»Wo bist du gerade?«
Es war Mal, die auf Raes Festnetz anrief und dumme Fragen stellte, obwohl sie genau wusste, dass sie Rae an den meisten Samstagen um halb sieben am Abend am Herd antreffen würde, wo sie ein warmes Essen für Roman und Skye zubereitete. Mal war üblicherweise die Erste, die sich deshalb über Rae lustig machte. »Du bist außer meiner Granny die hausfraulichste Schwarze Frau, die ich kenne«, pflegte sie zu sagen, wenn sie über Raes samstagabendliches Ritual scherzte. »Samstagabende sind für Take-Out-Essen da. Oder noch besser für Dates.«
»Samstagabende«, schnaubte Rae dann immer, »sind für mich Zeit, die ich mit meiner Tochter verbringe, die etwas anderes als Chicken Nuggets und Joghurt verdient, wenn ihre Mutter in der Lage ist, sich tatsächlich mit ihr an den Tisch zu setzen. Du weißt doch, Wochenenden sind die einzige Zeit, wo ich das möglich machen kann.«
Dieser Samstagabend machte da keinen Unterschied. Rae bemühte sich, den Reis nicht anbrennen zu lassen, während sie den Salat wusch und die Hähnchenkeulen einpinselte, die im Ofen schmurgeln sollten. Skye saß grimmig am Tisch und total überfordert von den vielen Arbeitsblättern, die ihre Lehrerin ihr als Hausaufgabe übers Wochenende mitgegeben hatte. Sie hatte absolut keine Lust, »See«, »Tee« und »Klee« jeweils zehnmal in die breiten Zeilen zu schreiben. Wo doch ein Exemplar des neuen Cinderella-Films schon im DVD-Player steckte. Ihre Gramma hatte ihr den Film geschickt, in dem ein Schwarzes Mädchen mit rundem braunem Gesicht und genauso langen Braids wie ihren die Hauptrolle spielte. Das Cinderella-Kostüm und die Schuhe waren total vergeudet, wenn sie in der Küche hocken musste, obwohl es doch im Wohnzimmer so viel Platz gab, um im Kreis herumzuwirbeln, zu tanzen und ihren Schuh zu »verlieren«, damit der Prinz ihn finden konnte.
»Ich mache Abendessen, Mal«, sagte Rae. Sie hielt das Telefon in die Halsbeuge geklemmt, während sie mit dem Zeigefinger auf Skyes Hausaufgabe deutete und ihre Tochter streng ansah. Dann kehrte sie an den Ofen zurück, um Zitronenspalten in den Bräter zu werfen. »Na los, mach dich lustig, damit ich wieder vom Telefon wegkomme.«
Mal ließ sie kaum aussprechen. »Wo ist Roman?«
»Keine Ahnung – er hatte es eilig, zum Squash zu kommen. Und wie immer wird er einfach irgendwann wieder hier aufkreuzen. Aber ich kann dir sagen, eine Bitch hat heute Abend Hunger, und Skye und ich haben noch ein heißes Date mit Cinderella. Also muss er vielleicht mit seinem eingebildeten Ego alleine essen …«
»Hör mir zu, Rae«, sagte Mal.
Ihre Worte – knapp und eindringlich – ließen Rae innehalten. Dann klappte sie zögernd die Ofentür zu. »Mal, bist du okay? Was ist denn los?«
»Wo ist dein Handy?«
»Was?«, fragte Rae. »Ich verstehe nicht …«
»Dein Handy«, schrie sie. »Wo ist es?«
Rae zuckte zusammen, als sie die schrille, panische Stimme ihrer Freundin hörte. Erst da dämmerte ihr, dass irgendwas nicht stimmte. Sie schaute zu Skye, die rumtrödelte und den Stift auf dem Tisch hin und her rollte. Sie drehte dem kleinen Mädchen den Rücken zu und flüsterte eindringlich in das schnurlose Telefon: »Malorie Victoria Height, was ist passiert?«
»Hör mir gut zu«, sagte sie. »Ich habe vor ungefähr einer Stunde eine Mail von Roman bekommen. Er hat sich über dich ausgelassen, hat dich unter anderem eine billige Nutte genannt und eine ehebrechende Lügnerin, die die Familie kaputt gemacht hat. Dazu kam ein Anhang. Rae, er hat die SMS zwischen dir und Diego in die Finger bekommen und irgendwie runtergeladen, damit er sie als Datei an die E-Mail anhängen konnte. Das hat er an alle geschickt.«
Raes Nase begann zu brennen, als hätte alles Blut ihren Kopf verlassen und sich in ihrem linken Nasenflügel gesammelt. Ihr war ein bisschen schwummerig. So taumelte sie an den Küchentisch. Ihr Körper fühlte sich an, als würde er nicht zu ihr gehören. Er war leer. Und er schwebte … schwebte … schwebte über ihren Braids, die sie oben auf dem Kopf zusammengedreht hatte, damit sie ihr nicht im Weg wären, wenn sie mit Töpfen und Pfannen hantierte. Über dem Küchentisch, wo Skye die perfektesten Zeilen See, Tee und Klee auf ihr liniertes Arbeitsblatt geschrieben hatte. Über dem Brownstone, über Brooklyn, bis zum Mond. Den sie inzwischen häufig draußen von der Feuerleiter aus betrachtete. Dabei dachte sie an Diego, an Freude. Daran, was Freiheit für eine Schwarze Frau mit einem Kind und einem Mann, der nicht mithielt, bedeutete.
