Gemma
Aus alter Gewohnheit führt mich meine Spazierrunde an Nanni's Cup of Tea vorbei. Vielleicht sollte ich hineingehen und Bree um Rat fragen. Sie weiß bestimmt etwas Kluges, während mir nichts mehr einfällt. Mein Kopf ist wie leergefegt, seitdem mein Leben in Trümmern vor mir liegt. Job weg, Mann verärgert. Ich habe Ryan so viel zu erklären, wenn ich ihn nur erreichen könnte!
In dem Moment erkenne ich das Auto, das vor Nanni's parkt, und den Mann, der eben aussteigen will. Wie kann das sein? Habe ich ihn mit der Kraft meiner Gedanken zu mir gerufen?
»Ryan?« Ich bin so überrascht, ihn zu sehen, dass ich Kuros Leine fallen lasse. Der riesige Hund stürmt auf Ryan zu und mein Herz setzt einen Schlag aus. »Kuro! Nein! Kuro, aus!«
Mein Hund liebt mich, aber anscheinend respektiert er mich leider nicht, sondern verstärkt seine Sprünge. Ich renne los, aber ich werde Kuro niemals rechtzeitig erreichen. Was stimmt nur mit meinem Leben nicht?
Glücklicherweise bleibt Kuro schwanzwedelnd vor Ryan stehen. So abrupt, dass ich mit Wucht in ihn hineinlaufe, stolpere und in Ryans Armen lande. Seine warmen Hände halten mich fest. Ich sehe in seine braunen Augen, die mir so nah sind, und vergesse beinahe zu atmen. Mein Hirn ist wie leergefegt, ich kann ihn nur anschauen und bringe nicht einmal ein »Hallo« heraus. Warum sagt er nichts?
Als Kuro einmal bellt, zucke ich zusammen. Ryan zieht mich ein Stück zur Seite und näher an sich heran. Warm und weich spüre ich seine Lippen auf meinen. Automatisch schließe ich die Augen und lasse mich in den Kuss sinken. Sanft ist er, fragend. Ich öffne meine Lippen. Träume ich das? Sein Kuss wird fordernder. Mein Herz schlägt schneller und so laut, das muss er hören.
Plötzlich wirft sich Kuro mit Elan gegen uns. Bedauernd öffne ich die Augen und sehe in Ryans Gesicht. Seine Miene zeigt eine Mischung aus Zuneigung und Angst, was mich irritiert. Bis mir auffällt, wie argwöhnisch er Kuro betrachtet.
»Dein Hund ist wohl eifersüchtig. Kannst du ihn bitte zur Seite nehmen?«
Noch immer kann ich kein Wort herausbringen und nicke nur. Am liebsten möchte ich meine Hände in Ryans Nacken legen und ihn wieder zu mir heranziehen, möchte den Kuss ausdehnen, aber Kuro ist anderer Meinung. Fordernd stupst er mich an. Ich ergreife sein Halsband und zerre ihn von Ryan weg.
»Tut mir leid, ich hab’s nicht mit Hunden.« Ryan bemüht sich um ein Lächeln, aber ich bemerke, dass er Kuro kritisch mustert. Habe ich den Kuss nur geträumt?
»Kuro ist aus dem Tierheim, noch etwas unerzogen, aber nicht bösartig«, platze ich heraus. »Er wird dich nicht beißen. Denke ich.«
Eigentlich möchte ich ihn lieber fragen, was das eben war und warum es schon wieder vorbei ist. Gut, dann warte ich ab, was sich noch entwickelt.
»Das glaube ich dir, aber Hunde jagen mir einfach Angst ein.« Ryan hebt die Hände. »Als Kind bin ich übel gebissen worden. Die Tetanusspritze tat ihr Übriges.«
»Sorry, das wusste ich nicht.«
»Das ist ja auch nichts, über das man gern redet, nicht wahr?«
»Soll ich ihn anbinden?«
Nachdem Ryan nickt, binde ich Kuro vor dem Laden neben Nanni's fest. Mein Hund sendet mir einen anklagenden Blick. So eine Behandlung kennt er von mir nicht und stumm entschuldige ich mich bei ihm. Mit einem Seufzer legt er sich nieder, legt den Kopf auf die Pfoten und beobachtet Ryan und mich.
