Kapitel 5

Gemma

Autsch! Mein Kopf tut weh. Ich habe gestern zum Abschied wohl zu viel Pimms getrunken. Dabei mag ich das Zeug nicht mal! Es muss an der Mischung aus Panik und Sentimentalität gelegen haben, die mich ergriffen hat. Ich kaue auf meiner Unterlippe herum, als mir die Tränen kommen. Was bin ich nur für eine Idiotin, dass ich diese wunderbaren Menschen verlasse, um als Hilfsgärtnerin zu arbeiten?

Betrachten mich Bree und ihre Clique wirklich als Freundin? Ich habe mich eher als Satellit gesehen, der in ihrem Orbit kreist, aber eben nur eine Randrolle spielt. Sollte ich mich geirrt haben?

Diese Fragen sind viel zu kompliziert für meinen armen Kopf! Ich brauche eine Dusche, einen starken Kaffee und eine Aspirin. Zeigefinger und Daumen presse ich auf meine schmerzenden Augäpfel. Ich trinke nie wieder Alkohol!

Als mein Smartphone vibriert, schießt mir ein Pochen durch den Kopf. Autsch! Wo liegt das verdammte Ding? Endlich finde ich meine Handtasche unter einem Klamottenberg. Ich habe überhaupt keine Ahnung, wann und vor allem wie ich gestern nach Hause gekommen bin.

Guten Morgen,

wir sind in einer halben Stunde da. Ich bringe Frühstück mit.

Kisses

Bree

Wie? Was? Wer? Wann?

Ich schüttele meinen schweren Kopf, was eine miese Idee ist, und versuche mir einen Reim auf die Nachricht zu machen. Bree hat sich verwählt, fällt mir als Erstes ein. Ich muss mir keine Sorgen machen, sondern kann mich nach dem Kaffee wieder ins Bett legen oder mich um meine Pflanzen kümmern.

Doch dann drängt sich ein Gedanke aus meinem dumpfen Hinterkopf nach vorn. Irgendetwas mit einem Beauty-Tag. Schlagartig setze ich mich auf, eine ganz miserable Idee.

Autsch!

Ich schleiche in die Küche, suche die Kopfschmerztabletten und spüle sie mit viel Wasser hinunter. Nach einem Blick auf die Wanduhr – der Todesstern aus Star Wars – hetze ich in die Dusche, obwohl die Tabletten noch nicht wirken. Das eiskalte Wasser tut gleichzeitig gut und fühlt sich fies an.

Schnell raus aus der Dusche und rein in meine Klamotten. Wahllos greife ich etwas aus dem Schrank, werfe es mir über und sprinte in die Küche. Der Duft von frischem Kaffee weckt meine Lebensgeister endgültig. Bevor ich Tassen und Teller auf meinen winzigen Tisch stellen kann, klingelt es an der Tür.

Ich habe nicht einmal Zeit, in den Spiegel zu schauen, ob ich wirklich so elend aussehe, wie ich mich fühle.

»Hallo Bree«, sage ich betont fröhlich. Natürlich ist sie nicht die Erste. »Sorry. Hallo Alys.«

»Ich bin mal wieder die einzig Pünktliche?« Sie lächelt. Irgendjemand hat einmal gedacht, Alys und ich seien Schwestern. Erst hat mich das irritiert, dann jedoch habe ich eingesehen, dass etwas dran ist. Wir sind beide mittelgroß und haben hellbraune, dünne Haare. Meine sind schulterlang, sie trägt ihre kurz. Allerdings sind ihre Augen dunkelbraun, während meine eher nussbraun sind.

»Ja, wir beide müssen noch auf Bree und das Frühstück warten.«

Ich trete zur Seite, damit sie in meinen winzigen Flur treten kann.

»Ein tolles Foto.« Sie bleibt vor dem Bluebells-Bild stehen und mustert es intensiv. So lange, dass es mir beinahe unangenehm ist. »Wo ist das?«

»Enys Gardens. Möchtest du einen Kaffee?«

»Du hast einen guten Blick für Kompositionen.«

Bevor ich mich für das Kompliment bedanken kann, klingelt es erneut. Stürmisch und grell.

»Bree!« Alys und ich wechseln einen verschwörerischen Blick.

»Habt ihr Kaffee? Was für ein furchtbarer Morgen!« Bree hält sich nicht mit einer Begrüßung auf, sondern stürmt an uns vorbei in die Küche.

