20

Sommer 1983

Tommy schüttete Essig in den Eimer voller Wasser und rührte die Flüssigkeit mit dem Finger um, während er LoLo anlächelte. »Das riecht richtig gut, Baby«, sagte er, während seine Frau einen Küchenpinsel in ein Schälchen mit selbst gemachter Barbecue-Sauce tauchte und damit Hühnchenteile und Burger bestrich. Die brutzelten auf einem gemauerten Grill, den Tommy extra für sie gebaut hatte. »Mach nur so weiter, dann wird sogar diese rassistische Cracka-Frau von gegenüber einen Grund finden, mit einem Teller in der Hand vorbeizukommen.«

»Pah, das soll sie versuchen«, sagte LoLo und verzog den Mund. »Die könnte was erleben. Außerdem wüsste sie mit all dem Geschmack sowieso nichts anzufangen.«

Tommy schaute von seinem Eimer hoch und kniff die Augen ein bisschen zusammen. Dann leckte er sich die Unterlippe. »Da hast du recht. Du hast definitiv ’ne Menge für den Geschmack, aber ich hab nicht vor, den mit irgendwem zu teilen.«

LoLo rümpfte die Nase. »Pscht! Bevor noch eins von den Kindern rauskommt und dich hört«, schimpfte sie und pinselte weiter. »Du bist so verdorben!«

Genau in dem Moment kam Rae mit dem Korb fürs Gemüse aus dem Haus spaziert. Sie trug einen dicken Jogginganzug, der eigentlich für den tiefsten Winter gedacht war, nicht für die gut dreißig Grad an diesem Sonntag, als die Familie sich spontan zum Grillen entschlossen hatte. LoLos breites Lächeln machte einem erstaunten Ausdruck Platz, als sie das Outfit ihrer Tochter in Augenschein nahm. »Ist dir nicht heiß damit?«, fragte sie und deutete mit dem Grillpinsel in Raes Richtung.

»Da drüben gibt’s Tiere«, sagte Rae und deutete mit dem Kinn zum Gemüsegarten ihrer Mutter. Dabei schwang sie den Korb in ihrer Hand. Ihr Beitrag zum Essen bestand darin, die grünen Bohnen und ein paar von den weißen Kartoffeln zu ernten, aber sie war immer noch traumatisiert von dem Getier, dem sie bei der Ernte in der Vorwoche begegnet war. Unter anderem zwei große Käfer, die sich an dem Stielkohl satt fraßen, den sie gerade geerntet hatte, und eine kleine grüne Schlange, von der das Mädchen felsenfest behauptete, sie hätte nach ihren Knöcheln geschnappt, als es zwischen den Paprika- und Tomatenpflanzen Unkraut zupfte. Das Geschrei konnten noch die Nachbarn drei Häuser weiter hören, aber natürlich kam keiner nachsehen, denn von dieser Sorte Weißer, hauptsächlich Immigranten, die den gleichen American Dream träumten wie die Lawrences, konnte man nicht erwarten, dass sie ihre Vorurteile überwanden und Schwarzen auch nur die Hand gaben. Tatsächlich hatte LoLo ein stilles »Thank you, Lawdy« gesprochen, weil keiner die Cops zu ihnen gerufen hatte. Das war schon mindestens ein halbes Dutzend mal passiert, seit Tommy und LoLo mit ihrer Familie aus New Jersey in eine ruhige, rein weiße Gegend gezogen waren. Die lag in Gehweite zu einem der größten Arbeitgeber der Region: einer Backwarenfabrik, die ihre Produkte an Supermärkte im ganzen Land verkaufte. Tommy arbeitete dort schon seit zwei Jahren als Mechaniker für die Fließbänder. Es war von einer Beförderung zum Chefmechaniker die Rede, weil er seine Sache so gut machte. Doch für die Nachbarn, von denen viele auch in der Großbäckerei arbeiteten und wussten, wie er sich dort machte, bedeutete das keinen Unterschied. Nigger* blieben Nigger*, und zwar ausnahmslos. Sogar im Jahr 1983.