»Wie meinst du das, an alle geschickt?«, flüsterte sie. Dann sanft zu Skye: »Baby, geh und pack deine Hausaufgaben in deine Tasche. Du hast das so gut gemacht. Geh und spiel im Wohnzimmer, bis das Essen fertig ist, okay?«
»Mommy, dein …«
»Skye, tu, was Mommy gesagt hat, okay? Deine Tasche liegt auf der Bank neben der Wohnungstür.«
»Aber Mommy …«
»Skye! Was hab ich gesagt?!«
Skye schoss so kerzengerade in die Höhe, als wäre eine Stange an ihrem Rücken befestigt. Sie schnappte sich das Arbeitsblatt und lief zur Wohnungstür. Rae sah sie um die Ecke verschwinden und widmete sich dann wieder dem Telefon.
»Erzähl mir alles, was du weißt«, sagte sie zu Mal.
»Hör zu, ich sag’s dir noch mal, Roman weiß von deiner Affäre und weil er eine kleine miese Bitch ist, hat er jede SMS, die du je an Diego geschrieben hast, an jeden weitergeleitet, der dir irgendetwas bedeutet. Alles in einer großen, fetten E-Mail.«
»Wann?«
»Ich habe meine Mails gerade gecheckt, da habe ich es gesehen, aber es sieht aus, als hätte er sie vor ungefähr einer Stunde verschickt.«
Ein zweiter Anruf meldete sich in der Leitung. »Bleib dran, Mal«, sagte Rae und klickte dorthin.
»O mein Gott, Rae!« Es war Treva. »Bist du okay?«
»Ich weiß Bescheid. Ich weiß es schon. Mal ist in der anderen Leitung«, sagte Rae. Sie nahm ihre Schürze ab und zog das T-Shirt aus dem Bund ihrer Jogginghose. Um sich ein bisschen Abkühlung in dieser emotionalen Hitzewelle zu verschaffen, die ihr kalten Schweiß ausbrechen ließ und sie schwindelig machte.
»Hör zu, er ist auf Randale aus«, sagte Treva.
Raes Brust tanzte.
»Jermaine hat ihn angerufen, aber er ist nicht bei Sinnen, Rae. Du musst da weg.«
»Ich werde meine verdammte Wohnung nicht verlassen!«, fauchte Rae. »Warum sollte ich?«
»Weil er Jermaine gesagt hat, dass er dir, ich zitiere: ›deine verdammte Fresse polieren‹ will.«
Rae schluckte schwer und blinzelte gegen die Tränen an. Als sie Skyes trippelnde Schritte hinter sich hörte, zog sie alles in sich zurück – die Tränen in ihren Augen, den Rotz in ihrer Nase. Auch den Schrei, der in ihrer Brust rumorte und sich vom Magen über die Speiseröhre und durch die Galle in ihrem Mund bis zur Zunge vorarbeiten wollte. Doch sie war entschlossen, ihr Baby nicht mitansehen zu lassen, wie sie die Nerven verlor.
»Weiß Jermaine, wo er jetzt ist?«, fragte Rae.
»Nein«, sagte Treva. »Du musst aus diesem Haus raus, Rae. Du bist da nicht sicher.«
»Ich werde mein verdammtes Haus nicht verlassen«, echauffierte sich Rae. »Soll ich etwa von dort weglaufen, wo ich jede einzelne Rechnung bezahle? Warum soll ich mein Kind aus seinem Zuhause reißen? Warum muss ich gehen? Ich habe nicht gesehen, dass er irgendwelche Taschen gepackt hat, nachdem er diese Bitch in unser Zuhause gebracht hatte!«
»Baby, Rae, hör mir zu. Hier geht’s nicht darum, dein Zuhause zu verlassen. Hier geht’s darum, in Sicherheit zu sein. Ich hab Angst um dich.«
»Nein, nein. Ich gehe nicht. Ich bleibe in meinem verdammten Zuhause. Kannst du kommen und die Kleine holen?«
»Bin schon unterwegs.«
Rae klickte zu Mal rüber. »Das war Treva. Sie ist unterwegs, um die Kleine zu holen.«
»Wie wär’s, wenn ich vorbeikomme und ein bisschen bei dir bleibe?«, sagte Mal.
»Nein, nein – ist schon okay. Ich bin okay. Ich werde einfach warten, dass er zurückkommt. Es wird alles gut. Mir geht’s gut.«
Rae glaubte das selbst nicht – nicht eine Sekunde lang. Aber sie hatte sich vorgenommen, nicht von der Stelle zu weichen.
***
Rae rief ihre Mutter an, aber die ging nicht ans Telefon oder reagierte auf Raes verzweifelte Nachrichten. Und so badete Rae im Licht des Mondes auf der Feuertreppe und weinte sich dann auf der Couch in den Schlaf. Sie träumte von New Jersey und einem Mädchen, jung, noch ein Teenager – jemand, den sie nicht kannte, der ihr aber trotzdem vertraut war. Sie befanden sich in einem Bach – einem, der sehr nach dem aussah, der hinter dem Haus aus Raes Kindheit in New Jersey geflossen war. Der, in den LoLo sich gelegt hatte, um Ruhe zu finden. Rae hatte unzählige Albträume von ihrer Mutter geträumt, wie sie in dem schmutzigen, steinigen Gewässer lag, sich wand, ihren Vater und Miss Daley abzuwehren versuchte, die beiden bat, sie sollten sie doch frei sein lassen.
Manchmal endeten ihre Träume damit, dass Rae über ihrer Mutter stand und ihr lebloses Gesicht betrachtete, das ins All starrte, während die Sonne Licht und Regenbögen in das Wasser über ihren Augen zauberte. Ein andermal gab es keine Sonne, keine bunten Bänder am Himmel. Nur grauen Himmel und Dämmerung – Glühwürmchen, die wie Sirenen hundert winzige Lichter blinken ließen, sodass LoLos Gesicht, ihre Haare und Augen schimmerten. Es gab Schönheit, und es gab Tod. Und da war Rae, die mit gebrochenem Herzen und konfus über dem Leichnam ihrer Mutter stand. Entsetzt. Aber sie hatte diesen Albtraum schon eine ganze Weile nicht mehr gehabt.