»Gemma, ohne dich sind wir verloren!«, ruft sie mir über die Schulter hinweg zu. Wieder wechseln Alys und ich einen Blick und zucken mit den Schultern.

Während Bree ein riesiges Paket mit Lebensmitteln auspackt, sammele ich Tassen und Teller zusammen und stelle sie auf den Tisch. Irgendwo müssen Servietten sein. Wo habe ich sie nur?

Bisher habe ich sie nicht benötigt, denn heute bekomme ich das erste Mal Besuch. Kein Wunder, dass es sich seltsam anfühlt. Endlich entdecke ich die Servietten in der hintersten Ecke einer Schublade.

»Was ist passiert?«, frage ich Bree und bewundere die lecker duftenden Tortenstücke, Scones und Sandwiches. »Tee oder Kaffee?«

»Kaffee«, antwortet Bree, während Alys um Tee bittet.

Nachdem ich den Tee gekocht habe, setze ich mich zu ihnen an den Tisch, der unter der Vielfalt der Lebensmittel kaum zu sehen ist. Ich nehme mir einen Scone, Clotted Cream und Erdbeermarmelade, auch wenn mein Magen sich schummerig anfühlt.

»Ach, irgendwas mit den Lieferanten funktioniert wieder nicht.« Bree beißt in ein Gurkensandwich und winkt ab. »Sag mal, du bist kein Weihnachtsfan.«

Mein Blick folgt ihrem, der auf meinem Halloween-Skelett und der Mumie ruht, die ich im Küchenfenster aufgestellt habe. Eigentlich habe ich sie nur als Gag gekauft, damit die schwarze Katze sich nicht allein fühlt, aber inzwischen habe ich mich an sie gewöhnt.

»Wenn du Deko-Kram brauchst, sag mir Bescheid.« Bree kaut und schluckt. »Wir haben mehr als genug.«

»Danke, ich … ich habe alles im Keller«, lüge ich. »Irgendwie läuft dieses Jahr so schnell, dass ich noch keine Zeit gefunden habe, die Kisten hochzuholen.«

»Bei uns hängt auch noch nichts«, springt Alys mir überraschenderweise zur Seite. »Buddy und Helyer würden bis Weihnachten alles zerstören. Aber in der Galerie habe ich Lichterketten aufgehängt.«

»Wollen wir auf Chesten warten?« Bree hat in unglaublicher Geschwindigkeit mehrere Sandwiches und Törtchen vertilgt und lehnt sich jetzt auf dem Stuhl zurück. »Ich habe bei Bella‘s Beauty Emporium einen Termin für uns ausgemacht.«

»Bella‘s Beauty Emporium?«, platze ich heraus. St. Bartholomew ist eine kleine Stadt, zu der ein derart bombastischer Name nicht passt. »Himmel, was erwartet uns da?«

»Mabel ist in Ordnung, sie hat nur einen Hang zu großen Worten.«

Das wird ja immer besser. Ich sehe mich ausgestattet mit künstlichen Fingernägeln mit Glitzersteinchen, blondierten und toupierten Haaren und rasierten Augenbrauen.

»Keine Angst.« Alys zwinkert mir zu. »Trotz des Namens bekommen wir nur eine Schönheitsbehandlung und eine schlichte Maniküre.«

»Nur?« Bree springt auf und stemmt die Hände in die Hüften. »Ich musste ihr einen Chocolate Cheese Cake spendieren, damit wir einen Termin bekommen. Mabel ist ausgebucht.«

»Ich bin beeindruckt«, sage ich schnell, weil ich keinen Streit ertrage.

»Das Emporium ist der einzige Schönheitssalon hier.« Alys zieht die Nase kraus. »Vertrau uns, es lohnt sich.«

»Auf, auf!« Bree macht Handbewegungen, als wären wir Hühner, die sie vom Hof scheuchen möchte. »Chesten weiß, wo sie uns findet.«

Als wir die Tür öffnen, kommt uns jemand entgegengelaufen. Eine zierliche Gestalt in einem wild orange-rot-karierten Rock und einem grün-blau gemusterten Pullover. Sie sieht aus wie eine Kreuzung aus Hippie und Paradiesvogel. Ich hätte nie den Mut, diese Farben einzeln zu tragen, geschweige denn zu kombinieren.

Aber Chesten kann es sich leisten. Jemand, der so auffallend schön ist wie sie, kann einfach alles tragen. Wie kann es sein, dass in dieser Stadt so viele ungewöhnlich attraktive Menschen leben?