LoLo schüttelte grinsend den Kopf. »Keins von den Insekten und keine Schlange interessiert sich für dich, Girl. Hier draußen ist es zu heiß für so dicke Klamotten und solches Drama. Also Schluss mit dem Unfug, hörst du?«

»Lass sie in Frieden, Tick«, meinte Tommy lachend. »Mein Baby mag eben keine Insekten und Schlangen, und das muss sie auch nicht. Stimmt’s, Baby?«

Rae kicherte und zupfte an der Jogginghose, die über ihren Oberschenkeln und ihrem Po spannte. Quasi entsetzt hatte LoLo mitansehen müssen, wie sich diese Körperpartie rundete und an die untere Hälfte einer Colaflasche erinnerte, kaum dass Rae ihre Periode bekommen hatte. Sie war richtig prall geworden.

»Hast du heute schon deine Übungen gemacht?«, fragte LoLo ihre Tochter und musterte sie von oben bis unten, was dem Mädchen sichtlich unangenehm war. In irgendeiner Modezeitschrift hatte sie gelesen, dass man sich einen flachen Po antrainieren konnte, indem man sich auf dem Boden liegend rückwärts bewegte. Eine nützliche Info, denn der Artikel behauptete, das würde Frauen helfen, in die schicken Jeans von Jordache zu passen, nach denen alle verrückt waren. LoLo hatte die Übung aufgegriffen, um gegen die weiblichen Kurven zu kämpfen, die ihrer Tochter Aufmerksamkeit von der Sorte bescherten, für die sie nicht bereit war. – Aufmerksamkeit, die eine Vierzehnjährige massiv in Schwierigkeiten bringen konnten.

»Hab ich gerade gemacht«, sagte Rae und trat von einem Fuß auf den anderen.

»Gut, dann geh mir die Erbsen pflücken. Die müssen bald in den Topf, wenn sie zum Essen fertig sein sollen.«

»Yes Ma’am«, erwiderte Rae.

»Nope«, mischte Tommy sich ein und stand neben den riesigen Hortensiensträuchern, an denen er sich zu schaffen gemacht hatte, vom Boden auf. »Erst bin ich mal dran. Deine Mama hatte dich den ganzen Tag in der Kirche für sich.«

Raes kräftige Lippen verzogen sich wie Schmetterlingsflügel. Und schon flog sie in die ausgebreiteten Arme ihres Vaters. »Das ist mein Mädchen«, sagte er, während er sie umarmte und auf die Stirn küsste. LoLo widmete sich schmunzelnd wieder ihrem Fleisch.

»Veränderst du die Farben der Hortensien, Daddy?«, fragte Rae mit Blick in den Eimer und dann auf die beiden großen Sträucher, die voller riesiger runder Blüten in verschiedenen Schattierungen von Blau, Violett und Dunkelrot waren.

»Yep. Ich werd einen von diesen Bad Boys pink färben – als Geschenk für deine Mama«, sagte er und zwinkerte LoLo zu. »Du magst Pink doch auch, oder?«

»Yeah, ich mag Pink. Und die dunkelroten.«

»Tja, dann ist es doch gut, dass wir hier auch dunkelrote haben. Für meine beiden Girls«, sagte er. »Jetzt geh die Erbsen pflücken. Dein Daddy hat Hunger, und wir wollen deine Mama nicht warten lassen.«

Rae grinste, sodass man ihre Zähne sah und hüpfte Richtung Gemüsebeete. An deren Rand blieb sie stehen und hielt Ausschau nach Insekten und Schlangen.