An diesem Abend hieß sie diesen speziellen Traum willkommen. Sie brauchte dieses Mädchen, und es tat ihr den Gefallen – erhob sich aus dem Wasser und reichte ihr die Hand. »Komm mit, hab keine Angst«, sagte es und winkte Rae, die Böschung herunterzurutschen und ihr zu folgen. Zögernd zog Rae Schuhe und Socken aus und rollte sorgsam ihre Jeans hoch. »Ist schon gut«, sagte das Mädchen. »Ich werde dich nicht fallen lassen. Ich hab dich nie fallen lassen«, sagte sie mit ausgestreckter Hand und breitem Lächeln.
»Yes, Ma’am«, hatte Rae zu diesem Mädchen gesagt, das so viel jünger war als sie, sich aber bewegte, sprach und Anweisungen gab wie eine alte Seele. Genau das strahlte sie aus. Rae ergriff die Hand des Mädchens und ließ sich ins Wasser fallen. Zu ihrer Überraschung war es warm, beinah einladend. Nur ihre Fußsohlen, die waren nicht gefasst auf den Schock der Steine im Bachbett. Sie waren holprig und rau, manche scharf, andere brennend heiß. Das Mädchen bewegte sich rasch über die Steine, ihren Füßen schien der beschwerliche Untergrund nichts auszumachen. Rae beobachtete genau, wie sie von einem Fuß auf den anderen sprang, auf der Suche nach einem glatten Stein, auf dem sie balancieren und ein wenig Erholung finden konnte.
»Im Wasser ist Freiheit«, hatte das Mädchen mit Blick auf Raes Füße gesagt. »Aber du darfst nicht still stehen. Du musst in Bewegung bleiben. Steh nicht da, Tochter. Tanz. Beweg deine Füße vorwärts und tanz.«
»Es tut weh, Mommy«, hatte Rae gesagt. Sie war in sich zusammengesunken. Tränen hatten ihr die Fähigkeit genommen, nach glatten Trittsteinen Ausschau zu halten.
»Hör auf zu weinen und versuch es mit Grazie, dann wirst du die glatten Steine sehen. Sie sind dort unten. Du musst nur mit klarem Blick nach ihnen schauen.«
Rae ließ die Hand des Mädchens los, damit sie sich mit beiden Fäusten die Tränen wegwischen konnte – damit sie die glatten Steine sah. Natürlich, dort waren sie, nicht in einer bestimmten Anordnung oder wie ein Pfad, aber sichtbar. Erreichbar. Rae sprang auf einen und dann einen anderen, glatten, wie bei einem Walzer glitt sie mit der Strömung des Wasser vorwärts. Sie streckte ihre Hand aus, um die Hand des Mädchens zu ergreifen, doch da war nur Luft. Balancierend drehte sie sich langsam um. Nur um zu sehen, dass das Mädchen sich wieder zurück ins Wasser gelegt hatte. Mit glitzernden Augen starrte es in eine Sonne, die ein Regenbogen umgab.
Eindringliches, schnelles Klopfen riss Rae aus ihrem Traum. Sie schnappte nach Luft, und der Schreck über das Geräusch ließ sie hochfahren. Ihr Blick ging auf der Suche nach Skye in alle Richtungen. War sie gefallen oder hatte sich irgendwie in Gefahr gebracht, wehgetan? Dann, langsam, fiel ihr alles wieder ein – warum sie auf der Couch lag, wie schnell sie die Sachen ihres Kindes gepackt hatte, das sich für einen schnellen, tränenlosen Aufbruch mit seiner Auntie Treva dazu hatte überreden lassen, in seinem Cinderella-Kostüm zu bleiben. Wie sie die ganze Nacht, bis in die frühen Morgenstunden, dagesessen und sich für den Zorn ihres Ehemanns gestählt hatte.
Wieder wurde heftig geklopft.
Sie überlegte, dass Roman nicht anklopfen würde. Er hatte einen Schlüssel und würde einfach direkt den Sturm über ihr losbrechen lassen. Andererseits, überlegte sie, was hinderte ihn daran, jemand anderen zu schicken, der in seinem Auftrag handelte? Er hatte ja schon die gemeine Aktion gestartet, sie als Ehebrecherin anzuschwärzen. Also konnte er leicht von irgendwo aus weitere Zerstörung planen. Die Hölle kennt keinen schlimmeren Zorn, als den eines Mannes, der betrogen wurde. Irgendein Zitat aus der Literatur, das sie mal aufgeschnappt hatte. Rae wappnete sich.
»Rae, Baby, bist du da drin? Mach die Tür auf!« Wieder Klopfen, dann wurde gegen die Tür geschlagen.
Das war LoLo. Rae sprang von der Couch auf und sprintete zur Tür. Als sie sie aufriss, stand ihre Mutter davor. Die Faust in der Luft, um erneut gegen die Tür zu hämmern. Über der Schulter eine Übernachtungstasche.
Rae fiel ihr in die Arme.
»Whoa, whoa, whoa – bist du okay? Lass mich dich ansehen«, sagte LoLo, schob ihre Tochter ein Stück von sich weg und musterte sie einmal von oben bis unten. Als wäre sie ein kleines Mädchen, das von der Schaukel gefallen war. Zufrieden, dass ihr nichts fehlte, zog LoLo die Tochter wieder an sich und sah sich im Hausflur des Brownstone um. »Wo ist er?«
Rae seufzte und kämpfte vergeblich mit den Tränen. »Ich weiß nicht. Er ist gestern Nachmittag gegangen und seither nicht wiedergekommen.«
»Und du bist okay?«, fragte LoLo noch mal und ließ ihre blitzenden Augen auf Raes Gesicht ruhen.