»Danke.« Ryan schaut immer noch nervös und achtet darauf, Kuro nicht zu nahe zu kommen. »Ich … ich muss dir etwas sagen.«
»Nein«, unterbreche ich ihn. »Überlass mir die erste Entschuldigung.«
Doch er hebt nur die Hand, um mich zum Schweigen zu bringen. Auch wenn die Worte aus meinem Mund drängen, hülle ich mich in Geduld. Meine Entschuldigung und die Erklärung für meine Schroffheit kann ich ihm immer noch geben.
»Gemma.« Ryans Tonfall klingt ernst. »Ich habe mich benommen wie ein Idiot. Entschuldige.«
»Die Königin der Idiotie bin wohl ich.« Meine Stimme klingt gepresst, weil mir wieder einfällt, was für einen miesen Tag ich hatte. »Warst du auf Branok Manor?«
Er nickt nur.
»Mr Bennett hat mich entlassen, zu Recht.« Ich kämpfe gegen den Kloß in meinem Hals an. »Aus, Kuro. Sitz.«
Zu meiner Überraschung und Freude setzt mein Hund sich hin. Vielleicht besitzt er ein Fitzelchen Respekt, was mich stolz macht.
»Hoffentlich verliert er wegen meiner Dummheit nicht seinen Auftrag.« Jetzt, wo ich jemanden habe, mit dem ich sprechen kann, kommen mir erneut die Tränen. Das Mitgefühl, das sich auf Ryans Miene abzeichnet, lässt den Damm meiner Selbstbeherrschung brechen. »Ich fühle mich so mies.«
»Es wird schon nicht so schlimm werden.« Tröstend tätschelt Ryan meine Schulter.
»Mr Bennett hat mich zu Recht herausgeworfen«, muss ich eingestehen. »Ich habe Mist gebaut. Einen Doppeloberriesenmist.«
»Du hast zwei Düngersorten und die Dosierung verwechselt. Das kann mal passieren.«
Dass er so verständnisvoll ist, macht es für mich nicht leichter, sondern eher schwerer. Seine Worte bieten mir einen Ausweg und eine Erklärung, mit der ich die Wahrheit vermeiden kann. Aber ich habe mich so oft versteckt, Ryan gegenüber will ich weder etwas verschweigen noch lügen.
»Das ist es nicht. Ich war mit dem Kopf in den Wolken.«
Fassungslos sieht er mich an. »Du nimmst Drogen?«
Ich kann nicht anders, ich muss lauthals lachen, was Ryans Miene nur noch finsterer blicken lässt.
»Nein, ich tagträume.« Nun ist es raus und ich wage nicht, ihn anzuschauen. »Immer schon, aber dieses Mal hat es üble Konsequenzen.«
»Was meinst du damit? Ist das etwas spezifisch Britisches?«
»Als Kind habe ich mich in meine Träume geflüchtet.« Ich kann Ryan nicht anschauen, als ich ihm das Geständnis mache. Noch nie habe ich jemandem davon erzählt. Was, wenn er mich dafür auslacht?
»Das machen die meisten Kinder«, sagt er sanft und drückt meine Hand, was Kuro mit einem Grollen quittiert. Sofort lässt Ryan los und tritt zwei Schritte zurück. »Ich habe immer gehofft, dass mein richtiger Vater kommt, der so viel besser ist als der, den ich hatte.«
»Bist du adoptiert?«
»Als Kind war ich mir sicher, dass man mich bei der Geburt vertauscht hat.« Er zwinkert mir zu. »Ich wünschte mir einen cooleren Vater, einen Astronauten oder Cowboy.«
»Aber irgendwann hören die meisten auf zu träumen, und sie werden erwachsen.« Ob er verstehen wird, was ich ihm erklären will? »Bei mir nicht, ich habe weiter in meinen Träumen gelebt.«
Auf seinem attraktiven Gesicht zeichnet sich deutlich Unverständnis ab. Das habe ich befürchtet. Hätte ich meinen Spleen nur für mich behalten!
»Aber …«, beginnt Ryan, »du hast doch einen Job und Freunde und alles, was dazugehört.«
Ich kann nicht antworten, weil mir Tränen in die Augen steigen. Kann er denn nicht sehen, wie wenig ich wirklich in meinem Leben habe? In dem Moment bemerke ich eine kühle Berührung an meiner Hand und sehe nach unten. Kuro hat sich an mich herangeschlichen, als spürt er, wie unglücklich ich bin.