Für das hier hatte LoLo sich in den Bach gelegt. Für etwas, das sich wie Freiheit anfühlte: ein Zuhause, in dem sie sich wohlfühlte, mit ihren Freundinnen und ihrer Kirche – ihrer Community – in der Nähe. Das half ein bisschen. Seit sie vor einiger Zeit zurück nach Long Island gezogen waren, hatte LoLo die Umgebung und die nötigen Werkzeuge, um den Eindruck zu gewinnen, sie hätte eine gewisse Kontrolle über ihr eigenes Leben. Als wäre sie nicht mehr zu gleichen Teilen exotisches Accessoire und potenzielle Bedrohung, wenn sie in ihrem eigenen Garten, ihrem eigenen Schlafzimmer stand.

Natürlich brachte der Umzug in diesen Teil von Long Island zunächst seine eigenen Herausforderungen mit sich. LoLo liebte das Haus, genau wie Tommy das tat, und es machte ihnen keine Sorge, die Rassentrennung im Viertel aufzuheben, nachdem sie das in Willingboro schon überlebt hatten. Außerdem war Long Island vertraut. Heimat. Trotzdem holte Tommy sein Gewehr und die Pistole vom Dachboden. Ersteres stellte er in den Schlafzimmerschrank, Letztere kam in die oberste Schublade seines Nachtkästchens. Das passierte, nachdem er morgens von der Nachtschicht gekommen und einen halben Meter langen Brandfleck auf seinem geschätzten Rasen im Vorgarten entdeckt hatte. »Was meinst du mit, ihr hättet da draußen nur rumgespielt und es wäre ein Versehen gewesen?«, hatte er TJ angeherrscht. Der Sohn hatte letztendlich zugegeben, dass er dabei gewesen war, als das Süßgras, keine drei Meter von ihrem neuen Zuhause entfernt, angekokelt wurde.

»Die haben nur Knallfrösche gezündet, und da ist das Gras ein bisschen angebrannt«, murmelte der inzwischen Siebzehnjährige, als er mit seinen Eltern neben dem verkohlten Rasenstück stand. Einer der drei sah den Vorfall schrecklich nüchtern. Doch die beiden anderen, die aus nächster Nähe den Schrecken mitangesehen hatten, den Weiße mit ein bisschen Holz, Benzin und Streichhölzern unter Schwarzen verbreiten konnten, mussten nicht lange überlegen, um Feuer auf Long Island mit solchen im Süden in Verbindung zu bringen. Daher konnten sie darin gar nichts anderes als eine Drohung sehen. Erst recht nicht, nachdem die Nachbarin von gegenüber rasch einen knapp zweieinhalb Meter hohen Zaun um ihr ganzes Grundstück errichten ließ, keine Woche nachdem der Möbelwagen der Lawrences in die neue Einfahrt gerollt war. Auch keine Woche nachdem er in die neue Schule gekommen war, geriet TJ in eine Rauferei mit einem weißen Jungen. Der hielt es für eine gute Idee, in der Mensa einem Tisch voller Schwarzer Jungs zu erklären, er hätte das Recht, das Wort Nigger* zu benutzen, weil es nicht NIGGER* bedeute, sondern »dumm«.

»Lass mich bloß keinen von diesen fuckin’ white boys jemals in der Nähe meines Hauses erwischen, verstanden?«, drohte Tommy. Alle wussten, wenn Tommy, der eigentlich nicht zum Fluchen neigte, das F-Wort in den Mund mit seinen Goldkronen nahm, dann war es ernst. Die Waffen wurden jedenfalls noch am selben Abend geputzt und geladen.