»Nein, Mommy«, sagte die. »Bin ich nicht.«
»Schon gut, schon gut«, sagte LoLo und zog ihre weinende Tochter an ihre Brust. »Komm schon. Deine Mutter ist jetzt da.«
»Woher wusstest du, dass du kommen solltest? Wie bist du hergekommen? Warum …« Raes Fragen purzelten nur so aus ihrem Mund, während sie sich an ihrer Mutter festhielt.
»Der Idiot hatte den Nerv, mich anzurufen, von wegen ›sie hat mich betrogen‹ und ›ich hab den Beweis‹ und ›sie taugt nichts‹ und so weiter«, sagte LoLo. »Da hab ich ihm gesagt: ›Nigga*, du musst den Verstand verloren haben, wenn du glaubst, ich lass dich so über meine Tochter reden. Mir ist egal, was sie gemacht hat, aber das ist meine Tochter, von der du da redest.‹ Das hab ich ihm einfach gesagt. Natürlich hab ich das.«
»Hat er dir auch die E-Mail geschickt?«
»Den Mist hab ich gar nicht aufgemacht«, sagte LoLo, machte sich von ihrer Tochter los und führte sie zur Couch. »Er klang am Telefon, als würde er durchdrehen. Da hab ich ihn gewarnt, wenn er dich auch nur schief anschaut, dann soll er besser dran denken, dass ich Tommys Waffen noch habe und mit allen umgehen kann. Ich vermute, er hat kapiert, was ich gemeint habe. Aber ich dachte mir, ich sollte mich herbeeilen, nur für alle Fälle.«
»Danke, Mommy.«
»Mmhmm. Wo ist mein Grandbaby?«
»Sie ist bei Treva«, sagte Rae und rieb sich die Augen. Sie holte tief aus dem Bauch Luft. Und wieder kamen ihr die Tränen. »Gerade eben habe ich von jemand geträumt, von einem jungen Mädchen.«
LoLo zog Rae enger an sich, drückte ihren Kopf an den eigenen Hals und verschränkte die Finger mit ihren. »Was ist in dem Traum passiert?«
Rae zögerte. »Sie war in dem Bach hinter dem Haus«, sagte sie schließlich. »Ich hatte früher Albträume von dem Wasser, aber diesmal war ich mit diesem Mädchen dort und hatte keine Angst.« LoLo rückte sich unbehaglich zurecht. Rae hatte Tommy ein paarmal von ihrem wiederkehrenden Albtraum erzählt – von ihrer Erinnerung an die Ereignisse –, aber er ließ kaum ein Gespräch zu, das über die einfachsten Details hinausging. Und meist drängte Rae ihn auch nicht dazu. Sie war erst elf Jahre alt gewesen, als ihre Mutter sich dort ins Wasser legte, also verstand sie damals nicht unbedingt, was passiert war. Doch auch als Mutter, Ehefrau und Erwachsene war sie sich nicht sicher, ob sie das tat. Trotzdem fühlte sie sich irgendwie verpflichtet, ihrer Mutter von diesem Traum zu erzählen. »Sie hat mir gesagt, ich soll über die Steine gehen, aber sie hat sich hineingelegt …« Rae wimmerte und schniefte. »Sie hat sich ins Wasser gelegt.«
»Schsch«, machte LoLo, strich über Raes Schulter und hielt sie noch fester.
»Warum hast du dich damals ins Wasser gelegt, Mommy?«
»Ich – ich möchte nicht – darüber reden …«, stotterte LoLo.
»Ich möchte es wissen, Mommy. Bitte«, flehte sie. »Wir hatten doch ein gutes Leben, oder? Das Haus war so schön. Dazu der große alte Garten. Wir haben im Ponderosa gegessen, erinnerst du dich daran? Ich mochte die Pommes dort. Die dicken. Und die Burger. Die waren so groß und saftig – mir kamen sie so groß wie mein Gesicht vor. Es war schick da – du und Daddy, ihr habt Steaks gegessen. Warum warst du so traurig, Mommy? Warum warst du da im Wasser?«
LoLo wiegte Rae, als wäre sie ein kleines Baby – vor und zurück. Ein Krankenwagen raste am Haus vorbei die Straße runter und riss mit seiner Sirene den Sonntag aus dem Schlaf. Direkt vor dem Wohnzimmerfenster, in dem großen Ahornbaum, der bis zum vierten Stock reichte und seine Äste weit ausstreckte, wie um den Frühling willkommen zu heißen, hüpfte eine Spatzenmutter um ihr Nest herum. Das war sorgsam aus trockenen Zweigen und Blättern, Rinde und Federn gebaut. Sie war mit einem fetten Regenwurm beschäftigt, der in einer Pfütze am Fuß des Baums ertrunken war. Schließlich schob sie ein bisschen von dem Wurm in den Schnabel jedes ihrer Küken. Die reckten abwechselnd die Hälse, rissen die Schnäbel auf und riefen schrill nach ihrer Mama. Die hörte sie, fütterte sie. Sie vertraute auch darauf, dass ihr Daddy, der auf einem nahen Ast herumhüpfte und keine Schlaflieder, sondern Warnrufe zwitscherte, sie unterstützte. Diesen Tanz würden die kleinen Spatzen wiederholen, bis ihre Küken genügend Futter im Bauch, genügend Kraft in ihren Flügeln und Beinen hätten, um flügge zu werden. Dann würden sie vorsichtig auf niedrigere Äste, auf einen Strauch hüpfen, bis sie sich trauten, die Flügel auszubreiten und hoch hinaufzufliegen. Bis sie um ihr eigenes Überleben kämpften und sich vielleicht ein eigenes Nest bauten, das sie dann mit neuen Küken füllten, die wiederum sie brauchten.