Chesten sieht aus wie eine Elfe mit ihren eisblauen Augen, der hellen Haut und den silberblonden Haaren. Jetzt allerdings ist ihr schmales Gesicht mit den ausgeprägten Wangenknochen rot angelaufen, wohl, weil sie sich so abgehetzt hat.

»Es tut mir leid«, stößt sie keuchend hervor. »Ich war bei Emily im Tierheim. Sie haben nicht genug Spaziergänger. Einer der Hunde ist uns abgehauen.«

Chesten ist Tierärztin. Aber nicht von Beruf, sondern aus Berufung. Sie ist der Typ Frau, der Hunde- und Katzenwelpen einsammelt und aufpäppelt, der Spatzen die gebrochenen Flügel schient und selbst Spinnen und Nacktschnecken rettet. Das ist einer der Gründe, warum ich sie mag.

»Spaziergänger?« Ich kann mir nichts darunter vorstellen. Natürlich weiß ich, was Spaziergänger sind, aber was sie mit dem Tierheim zu tun haben, kann ich mir nicht erklären.

»Wir sagen auch Gassigeher.« Chesten holt tief Atem. »Das Tierheim hat zu wenig Personal und zu viele Tiere. Daher brauchen wir Ehrenamtliche, die mit den Hunden spazieren gehen oder Katzen streicheln. Bist du interessiert?«

»Äh«, antworte ich, vollkommen überrumpelt. »Ich muss erst mal schauen, wie das mit dem neuen Job klappt.«

Aber wenn es um Tiere geht, versteht Chesten keine dezenten Andeutungen. Selbst wenn ich deutlich abgelehnt hätte, würde sie weiter auf mich einreden. Erstaunlich, wie gut ich sie kenne.

»Du bist die Einzige von uns ohne Haustier.« Chesten strahlt mich an. »Vielleicht wirst du ja bei Emily fündig. Ich schreib dir mal ihre Telefonnummer auf.«

Ich bin so perplex, dass sie mich zu ihnen zählt, dass ich mich nicht wehre, sondern den Zettel in mein Portmonee stecke. Mist, weil Chesten einfach immer nett ist, fühle ich mich verpflichtet, dort wenigstens einmal anzurufen.

»Genug. Wir müssen los.« Bree nimmt uns an den Händen und zerrt uns hinter sich her. »Mabel hasst Unpünktlichkeit.«

*********

Noch immer kann ich nicht fassen, wie verändert ich aussehe. Ich stehe bestimmt schon eine Viertelstunde vor dem Spiegel, fahre mir mit der Hand durch die raspelkuzen blonden Haare und kneife mich immer wieder. Wow, ich kann einfach nur wow sagen. Obwohl Bree uns nur eine Gesichtsbehandlung und Maniküre gebucht hat, kam ich nicht so einfach davon.

»Tut mir leid, Darling, aber deine Haare gehen gar nicht.« Unter Mabels kritischem Blick schrumpfte ich noch mehr zusammen. »Aber, keine Sorge, bei mir bist du in guten Händen.«

Obwohl mir nicht ganz wohl dabei war, lächelte ich und überließ mich Mabels Führung. Eigentlich mag ich meine Haare, aber ich will ein neues Leben anfangen. Was kann ein besseres Symbol abgeben als eine neue Frisur? Ich muss jedoch zugeben, dass mir immer mulmiger wurde, je mehr Haare auf den bunten Boden fielen. Noch mulmiger wurde mir, als sie mir lilafarbene Tönung auf den Kopf geschmiert hat. Auf die Strähnchen verzichtete ich, mein Wagemut hat Grenzen. Nachdem alles ausgewaschen und frisiert war, wagte ich endlich, die Augen aufzumachen. Zuerst war ich schockiert, dann fasziniert davon, wie sehr sich mein Aussehen durch den Pixie-Cut – so hat Mabel es genannt – verändert hatte.

Auch Alys, Bree und Chesten waren hin und weg von der neuen Gemma, sodass wir nach der Kosmetikbehandlung noch Cocktails trinken gingen.

»Mein Leben entwickelt sich zu einer Episode von ›Sex and the City‹«, flüstere ich meinem Spiegelbild zu und hickse. Cocktails führen bei mir immer zu Schluckauf. »Ich sollte ins Bett gehen, sonst fängt mein erster Arbeitstag gut an.«

Aber erst muss ich noch einmal mit den Händen durch meine kurzen Haare streichen. Mabel meint, ich muss sie nur waschen und an der Luft trocknen lassen. Schauen wir mal. Morgen früh werde ich es wissen.