Abgesehen davon fühlte LoLo sich wohl – in einer Routine, die Balsam für ihre Seele war. Para Lee hatte ihr geholfen, einen Job in einer großen Kosmetikfirma zu bekommen. Dort arbeitete sie am Fließband: Sie musste Lippenstifte vom Band nehmen und das bunte Wachs unter eine Art Bunsenbrenner halten. Eine schnelle, gezielte Drehung von LoLos Handgelenk sorgte dafür, dass reiche Frauen aus den Hamptons oder Hongkong die Packung ihres Vierundzwanzig-Dollar-Lippenstifts öffneten und das überteuerte farbige Wachs makellos schimmern sahen, bevor sie ihre Lippen damit nachzogen. Die stundenlange Plackerei ließ LoLos Handgelenke schmerzen. Sie hatte der Gewerkschaft zu verdanken, dass sie zwei fünfzehnminütige Rauchpausen machen konnte und eine halbe Stunde, um ihr Sandwich mit Dosenfleisch und Tomate mit einer Diät Pepsi runterzuspülen. Doch LoLo genoss die Zeit außer Haus und das kontinuierliche Einkommen, das Tommy sie komplett behalten ließ. Und dann war da noch die Ausbeute von Make-up und Parfüm, das sie von Zeit zu Zeit als Anreiz des Unternehmens für seine Mitarbeiterinnen gratis bekam. Nicht dass sie die Kosmetika gebraucht hätte. An den meisten Tagen trug sie ohnehin nur Lippenstift. Außer sonntags, da tuschte sie sich manchmal die Wimpern, bevor sie ihren Hut für den Kirchenbesuch aufsetzte. Ansonsten war ihr die Body Lotion von Fashion Fair, die nach braunem Zucker und Moschus duftete, lieber als jedes überteuerte Parfüm, das sie bei der Arbeit bekam. Aber das waren gute Geschenke. Fünf Tage die Woche sah LoLos Leben so aus: aufstehen um 5 Uhr, Gesicht waschen, Zähne putzen, anziehen, sich ein Mittagessen machen, Fleisch aus dem Tiefkühler ins Spülbecken legen, damit Rae daraus ein Abendessen kochen konnte, sich ihren Kittel schnappen, um 6:15 Uhr bei der Arbeit sein, sich auf einen Kaffee und Plausch mit Para Lee und ein paar anderen Frauen, die sie nicht interessierten, hinsetzen, um 7 Uhr am Band stehen, um 16 Uhr wieder im Auto sitzen, um 17:30 Uhr zu Abend essen, um 19 Uhr in die Badewanne gehen und um 20:30 Uhr ins Bett, schlafen ab 21 Uhr. Die Freitagabende waren für die Kinder und Tommy reserviert. (Dessen Nachtschichten bedeuteten, dass er das Haus verließ, bevor LoLo von der Arbeit nach Hause kam, und erst zurückkehrte, wenn sie schon gegangen war.) Die Samstage waren fürs Bibelstudium und Bowling mit Leuten aus der Kirche gedacht, und die Sonntage, nun, die gehörten erst einmal Gott, dann wurden sie zur Vorbereitung für die kommende Woche und zum Ausruhen genutzt. Es gab wenig Abweichungen, bis auf den Sex, den LoLo Tommy manchmal am Freitagabend gewährte, und Samstage, wenn sich Freunde im Anschluss ans Bowling spontan bei irgendwem zu Hause trafen. Gelegentlich lud LoLo zu ihnen nach Hause ein. Am meisten liebte sie es allerdings, wenn sie sich in dem Terrassenhaus aus den 1940ern trafen, das einer gewissen George Ragland gehörte. Die kleine, draufgängerische Dame aus Alabama war nach ihrem Vater und Großvater benannt. Und zwar weil sie die letzte von sieben Töchtern war und ihr Daddy sich wünschte, dass ein Kind nach ihm benannt würde.

»Ich hoffe, ihr habt alle eure Pokeno-Pennys zusammen – ich bin heut in Stimmung, sie euch alle abzuknöpfen«, rief jemand, während sie ihre maßgefertigten Bowlingkugeln und Schuhe in die Bowlingtaschen packten und damit angaben, wer den perfekten 300 Punkten am nächsten gekommen war.

»Pscht, nicht so laut. Sonst könnte Sister Shane dich hören«, meinte LoLo kichernd. »Ihr wisst doch, dass Rags sie nicht an ihrem Tisch haben will.«

»Logisch nicht«, pflegte Sarah zu bemerken.