LoLo hielt den Atem an, bis der Krankenwagen mit seiner Sirene um die Ecke gebogen war und die kleinen Vögel ihre Schnäbel wieder ins Nest senkten. Als sie Luft holte, schien sie zu zittern. »Weißt du, dein Daddy dachte, er würde uns ein gutes Leben bereiten. Alles, was er sich wünschte, war, eine Familie zu sein. Das hatte er in seiner eigenen Kindheit nie gehabt. Keiner von uns beiden. Als wir anfingen, miteinander auszugehen, hieß es überall, zwei Komma fünf Kinder und ein weißer Staketenzaun wären das Ziel. Und dann hat er sich eine doppelte Portion genommen. Ich schätze, dein Vater fand, er leiste etwas, weil er zwei Familien hatte, Geheimnisse hütete. Als ob wir das nicht gespürt hätten. Denn ich hab es gespürt. Das habe ich. Immer war er weg. Immer irgendwo anders …« LoLo verstummte. »Und dann mussten wir ganz plötzlich all unsere Sachen packen und nach Jersey.« Rae spürte das Herzklopfen ihrer Mutter an ihrem Kopf. Schnell dröhnte es an ihrem Ohr. »Das war kurz nachdem diese Frau dich geschlagen hatte.«
Rae setzte sich auf und drehte sich langsam zu ihrer Mutter – bis sie ihr direkt in die Augen sehen konnte. »Ich – ich verstehe nicht. Was meinst du damit, dass sie mich geschlagen hat? Und welche Frau war das?«
»In dem Kindergarten, wo du als Kleinkind warst. Bevor wir weggezogen sind. Betina war eine Betreuerin dort, und sie hat dich wegen irgendwas geschlagen. Ich erinnere mich nicht mehr, warum. Ich weiß aber noch, dass ich in die Einrichtung marschiert bin und bereit war, ihr eine Tracht Prügel zu verpassen, weil sie dich angerührt hat. Bis heute kapiere ich nicht, warum sie es mir nicht gleich an Ort und Stelle gesagt hat …«
»Dir was gesagt hat?«, fragte Rae. »Ich verstehe nicht …«
»Sie hätte mir nur ihren Bauch unter die Nase halten und es sagen müssen.«
»Dir was sagen, Mommy? Was meinst du denn?«
»Betina ist Tasheeras Mutter, Rae. TJ hat mir ihren Namen gesagt, und dann habe ich eins und eins zusammengezählt, weißt du. Ich habe mich erinnert, dass sie eine Betreuerin in deinem Kindergarten war. Und zwar die, der ich gedroht habe, nachdem sie dich geschlagen hatte. Sie war schwanger. Es war ein Wunder, dass diese Frau mir nicht gleich gesagt hat, wer sie war. Dein Daddy dachte sich wahrscheinlich: ›Ich werde nicht zulassen, dass sie meine Familie zerstört.‹ Also – organisierte er unseren Umzug nach New Jersey. Damals hat er uns, mich, von allem weggerissen, was ich kannte und liebte, damit er nicht aufflog. Er hat mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Meine ganze Existenz.«
LoLo wandte den Kopf ab, um ihre Tränen zu verstecken, aber das Schluchzen überwältigte sie. Rae schlang die Arme um sie und drückte sie ganz fest. Aber sie sagte nichts, weil sie mehr erfahren wollte.
»Mein ganzes Leben lang haben Leute über mich entschieden. Jeder Mensch, der mich eigentlich beschützen sollte, hat mich eingesperrt und meine Hände angekettet, verstehst du? Mein Daddy, mein kleiner Bruder, diese Monster in dem Waisenhaus. Mein Onkel. Seine Frau. Sie alle haben mich in Ketten gelegt wie ein Tier«, sagte LoLo leise. Nach einer Weile meinte sie: »Tommy hat versprochen, mich zu beschützen. Und was hat er dann getan? Mich betrogen und zwei Kinder hinter meinem Rücken gezeugt, während ich wie ein Tier in einem Käfig in New Jersey festsaß. Das hätte genauso gut Sibirien sein können. Er hat mir die Wahl genommen. Mich in dieses Wasser zu legen … das war meine Art, die Kontrolle zu übernehmen. Es war mein Weg, um frei zu sein.«
Rae drückte sie noch ein bisschen fester. »Es tut mir leid, Mommy. Es tut mir so leid.«
LoLo legte die Hände an Raes Oberkörper und schaute ihr direkt in die Augen. »Bei mir musst du dich nicht entschuldigen, Kind. Heb dir das für deinen Mann auf.«
Rae lehnte sich zurück und befreite sich aus den Armen ihrer Mutter. »Entschuldigen? Wofür?«
»Du hast den Mann betrogen, Rae.«
Rae sprang so schnell auf die Füße, dass sie gegen den Cocktailtisch stieß. Das gerahmte Foto von ihr und Roman aus einer Zeit, als sie noch dachten, dass sie eine gemeinsame Zukunft hätten, fiel um. »Ich hatte meine Gründe, Mommy! Eher friert die Hölle zu, als dass ich …«
»Kein Grund, vor deiner Mama so daherzureden, und du musst auch nicht rumschreien. Ich sitze hier direkt vor dir«, sagte LoLo leise, um die Atmosphäre im Raum ein bisschen zu beruhigen. »Was du getan hast, war nicht richtig, Rae. Deinen Partner zu betrügen, das ist der schlimmste Schmerz, den du jemand zufügen kannst, den du behauptest zu lieben. Das weiß ich aus bitterer Erfahrung.«
Rae lief aufgebracht hin und her, senkte aber ihre Lautstärke. »Was ich getan habe, das hab ich für mich getan. Es ging da gar nicht um ihn. Kannst du mir die Frage beantworten, warum Männer glauben, wir würden gerne durchs Haus hetzen, den Kindern nachjagen, kochen, putzen, dreckige Unterwäsche waschen und all solches Zeug? Als wäre das unser Leben! Wir geben alles auf, was wir sind, alles, was wir sein könnten, um uns in diese Fantasie einzukaufen, die Männer sich ausgedacht haben. Ich habe mir meine Macht zurückgeholt. Und ich werde mich dafür nicht entschuldigen, bei niemandem.«
»Den Deal haben wir unterschrieben«, sinnierte LoLo.
