.

»Rae, Baby, es tut mir so leid …«

»Lass es«, sagte Rae und hob die Hand. »Nicht im Auto. Nicht vor dem Kind.«

»Sie schläft, Babe. Und wir müssen darüber reden. Du musst dir offensichtlich Sachen von der Seele schaffen.«

»Ich bin hier nicht diejenige, die irgendetwas falsch gemacht hat!«, schrie Rae. Rasch dämpfte sie ihre Stimme. »Ich glaube, was ich in der Sache zu sagen habe, wird keine große Offenbarung sein, und ich bin sowieso nicht diejenige, die in diesem Gespräch die Richtung vorgeben sollte.«

»Deshalb entschuldige ich mich ja«, sagte Roman. »Baby, hör mich an, ich weiß – I fucked up

»Das Kind«, zischte Rae. »Red vor ihr nicht so.«

Roman holte tief Luft. »Ich hab’s vergeigt, okay? Aber das sollte nicht das Ende unserer Familie sein. Es bedeutet nicht, dass ich dich nicht liebe, uns, das hier«, sagte er und wedelte mit dem Zeigefinger durch die Luft. »Uns.«

»Du hast jedenfalls eine seltsame Art, das zu zeigen.«

»Nur für’s Protokoll: Ich habe nicht mit ihr geschlafen.«

Rae drehte sich mit dem ganzen Körper zu ihrem Mann, und ihre Augen wurden schmal. »Zu allem Überfluss und in diesem New Yorker Stau sagst du mir jetzt auch noch ins Gesicht, ich wäre blöd?«

»Ich hab nicht gesagt, du wärst blöd.«

»Ich habe einen BH, der nicht mir gehört, in … unserem … Badezimmer gefunden. Unserem Badezimmer!«, schrie Rae.

Ihre Stimme übertönte Ellas, füllte den Innenraum des Wagens aus, verband sich mit den Geräuschen von Verkehr und Fahrtwind und fand direkt in Skyes Ohren. Die riss die Augen auf. Und weil sie nicht genau wusste, wo sie war, wo ihre Mama war, was um sie herum passierte und warum die Luft so dick, die Atmosphäre so angespannt war, brach sie in Tränen aus.

»Oh, Baby, Baby, Mommy ist ja da«, rief Rae, drehte sich auf ihrem Sitz um und legte kurz eine Hand auf das Bein ihrer Tochter. »Ist schon gut, Baby.«

Skye blieb ungerührt. Sie jammerte und holte mit heruntergezogenen Mundwinkeln ein paarmal tief Luft – das Vorspiel zu einem Geschrei in voller Lautstärke.

»Hey, Baby, Daddy ist auch hier, Honey«, sagte Roman und griff mit der rechten Hand nach hinten, um ebenfalls das Bein seiner Tochter zu berühren. »Ist ja gut.«

Skye schaute auf die Hand, die ihren Schuh anfasste, ließ dann ihre Augen über Finger, Arm und schließlich den Hinterkopf ihres Vaters gleiten. Sie lächelte, auch wenn noch Tränen über ihre rundlichen Wangen liefen.

»Wir fahren nach Hause, Kleines«, sagte Roman. »Möchtest du nach Hause?«

»Ja«, sagte Skye mitleiderregend und rieb sich die Augen.

»Okay, wir fahren nach Hause, Honey. Daddy bringt dich nach Hause.«

Rae warf ihrem Mann einen schrägen Blick zu und drehte sich dann so weit zur Tür, wie das überhaupt möglich war, ohne auf der anderen Seite zu landen. So weit weg, wie sie von ihrem Mann kommen konnte, ohne auf den Van Wyck Expressway rauszuspringen. Als sie das Haus ihrer Mutter verlassen hatte, war es ihr sinnvoll erschienen, zu ihrem Mann zurückzukehren. Jetzt war sie sich da nicht mehr so sicher.

***

Es nervte Rae bis zum Erbrechen, dass, wann immer sie das Haus verließ – ob sie sich nur die Nägel machen lassen oder auf Dienstreise gehen wollte –, sie genauso viel Zeit darauf verwenden musste, genaue Anweisungen zu hinterlassen, wie sie brauchte, um sich selbst fertig zu machen. Es bedurfte detaillierter Instruktionen zur Versorgung des Kindes, zu ihrem Zeitplan und dazu, was in der Wohnung zu beachten war. Sie empfand es als extrem anstrengend, nicht nur planen zu müssen, was sie an ihrem jeweiligen Zielort zu erledigen hatte, sondern auch, was passieren musste, während sie weg war. Roman war es nie ein Anliegen, irgendwelche Verantwortung für das zu übernehmen, was er für Kleinigkeiten hielt. Doch genau das war es, worüber Rae beim Kommen und Gehen mit ihm streiten musste. Dass er sich nicht um die Details kümmerte und darum, wie sie zu bewerkstelligen waren, hieß ja nicht, dass sie unwichtig waren, überflüssig, zu vernachlässigen. Und egal, wie sehr sie geschuftet hatte, um die Wohnung sauber, aufgeräumt und wohlgeordnet zu hinterlassen, weil sie hoffte, dadurch das Desaster zu minimieren, das in ihrer Abwesenheit entstehen würde, sie kam immer in das reinste Chaos zurück. So, als hätte Roman Axl Rose und eine lustige Truppe von dessen treuesten Heavy-Metal-Fans zu einer After-Show-Party, die dann völlig aus dem Ruder gelaufen war, zu sich nach Hause eingeladen.