»Ich möchte heute Abend meine Chitterlings genießen, verdammt. Was bringt ihr denn so mit?«

»Mein Geld, damit ich dir deins abknöpfen kann.«

Und so lief das. LoLo hatte sich mit einer lockeren Gruppe von Freundinnen umgeben, die wie sie ihre Wurzeln genommen und in die fruchtbare Erde der Vorstädte von New York verpflanzt hatten. So entstand ein Ökosystem aus Südstaatentradition, Gastlichkeit und Familie. Liebe. So saßen sie dann alle in Rags Küche und warteten darauf, dass sie ihren großen alten Topf voller Chitterlings auftischte. Den Schweinedarm hatte sie sorgsam geputzt und in einem Bad aus Zwiebeln, Salz, Pfeffer und Chiliflocken gedämpft.

»Wheeew, Rags, wann reißt du dich von deinen Töpfen los und lässt uns kosten, was du da zusammenkochst?«, rief Sarah von dem kleinen Küchentisch, der für vier Leute gedacht war, wo sich allerdings sie, Para Lee, Cindy, LoLo und deren Freundinnen Tina, Lori und Annette zusammenquetschten. Alle nippten an Limodosen von Pathmark. Rags hatte schon zwei Schüsseln Popcorn aufgetischt, das sie in dem riesigen Topf geschüttelt und gesalzen hatte, in dem sie sonst ihr Gemüse kochte. Alle Ehemänner hockten im Wohnzimmer und schüttelten ihre Erdnusspackungen von Planters, als wären es Würfel, während sie ein Basketballspiel in dem kleinen Fernsehgerät auf der Konsole laut schreiend kommentierten. Aber wenn die Chitterlings auf dem Herd kochten, konnten weder Erdnüsse noch Popcorn einen knurrenden Magen besänftigen.

»Ihr wollt eure Chitterlings doch, wie es sich gehört, oder?«, rief Rags ihnen über die Schulter zu, während sie den Deckel abnahm. Dampf wallte heraus und ihr direkt ins Gesicht. Sie rührte und schnupperte, nahm ein kleines Stück Fleisch auf ihre Handfläche. Schmatzend probierte sie es und fügte dann noch ein paar Chiliflocken sowie einen Schuss Essig hinzu. »Oooh weee! Dauert nicht mehr lang«, sagte sie und setzte den Deckel behutsam wieder auf den Topf.

»Wir haben dich heute Morgen in der Bibelstunde vermisst«, sagte Para Lee. Geistesabwesend mischte sie ein Kartenspiel, das sie später fürs Pokeno benutzen würden, und nippte dann an ihrer Orangenlimo.

»Yeah, also, ich hatte heute ein paar Besorgungen zu erledigen«, sagte Rags. Sie wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab, bevor sie sich mit ihrem gedrungenen Körper und ausgestreckten Fingerspitzen zum zweiten Bord ihres Küchenschranks reckte, um an die Schüssel zu kommen. So, als ob sie sie diesmal erreichen könnte. Sie schaffte es nicht. »Kent!«, rief sie nach ihrem Enkel. Sie drehte sich zur Kellertür und lauschte auf seine Schritte. Unzufrieden, weil er nicht schon zwei Sekunden, nachdem sie ihn gerufen hatte, die Treppe heraufkam, rief sie noch mal. »Kent! Komm mal rauf, Junge!«

Kent, ein sehr gut aussehender Fünfzehnjähriger mit markantem Kinn und langen Beinen hatte seine Großmutter beim ersten Mal nicht gehört, weil Rae und Medina aus voller Kehle bei Stacey Lattisaws Let Me Be Your Angel mitgesungen hatten. Aber in der Sekunde, als er sie hörte, nahm er immer drei Stufen auf einmal. Die Mädchen folgten ihm dicht auf den Fersen. Allen dreien war sehr bewusst, dass sie den Bibeltreuen da oben keinen Anlass geben sollten, sich zu fragen, was sie eigentlich im Keller anstellten. Denn auch sie genossen die Lockerheit des Samstagabends – wenn die Erwachsenen ihre Schultern lockerten, ein bisschen lachten und ihren Kindern nicht dauernd im Nacken saßen. Dieses kleine bisschen Freiheit wollten sie keinesfalls aufs Spiel setzen. »Ja, Grandma?«, sagte Kent, kaum dass er in der Tür auftauchte.