»Aber wolltest du eine Sklavin davon sein? Wusstest du, was du aufgeben würdest, um diese Familie zu haben? Meine ganze Jugend hindurch dachte ich, darum ginge es, weil du das für Daddy, für meinen Held, getan hast. Du hast dich immer so verhalten, als wäre er dein Held, aber in Wirklichkeit helfen Helden Menschen. Sie legen sie nicht in Ketten, sie helfen ihnen, frei zu sein. Diese Ketten haben dich fast verrückt werden lassen, Mommy. Siehst du das nicht? Deshalb bin ich dermaßen wütend. Ich bin so wütend, Mommy. Ich bin wütend! Ich bin wütend! Ich bin wütend!«, rief Rae, bis ihre Kehle schmerzte und ihr Gesicht ganz heiß war. Dann ließ sie sich wieder auf die Couch fallen und nahm die Hände ihrer Mutter. Und schwieg für eine Weile.
»Ich weiß, dass du wütend bist, aber du kannst Tommy nicht mit deinem Nichtsnutz von einem Ehemann vergleichen«, sagte LoLo. »Ich weiß, dass Tommy nicht perfekt war, aber er war ein guter Mensch. Ein verdammt guter Mensch.«
»Vielleicht hat die Frau in meinem Traum mir zu sagen versucht, dass Daddy und Roman verschiedene Seiten derselben Münze sind«, meinte Rae ruhig. »Vielleicht wollte sie mir sagen, dass ich auf Wasser gehen muss, anstatt mich hineinzulegen und darin zu ertrinken.«
***
Roman kam am Mittwoch nach Hause. Gleich nachdem LoLo ihrer Enkelin die Frühstücksflocken vom Mund abgewischt und ihr die Zähne mit dieser Erdbeerzahnpasta geputzt hatte, die sie so viel lieber mochte als die mit Pfefferminzgeschmack, von der angeblich ihre Zunge brannte. Roman kam reingestürmt und knallte die Wohnungstür zu, bereit, eine Show abzuziehen. Rae stand in der Küche und packte gerade Skyes Truthahnsandwich, Apfelstücke, ein Tütchen mit Salzbrezeln und eine Wasserflasche in ihre Lunchbox, als würde sie ein Puzzle legen. Sie hatte sich vorgenommen, an der Morgenroutine festzuhalten, um Skyes Alltagsrhythmus so wenig wie möglich zu stören, obwohl jeder Knochen, jede Zelle in Raes Körper zu Eis gefroren war. Starr vor Angst. In ruhigen Momenten, etwa auf dem Weg zur Arbeit in der Subway oder wenn sie am Herd stand, um Abendessen zu kochen, wenn ihre ganze Welt zur Ruhe kam, aber auch in Momenten, in denen ihr nach nichts anderem als nach Heulen zumute war, immer überlegte Rae, was sie sagen würde. Wie würde sie reagieren, wenn sie Roman wiedersah – wenn er schließlich die Opferrolle für sich beanspruchen würde. Die allermeisten seiner Sachen – Kleidung, Schuhe, Waschzeug und so weiter – waren ja noch da. Und er würde, wo auch immer er hingegangen war, nicht allzu lange ohne seine Sachen improvisieren können. In einem Hotel war er nicht, das wusste Rae. Geld hatte er auch keins. Er benutzte keine ihrer Kredit- oder Bankkarten für ein Hotel. Und sein fragiles Ego würde Pflege brauchen. Es hatte sich der ganzen Welt ja schon via E-Mails und Telefonaten und Treffen in Bars mit seinen Jungs mitgeteilt. Innerhalb weniger Tage hatte ihre Beziehung sich in ein Spektakel verwandelt, in ein Haus aus Glas, auf das mit einem Mal ein Schweinwerfer gerichtet war, der die Schmutzschlieren sichtbar machte. Roman rannte wie ein Widder dagegen an, in vollem Tempo. Rae wusste, es war nur eine Frage der Zeit, bis das Glas splittern und scharfe Scherben auf sie beide herabregnen würden. Er wird bald kommen, hatte sie überlegt. Mach dich gefasst, hatte sie sich selbst gewarnt. Auf Wut. Auf Anklagen. Drohungen. Vielleicht auch auf Gewalt.
Raes Atem, ihre ganze Brust wurde schwerer mit jedem Schritt, den sie Richtung Küche kommen hörte. Instinktiv suchten ihre Augen nach einer Waffe, nach irgendetwas, womit sie sich verteidigen konnte. Der Gedanke brach ihr das Herz. So weit war es mit ihnen gekommen.