Rae, die wegen des Gesprächs im Auto ohnehin schon auf hundertachtzig war, stand mit dem Kind auf dem Arm hinter Roman, während der am Türschloss nestelte. Sie war erschöpft und angespannt. Nachdem sie die Wohnung betreten hatte, stand sie zunächst wie geschockt, leicht schwankend und erfreulich erleichtert da.

»Ich weiß, dass du immer mit mir schimpfst, weil ich nicht aufräumen würde«, sagte er und ließ die Taschen im Flur fallen. »Aber ich wollte, dass du in eine saubere Wohnung kommst, damit wir uns auf uns konzentrieren können«, fügt er hinzu. Dann nahm er seiner Frau das Kind vom Arm und führte Rae an der Hand in ihr Wohnzimmer. Auf dem Cocktailtisch stand eine große Vase voll mit Callas. Diese Blumen hatte sie vier Jahre zuvor in ihrem Brautstrauß gehabt, als sie »Ja, ich will« gesagt hatte und über den Besen gesprungen war, der jetzt als Erinnerung an ihre Liebe über der Eingangstür hing. »Ich hab dir Blumen gekauft«, sagte er und deutete mit großer Geste wie ein Platzanweiser auf die Blumen. »Warum setzt du dich nicht und entspannst ein bisschen, während ich Skye den Pyjama anziehe. Ich weiß, ihr beiden seid müde. Ich habe auch den Wein gekauft, den du so magst, damit wir davon trinken und reden können. Bin gleich wieder da.«

Rae setzte sich auf die Couch und betrachtete das Spektakel. Sie war nicht beeindruckt. Nachdem sie ein halbes Glas Pinot Grigio getrunken hatte, beschloss sie, ihm genau das zu sagen, sobald er wieder auftauchte. Ohne Kind.

»Wie ist der Wein? Ich hab ihn aus dem kleinen Laden, den du magst. Drüben an der DeKalb«, sagte er, während er sich selbst ein Glas einschenkte. Dann nahm er einen Schluck und gleich noch einen. »Ich weiß, du magst diesen Pinot. Deshalb.«

Rae nickte.

»Also, lass mich doch damit anfangen, dass ich dir sagen will, ich bin froh, dass du zu Hause bist, Baby. Ich hab dich vermisst. Ich habe meine Girls vermisst.«

Rae nickte.

»Wie ich schon sagte, ich weiß, dass ich dich verletzt habe, aber ich will das in Ordnung bringen. Ich will das mit uns in Ordnung bringen.«

Rae nickte.

Roman drehte den Kopf und sah seine Frau aus dem Winkel des linken Auges an. »Also … du hast dazu gar nichts, ähm, zu sagen?«

»Was erwartest du denn, dass ich sage, Roman?«, fragte Rae, wobei ihr Atem den Ärger verriet.

»Ich meine, ich möchte, dass du anerkennst, dass ich mir Mühe gebe.«

»Was erwartest du? Eine Parade?«, fragte Rae.

»Du musst jetzt kein Arschloch sein.«

Rae schüttelte den Kopf und lachte kurz auf. »Dann bin ich also jetzt ein Arschloch? Weil ich für deinen Geschmack nicht beeindruckt genug bin?«

»Ich hab das hier nicht gemacht, um dich zu beeindrucken. Ich habe es gemacht, weil ich dich liebe.«

»Sitz hier nicht und erzähl diese Lüge. Du hast das nicht gemacht, weil du mich liebst. Du hast es gemacht, weil du das Thema wechseln willst. Weil du willst, dass ich nicht mehr sauer auf dich bin.«

»Ich meine, es wäre mir natürlich recht, wenn du meine Entschuldigung annehmen würdest, damit wir weitermachen können.«

»Du denkst, es wäre so einfach? Du bringst ein paar Blumen und Wein und sagst mit sanfter Stimme sorry, und ich vergesse – puff! – einfach, dass du eine Schlampe in unserem Zuhause hattest?«

»Ich sage dir doch, dass hier zu Hause nichts passiert ist«, sagte er. »Das verspreche ich dir, Babe. Schon aus Respekt vor uns.«

»Mit irgendeiner Schlampe zusammen zu sein ist nicht respektlos deiner Frau gegenüber, solange ihr euren Dreck woanders treibt als da, wo deine Frau und dein Kind sich schlafen legen?«

»Hör auf, mir die Worte im Mund zu verdrehen, Rae!«, sagte Roman. Diesmal war er derjenige, der lauter wurde.