»Gib mir mal die Schüssel da runter«, sagte Rags und zeigte auf das Bord, das für sie unerreichbar war, sich für ihren Enkel dagegen auf Brusthöhe befand.

»Wie viele, Grandma?«, fragte er.

»Esst ihr alle was?«, erkundigte sich Rags, die an ihrem Enkel vorbei die beiden Mädchen ansah, die soeben in der Küche erschienen waren.

»Nein, danke«, sagte Medina und rümpfte die Nase.

»Willst du die Chitterlings immer noch nicht probieren, Gal?«, fragte Rags. Kopfschüttelnd drehte sie sich zu ihren Freundinnen um. »Wer erzieht denn diese Kinder dazu, dass sie über so gutes Essen, so eine Delikatesse die Nase rümpfen?«, sagte sie an niemand bestimmten gerichtet. Die Frage löste einen Chor aus: »Chile, die haben keine Ahnung«, »ich ess ihre Portion«, »das ist ja Frevel und Schande!«.

»Ich nehme etwas, Miss Rags«, meldete Rae sich zu Wort. Sie stand links neben Rags und ließ ihren Blick über den Herd schweifen.

»Weißt du denn, was Chitterlings sind, Gal?«, fragte Rags, während sie einen Schöpfer voll in eine der Schüsseln füllte, die Kent auf die Arbeitsplatte gestellt hatte.

Rae hielt sich die Schale unter die Nase und inspizierte deren Inhalt genau. »No, Ma’am«, sagte sie und nahm die Plastikgabel, die Rags ihr hinhielt. Dann probierte sie.

Rags sah ihre Freundinnen an, die am Tisch lachten und genossen, was sich da vor ihnen abspielte. Dann grinste sie ironisch: »Schweinedarm. Das, wo sie ihr Booboo durchschieben. Willst du es trotzdem noch?«

Rae schaute in ihr Schälchen, dann zu Miss Rags und schließlich zu ihrer Mutter, die mit verschränkten Armen am Tisch saß und sich offenbar amüsierte. Das Mädchen zuckte mit den Achseln und fuhr wieder mit der Gabel in die Masse. Ohne Zögern. »Kann ich was von der scharfen Sauce haben?«, fragte sie und hob eine Gabel des dampfenden Fleischs an ihre Lippen.

»Das ist mein Baby, ganz recht!«, rief LoLo. Die Freundinnen klopften ihr auf die Schulter und lachten weiter, während Rae verputzte, worüber so viele die Nase rümpften. »Sie weiß, was gut ist.«

»Das Mädchen ist richtig erzogen!«, verkündete Rags aus vollem Herzen. »Da hast du, Baby«, meinte sie und schüttelte etwas von der roten Flüssigkeit in Raes Schüssel. »Geh damit wieder nach unten. Hier oben haben die Erwachsenen was zu bereden.«

Und dann aßen sie rasch, lachten laut und erzählten sich die unglaublichen Geschichten aus ihrer Gemeinschaft. LoLo ging von all dem das Herz über. Sie dachte nicht an das Wasser, nicht an die acht Jahre, in der sie in dieser hübschen Hölle festgesessen hatte, und daran, was es sie gekostet hatte, von dort wegzukommen. Ihre Freundinnen beschützten sie großteils vor diesen Erinnerungen, denn dazu hat man ja Freundinnen. Nur manchmal wurde irgendwas gesagt oder getan, sodass sich eine düstere Stimmung wie ein Leichentuch über die ausgelassene Gesellschaft legte. Heute war einer dieser Abende.