»Welches war’s?«, brüllte Roman. Theatralisch genug für einen Auftritt am Broadway knallte er nacheinander drei Dessous auf den Küchentisch. Darunter auch das beerenfarbene Korsett von dem Abend, als Rae Diego verführt hatte. »Das Rote? Das Schwarze hier? Oder dieses Weiße, das du in unseren Flitterwochen anhattest?«
Das Korsett war gar nicht mit der übrigen Lingerie vergleichbar. Die gehörte zu dem kleinen Stapel hübscher Wäsche, die Rae hinten in ihrer Wäscheschublade aufbewahrte. Unter einem alten Duftsäckchen mit Lavendel und Vanille, das sie vor Jahren mal bei Macy’s erstanden hatte. Wahrscheinlich in der Nähe der Ständer mit Seidenunterkleidern und Babydolls aus Spitze und Satin, wie ihre Mutter und ihre Freundinnen aus der Kirchengemeinde sie ihr zur Brautparty geschenkt hatten. Bei Rae blitzte die Erinnerung daran auf, wie sie die Sachen für die Schenkenden und die anderen Gäste zum Bewundern in die Höhe gehalten hatte. Nervöses Gekicher hatte verlegene Äußerungen untermalt: »Damit kannst du dich bei deinem Mann sehen lassen« oder »Mit dem hier kann LoLo sich drauf verlassen, Enkelkinder zu kriegen!«. Rae trug die Wäsche in den Flitterwochen und, zu Beginn ihrer Ehe, an Wochenenden, nachdem sie ausgegangen waren oder wenn sie sich zu Hause mit Bier oder Wodka-Orange einen Schwips angetrunken hatten. Nichts davon hatte sie lange an; Roman wollte immer schnell zur Sache und zum Ende kommen. Es dauerte nicht lange, da zog Rae ihre bescheidene Reizwäsche nur noch zu besonderen Anlässen an: Geburtstage, Hochzeitstag, ein-, zweimal zu Weihnachten. Bald holte sie sie gar nicht mehr hervor. Roman war es egal. Seine Gleichgültigkeit war wiederum Rae egal. Viele Dinge spielten für beide keine Rolle mehr. Schon lange nicht mehr.
»Was davon ist das Fetischzeug, von dem der Nigga* in seinen SMS geschrieben hat, du sollst es von jetzt an nur noch für ihn anziehen?«, verlangte Roman zu erfahren.
»Wovon redest du …«
»Antworte mir, verdammt noch mal!«, rief er und schlug mit der Faust auf den Küchentisch.
Da kam zu Romans Überraschung LoLo in die Küche geeilt. »Deine Tochter ist nebenan. Oder ist dir das egal?«, zischte sie. »Schrei nicht so herum.« Und dann zu Rae: »Baby, ist alles okay bei dir? Komm mit mir.«
»Ich … ich will nur reden, Mrs Lawrence«, sagte Roman jetzt leiser und hob abwehrend die Hände. Seine ganze Erscheinung war irgendwie in sich zusammengesunken.
»Danach hat es nicht geklungen«, bemerkte LoLo.
»Ist schon gut, Mommy«, sagte Rae. »Kannst du Skye zur Schule bringen? Ich will nicht, dass sie hier ist, während wir reden. Bring … bring sie einfach hier weg.« Sie streckte ihr Skyes Lunchbox hin. LoLo starrte Roman böse an, bevor sie die Box entgegennahm.
»Lass mich dir noch eins sagen: Ein Haar auf ihrem Kopf, nur eines«, sagte LoLo und reckte warnend ihren Zeigefinger in die Höhe, »und die werden noch bis Neujahr Schrot aus deinem Hintern puhlen, verstanden?«
Immer noch mit erhobenen Händen nickte Roman.
»Ich bin gleich wieder da, Baby. Mach dir bloß keine Sorgen.«
Rae nickte.
Zunächst passierte zwischen ihr und Roman eine ganze Weile nichts, nachdem LoLo die Wohnungstür hinter sich zugezogen hatte.
»Möchtest du einen Kaffee?«, fragte Rae schließlich.
»Ich möchte wissen, wie du mir das antun konntest.«
»Wie ich was tun konnte, Roman?«, fragte sie und verzog dabei ungläubig das Gesicht.
»You fucked another nigga*!«
»Du doch auch. Und?«
»Darum geht’s hier? Ums Heimzahlen?«, fragte Roman. »Bist du immer noch sauer, weil du denkst, ich hätte dich betrogen? Du lässt unsere Familie kaputtgehen wegen irgendeinem Scheiß, der noch nicht mal passiert ist?«
»Und du stellst dich wirklich hin und tust so, als wäre Fremdgehen der einzige Grund, warum unsere Familie nicht mehr funktioniert? Redest du dir das auch ein, wenn du unsere Rechnungen von meinem Geld bezahlst?«
»Oh, jetzt ist es also dein Geld, was? ›Keine Sorge, Roman, wir bauen uns zusammen was auf. Ich kann für uns sorgen, während du deine Träume verwirklichst, Roman. Wir schaffen das zusammen, Roman.‹ Hast du mir das nicht gesagt, als wir uns drauf geeinigt haben, dass du arbeiten gehst, während ich schreibe?«
»Ach, dann war das eine gemeinsame Entscheidung zum Wohlergehen unserer Familie? Das sollte dabei rauskommen, dass du einen guten Job gekündigt hast, während deine Frau schwanger war? Ohne mir wirklich eine Wahl zu lassen? Was hätte ich denn dann machen sollen?«
»Was zum Teufel redest du da?«, regte Roman sich auf. »Du hast nie gesagt, du hättest ein Problem damit, dass ich meinen Traum verwirkliche!«
»Das hätte auch nicht nötig sein sollen!«
Rae schlug beide Hände vors Gesicht. »Hör zu – setz dich erst mal«, sagte sie dann und schob die Dessous beiseite. Einen Moment starrte sie auf die Sachen, dann zog sie sich einen Stuhl so heran, dass sie ihrem Mann direkt gegenübersitzen konnte. Er zögerte erst, folgte dann aber ihrem Beispiel.