Rae presste die Lippen zusammen und sah ihn ausdruckslos an.

»Tut mir leid. Tut mir leid, dass ich geschrien habe«, sagte Roman. Er streckte den Arm aus, um die Hand auf Raes zu legen. Sie zog ihre weg. »Was ich damit sagen will, ist, dass ich denke, wir sollten zu jemand gehen. Zu einer Paartherapie. Bei jemand, der uns helfen kann, das zu bewältigen.«

Das war typisch für Romans Familie, und daher überraschte es Rae auch nicht, dass das Romans große Idee war. Seine Mutter hatte Psychologie studiert, als sie mit seiner älteren Schwester schwanger wurde. Darum hatte sie die Universität verlassen, arbeiten und für das Baby sparen müssen, während ihr Ehemann … tja, Rae wusste noch immer nicht so genau, wovon er damals seinen Lebensunterhalt bestritten hatte, nur dass er nicht wirklich für seine Familie da gewesen war. Letztendlich und mithilfe ihrer eigenen Mutter, die die Kinder hütete, war Romans Mom an die Uni zurückgekehrt, hatte sich dann aber auf Krankenpflege verlegt, weil das schneller ging als Psychotherapie. Aber man konnte nicht behaupten, dass die Frau keine Therapeutin war. Sie mischte sich in die Angelegenheiten sämtlicher Leute ein und belehrte einen oft, dass ein guter Therapeut auf einer Kurzwahlnummer »genauso wichtig ist wie deine Frauenärztin, Honey«. Und vielleicht hätte Rae sich schneller davon überzeugen lassen, wenn Romans Familie nicht ein solches Chaos gewesen wäre. Oder wenn ihre eigene Familie ihr nicht etwas anderes beigebracht hätte: Dass das Lüften der eigenen schmutzigen Wäsche auf offener Straße eine vielsagende Sache war, die eher Schwäche signalisierte, als die echte Chance, unter die Motorhaube zu kriechen und die Dinge in Ordnung zu bringen.

»Einen Therapeuten? Ich brauche keinen verdammten Therapeuten. Was ich brauche, ist, dass du deinen Schwanz in der Hose lässt«, sagte Rae.

»Hör zu, wir haben Probleme …«

»Nein, du hast ein Problem«, fauchte Rae.

»Du bist einfach perfekt, was? Denkst du, du bist die Einzige, die unglücklich ist?«

»Über was zum Teufel musst du denn unglücklich sein?«, fragte Rae.

»Meinst du das jetzt ernst?«, fragte er.

»Todernst, Roman. Jeden Abend kriegst du ein warmes Essen serviert, deine Wohnung ist sauber, all deine Klamotten in all deinen Schubladen sind frisch gewaschen und aufgeräumt, ohne dass du dir auch nur einen Gedanken darüber machen musst«, sagte Rae. Und mit jeder Tätigkeit, die sie aufzählte, wurde ihre Stimme lauter. »Verdammt, du machst nicht das Geringste mit dem Kind, außer ihr morgens und abends einen Kuss zu geben, außer wenn ich dich explizit um irgendwas bitte, und selbst dann kommst du kaum in die Gänge, um es wirklich zu machen. Und das finde ich wirklich seltsam, Roman, weil du noch nicht mal arbeiten gehst.«

»Siehst du? Das ist es. Da haben wir’s.«

»Was? Lüge ich etwa?«

»Ich weise dich darauf hin, dass du meine Arbeit nicht respektierst, Rae. Du respektierst mich nicht.«

»Natürlich respektiere ich deine Arbeit, Roman. Warum sonst sollte ich eingewilligt haben, das Geld nach Hause zu bringen, während du dein Buch schreibst oder was auch immer treibst?«

»Das geht nicht, dass du behauptest, du würdest meine Arbeit respektieren, und sie dann so abtust, als würde ich mir keine Mühe geben«, sagte Roman leise. »Das ist genau, was ich meine. Es fühlt sich für mich nicht so an, als würde meine Frau meine Träume unterstützen.«

Rae machte den Mund auf, um etwas zu sagen, schloss ihn dann aber wortlos wieder. Ihre Hände prickelten – von den Fingerspitzen bis zu den Handgelenken. Ihr Kopf fühlte sich leicht an. An dem großen Panoramafenster ihres Brownstone-Hauses, aus dem man täglich die Nachbarschaft, die Sonne und den Mond sehen konnte, raste ein Krankenwagen vorbei. Der Lärm unterbrach das unbehagliche Schweigen mit so durchdringendem Lärm, dass eigentlich beide hätten zusammenzucken müssen. Aber man kann nicht erschüttern, was unverrückbar ist.

Die beiden waren wie zu Eis gefroren. Und sie starrten auf den losen Faden, der langsam ihre Ehe aufribbeln würde.