»Was hab ich denn in der Bibelstunde heute verpasst?«, fragte Rags, nachdem sie ihre sieben Zehn-Cent-Münzen in die Tischmitte gelegt und ihre Pokeno-Karten vor sich hatte.

»Oh! Heute ging es um Samson – Buch der Richter 13 bis 16«, sagte Sarah.

»Es gab auch eine gute Diskussion«, meldete Para Lee sich zu Wort, bevor sie ihr Geld in den Pott warf. »Der alte Samson hat Gott nicht gehorcht und bekam seine gerechte Strafe, was? Geschah ihm recht, nachdem er so vor den Frauen angegeben hat. Vor allem vor dieser Delilah.«

»Wir haben auch richtig gut darüber diskutiert, was es für Samson bedeutete, die Säulen umzustoßen und alle zu töten, sich selbst eingeschlossen«, warf Sarah ein. »Ich muss mal Diakon Claytor drauf ansprechen, weil ich mir nicht sicher bin, ob Samson trotzdem in den Himmel konnte, nachdem er sich doch absichtlich getötet hat.«

Im Raum wurde es still. Alle anderen Frauen rutschten unbehaglich auf ihren Stühlen herum, drehten Münzen zwischen ihren Fingern, rückten Spielkarten zurecht, rieben sich die Stirn und warfen Sarah vielsagende Blicke zu. Doch die schien die veränderte Atmosphäre gar nicht zu bemerken,

»Ich habe gelernt, wenn man Selbstmord begeht, kommt man nicht in den Himmel, weil man gegen Gottes Gebot, du sollst nicht töten, verstoßen hat, was sich auch auf einen selbst bezieht. Wenn du schon tot bist, kannst du ja nicht mehr um Vergebung bitten, stimmt’s? Aber Samson hat sich selbst getötet, als er die Säulen umstieß, selbst wenn es im Dienste Gottes und der Israeliten war. Also kam er in den Himmel oder …«

»Sarah!«, rief Cindy. Sie schüttelte den Kopf und deutete dann verlegen mit dem Kinn auf LoLo. Im Nebenzimmer schrien die Männer auf und ließen ein Konzert aus High-Fives hören. Unten kreisten die Kids wie Michael Jackson mit den Hüften und zuckten mit den Schultern zu You Are My Lovely One von den Jackson 5. LoLo wollte sich schon in sich selbst zurückziehen, doch dann überlegte sie es sich anders. Sie richtete sich kerzengerade auf, sodass ihre Nase perfekt parallel zur Erdoberfläche war.

»Ist schon gut, Leute«, sagte LoLo schließlich. »Wir sprechen hier über die Bibel, ja? Darüber, was Gott von uns will.« Ihre Freundinnen blieben reglos wie Statuen. »Ich glaube, vielleicht sollten wir die Erklärung zu Samson Diakon Claytor morgen überlassen, weil keine von uns wirklich die Antworten darauf weiß, nicht wahr? Es gibt eine Menge Dinge, auf die wir keine Antwort haben, stimmt’s?« Para Lee nahm LoLos Hand in ihre und streichelte sie, während LoLo nach Worten rang. Cindy hielt den Blick starr auf Sarah gerichtet, um sie stumm anzuschreien: Schau, was du angerichtet hast! »Ich habe keine Erklärung für das, was in Jersey passiert ist, das kann ich euch sagen. Ich war im Irrtum, und dafür schäme ich mich, wirklich.«

»Kommt nicht infrage«, sagte Cindy. »Sitz jetzt bloß nicht hier und mach dich deswegen fertig. Wir sind einfach froh, dass es dir jetzt gut geht.«

LoLo senkte lächelnd den Blick. »Ich auch. Gott hielt es für angebracht, mich zu retten, nicht wahr? Dank der Gnade Gottes mache ich weiter.«

»Amen«, sagten die Freundinnen.