»Wo warst du?«
»Jetzt kümmert dich das?«
»Mich kümmert, dass du dieses Haus mit meinem Handy verlassen hast. Und dass du dein Kind hier zurückgelassen hast, als wäre es bloß ein Kollateralschaden deines Wutanfalls.«
»Wutanfall? Ich glaube, mein Zorn ist mehr als berechtigt, wenn meine Frau versucht, unsere Familie zu zerstören.«
»Aber vor der ganzen Welt unsere Privatangelegenheiten auszubreiten und fünf Tage lang zu verschwinden, ohne ein einziges Wort, das war vernünftig?«
»Ich wollte, dass du siehst, wie es wäre, hier eine alleinerziehende Mutter zu sein«, sagte er. »Du musstest verdammt noch mal sehen, wie wichtig ich für diese Familie bin.«
Rae lachte auf. »Weißt du, ich bin mir nicht sicher, was durchgeknallter ist: Dass du glaubst, du würdest gut dastehen, wenn du aller Welt erzählst, dass ich fremdgegangen bin, oder dass du meinst, ich wäre nicht in der Lage, mich ohne dich hier um meine Tochter zu kümmern. Du hast keinen Schimmer davon, was du angerichtet hast oder in welcher Lage du dich befindest, oder?«
»Ich habe eine Frau, die mich betrogen hat. Das weiß ich.«
»Nein, du hast eine Frau, die derart gestresst ist, dass ihr Körper sie im Stich lässt.«
»Jetzt liegt’s an mir? Dein Stress soll meine Schuld sein?«
Rae schwieg zunächst, weil sie nach den richtigen Worten suchte, um es Roman verständlich zu machen. Doch wie bei einer anspruchsvollen Schachpartie fiel ihr zu jedem Gedanken, der ihr in den Sinn kam, Romans Gegenargument ein, mit dem er sie widerlegen würde. Dann erfasste der Schmerz – erst dumpf und dann immer heftiger – ihre Wade. Sie ließ ihn brennen – ließ sich vom Schmerz, von allem Schmerz, Tränen in die Augen treiben. Als sie weinend so dasaß, wurde es ihr endlich klar: Roman war der Knoten in ihrer Wade, quälend und glühend heiß und unerträglich.
»Du hast definitiv nicht geholfen, meinen Stress zu verringern, Roman«, sagte sie leise.
»Was? Weil ich das Badezimmer nicht so geputzt hab, wie du es dir vorgestellt hast, Rae? Ist es das? War dir das Wohnzimmer zu staubig? Hätte ich wischen und dir ein Abendessen kochen sollen? Wie eine kleine Bitch?«
»Ich wollte, dass du mich beschützt, Roman!«
»Dich beschützen? – Wovon redest du da, Rae?«
»Ich rede davon, einen Ehemann zu haben, der seinen Teil der Vereinbarung einlöst«, sagte Rae. »Alles, was du getan hast, war nehmen, nehmen, nehmen. Du hast nichts dafür zurückgegeben. Ich habe mir von allen sagen lassen, wie mein Part in unserem Arrangement auszusehen hat. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher, ob das überhaupt das ist, was ich von dieser Ehe verlange.«
»Vereinbarung? Arrangement? Ich kapier nicht, was für einen Scheiß du da redest, Rae«, sagte Roman und lehnte sich auf dem Stuhl zurück.
»Das hier. Dieses Arrangement zwischen einem Ehemann und einer Ehefrau«, sagte sie und schlug erst gegen seine Brust, dann gegen ihre und immer so weiter. »Ich dachte, es wäre das, was ich wollte. Aber ich wusste nie wirklich, was ich wollte, Roman. Darüber habe ich niemals ernsthaft nachgedacht.«
»Oh, warte, du hast also einen neuen Stecher, und plötzlich bist du so verändert, dass du nicht mehr weißt, warum wir zusammen sind? Was ist das denn für ein Scheiß?«, sagte Roman und lachte gekünstelt zu seinen eigenen Worten.
»Ach, das ist witzig? Für dich ist das witzig, Roman?«, fragte Rae.
»Witzig ist, dass du mich betrügst und jetzt hier sitzt und so tust, als wäre ich daran schuld«, sagte er. »Du hast dich ja noch nicht mal dafür entschuldigt.« Er gab wieder so ein gespieltes Lachen von sich.
Dieses Lachen war wie ein Weckruf, eine Sirene. Es öffnete Rae die Augen. »Weißt du, was witzig ist? Du bist der Witz, Roman«, sagte sie mit einer Stimme, die fast nur noch ein Flüstern war. »Du verpasst nur dauernd die Pointe. Das hier ist vorbei.«
»Nein, du wolltest reden. Also lass uns reden, Rae.«
»Ich meine nicht dieses Gespräch. Ich meine uns. Wir sind durch.«
Abrupt stand Roman von seinem Stuhl auf. Rae erstarrte angesichts seiner Bewegung – und war auf einen Zusammenstoß gefasst. Aber Roman schlug nicht zu. Er lief im Kreis, rieb sich die Schläfen, schüttelte den Kopf. »Rae«, fragte er leise, »hast du mich jemals geliebt?«
Ihre Diskussion drehte sich im Kreis. Er konnte sie über seine Wut und Abwehrhaltung und sein Ego – über sein aggressives Bedürfnis, den Rahmen der Geschichte zu bestimmen – einfach nicht hören. Acht Jahre lang war sie ein menschliches Gerüst gewesen, hatte diese wackelige, gefährliche, anstrengende Arbeit verrichtet. Während er sich dem Himmel entgegenstreckte, wie ein unbeseeltes Objekt, das ruhmreich sein wollte, aber vor allem lange Schatten auf alle warf, die ihn umgaben. Schatten auf sie. Sie konnte das nicht mehr. Endlich hatte Rae sich mit sich selbst darauf geeinigt, dass sie auch nicht länger dazu verpflichtet war. Damit hatte Roman Rae endgültig verloren. So fand Rae zu sich selbst. In diesem Moment lernte sie, über das Wasser zu gehen.