»Ich habe studiert, was mein Dad für richtig hielt, habe einen Job gemacht, den ich hasse und mich mit Menschen getroffen, denen ich egal war. Das war mein Leben in London.«
»Aber hier hast du Freunde und arbeitest gern im Garten?«
»Es sind Bens Freunde, die mich adoptiert haben, weil ich sonst niemanden habe.« Himmel tut das weh, so etwas auszusprechen. »Ich liebe meinen Garten, aber das Gärtnern als Beruf ist nichts für mich. Was ich bewiesen habe.«
»Ja, es war ein Fehler, aber die passieren nun einmal.«
»Wenn ich der Besitzer von Branok Manor wäre, würde ich Mr Bennett entlassen.« Ich presse kurz die Lippen zusammen. Aber die Wahrheit muss ausgesprochen werden, auch wenn sie bitter ist. »Wenn ich Pech habe, muss ich Schadensersatz zahlen.«
»Ich werde dir beistehen. Wir finden einen Weg.«
»Danke.« Ich lehne meinen Kopf an seine Schulter und wünsche mir nur noch, dass er mich wieder in die Arme nimmt. Aber leider richtet sich das Leben nicht nach meinen Wünschen. »Aber was kannst du schon tun?«
Kuro sitzt wieder brav entfernt, aber sein Blick folgt jeder meiner Bewegungen. Ich habe den Eindruck, dass Ryan sich beobachtet fühlt und es nicht wagt, mich noch einmal zu küssen. Vielleicht sollte ich die Initiative ergreifen.
»Gemma, ich muss dir etwas beichten«, setzt Ryan an, wird aber unterbrochen, als ein Auto neben uns anhält. Mit quietschenden Reifen, wie in einem Hollywood-Film.
Kuro springt auf und kläfft. Die Tür des Wagens, eines schnittigen, knallroten Cabrios mit einem Mietwagennummernschild, öffnet sich. Die Frau, die elegant aussteigt, ist atemberaubend schön. Neben ihr würden selbst Bree und Chesten langweilig aussehen. Ich kann sie nur mit offenem Mund anstarren. Wie kommt jemand, der aussieht wie einem Hollywood Blockbuster entsprungen, in unser beschauliches St. Bartholomew?
Glatte Haare von einem so tiefen Schwarz, dass sie im Sonnenlicht blau schimmern, fließen über perfekte Schultern. Obwohl sie zwei Köpfe größer ist als ich, wiegt sie bestimmt kaum mehr als ich. Gemeinerweise hat sie trotz ihrer Schlankheit Kurven an den richtigen Stellen. Ihr Gesicht erinnert mich mit seinen perfekten Proportionen an die Bilder alter Meister.
Über wasserblauen Augen erheben sich elegant gezupfte Brauen. Ich kenne mich zu wenig mit den Tricks und Techniken weiblicher Schönheit aus und kann daher nicht erkennen, was an ihr echt ist und wo der Natur nachgeholfen wurde. Aber eigentlich ist das auch nicht wichtig. Sie ist dermaßen grandios, dass ich mir noch mausiger vorkomme als normalerweise.
Ich wage es kaum, Ryan anzusehen, der bestimmt hin und weg ist, von dieser Göttin. Aber seine Miene ist eher erschüttert als beeindruckt. Das kann ich mir beim besten Willen nicht erklären. Er hat die Hände zu Fäusten geballt und konzentriert sich ganz auf die Schönheit, was ich verstehen kann, auch wenn es schmerzt.
Mit großen Schritten gleitet sie auf uns zu, die High Heels betonen ihre Fesseln. Das schmal geschnittene Kleid ist aus einem fließenden Stoff, der ihre Figur hervorhebt. Neben mir knurrt Kuro, ein Geräusch, wie ich es bisher noch nicht von ihm gehört habe: ein bedrohliches Grollen, tief aus seiner gewaltigen Brust heraus. Als ich bemerke, dass er zum Sprung ansetzt, greife ich nach seinem Halsband. Obwohl ich ihn niemals halten könnte, wenn er wirklich losstürmt, bleibt Kuro sofort stehen. Er geifert noch immer, hält sich aber fest an meiner Seite, als ob er mich beschützen will. Es heißt ja, dass Hunde eine gute Menschenkenntnis besitzen, aber hier irrt Kuro. Diese Frau sieht nicht wie eine gefährliche Verbrecherin aus.
»Kayla?« Ryans Stimme klingt gepresst. »Was machst du hier?«
Nun steht mein Mund noch weiter offen. Ryan kennt diese Frau. Was hat das alles zu bedeuten? Bin ich in einer Vorsicht-Kamera- Show gelandet? Springt gleich jemand aus einem Busch hervor und brüllt: »Reingelegt!«?