»Deine Familie ist wirklich toll«, sage ich und schließe genießerisch die Augen, als Ryan meinen verspannten Nacken massiert. »Aber ich freue mich darauf, nach Hause zu kommen.«
»Ich mich auch«, flüstert er mir zu. Warm streicht sein Atem über meinen Nacken. »Dort wartet eine Überraschung auf dich.«
»Ich bin gespannt.« Dann lehne ich mich an ihn und lasse meinen Gedanken freien Lauf. Endlich einmal finde ich Ruhe, um die vergangenen Tage und Wochen Revue passieren zu lassen. Nachdem ich lange Zeit ein vollkommen ruhiges Leben hatte, haben sich die Ereignisse überschlagen, als ob das Schicksal mich auf die Probe stellen wollte. Genau genommen wurde ich von Ereignissen getrieben und habe spontan mein Leben von Grund auf geändert.
»Wie schade, dass ich so wenig von deiner Heimat gesehen habe«, sage ich und klammere mich an Ryans Hand, als der Flieger abhebt. Ich beuge mich ein wenig vor, um aus dem Fenster zu schauen. »Von oben sieht sie interessant aus.«
»Das nächste Mal reisen wir im Sommer und bleiben länger.« Er streichelt meinen Handrücken und ein wohliges Gefühl macht sich in Bauch und Herz breit. »Ich zeige dir die Nationalparks und Strände, alles, was du willst.«
»Ich will nur dich und Kuro.«
»Oder wir reisen im Herbst.« Ryan ist Feuer und Flamme für die Idee. »Im Indian Summer färben sich die Laubbäume rot, und golden und ockerfarben.«
Mich überkommt ein schlechtes Gewissen, weil er nicht in dem Land lebt, das er so offensichtlich liebt. Meinetwegen. Habe ich das wirklich verdient?
»Was ist los?«, fragt Ryan. »Du bist verspannt.«
»Flugangst«, flunkere ich. Das ist nicht ganz gelogen. Die gewaltige Strecke mit zwei Zwischenstopps ist mir wirklich nicht geheuer. »Und ich frage mich, ob ich mich richtig entschieden habe?«
»Falls nicht, machen wir etwas anderes.« Sanft küsst er meinen Hals. Ich wünschte, wir wären schon zu Hause. »Du musst dich dem nicht allein stellen.«
»Ich weiß.«
»Es ist kein Opfer«, flüstert er mir zu, als könnte er meine Gedanken lesen. »Ich habe mein ganzes Leben in Nova Scotia verbracht. Jetzt lerne ich die Heimat meiner Mutter besser kennen.«
Endlich ruft eine blechern klingende Stimme unseren Flug auf. Ich gähne, gestern Nacht habe ich zu wenig geschlafen. Unser Abschied von Ryans Familie zog sich bis weit nach Mitternacht hin, obwohl wir gewusst haben, wie früh wir aufstehen müssen. Alle haben uns zum Flughafen gebracht, es gab einen langen Abschied mit dem Versprechen, dass wir uns bald wiedersehen werden.
»Bleib du hier. Ich stelle mich in die Schlange.«
»Mein Held.«
Ich schaue ihm nach. Mein Herz schlägt Purzelbäume, weil dieser große, wunderbare Kanadier sich für mich entschieden hat. Ich bemerke die Blicke anderer Frauen, die ihm folgen, aber er gehört mir, nur mir. Bei ihm habe ich mich richtig entschieden.
Ich strecke mich, stehe auf und stelle mich neben Ryan. Demonstrativ lege ich den Arm um ihn. Sollen sie alle wissen, dass wir zusammengehören.
******
Ich weiß nicht, warum Ryan darauf bestanden hat, dass wir eine Nacht in London in einem Hotel verbringen, aber es hat sich gelohnt. Ich fühle mich wunderbar ausgeruht und kann es gar nicht erwarten, dass wir endlich ankommen. Mehr als vier Stunden sind wir bereits unterwegs und ich bin versucht, erneut zu fragen: »Sind wir bald da?« Die letzten Minuten bis zum Ziel machen mich immer zappelig.
»Bist du sicher, dass es Emily keine Mühe ist?«, frage ich, um mich abzulenken. »Wir hätten Kuro auch bei ihr abholen können.«
»Sie besucht Verwandte in Newcastle, hat sie gesagt.«
Hat Ryan gezögert, bevor er antwortete? Warum sollte er das tun? Es geht schließlich nur um die Frage, wann Kuro nach Hause kommt. Meine Gedanken wandern. Hoffentlich wird ihm mein Geschenk gefallen. Ich habe in Middlesbrough einen Tischler ausfindig gemacht, der mit uralten, traditionellen Techniken arbeitet, und Ryan dort zu einem Wochenendkurs angemeldet. Was mein Liebster wohl für ein Geschenk für mich hat? Bisher hat er nichts davon verlauten lassen. Ich lasse mich überraschen und erwarte nichts.
Endlich sind wir an dem kleinen Haus angekommen, das wir gemietet haben. Hinten ist ein Garten, nicht riesig, aber viel größer als das winzige Fleckchen, das mir in St. Bartholomew gehörte. Mein Herz schlägt schneller, als Ryan abbremst. Home, sweet home.
»Halt!«, stoppt mich seine Stimme. »Ich will dich über die Schwelle tragen.«
»Wir sind nicht verheiratet«, protestiere ich, aber zu spät. Mein kanadischer Riese hat mich hochgehoben, als wäre ich eine Feder.
»Hier ist meine Nach-Weihnachts-Überraschung 1.« Ryan grinst breit. »Willkommen zu Hause.«
Er deutet auf die Tür zu unserem Wohnraum. Ich öffne die Tür und erstarre. Unter einem großen Banner »Alles Gute in Middlesbrough!« stehen sie versammelt: Alys und Jory, Chesten und Darren, Sylvia und Frederick und natürlich Bree und Ben. Kuro will mir entgegenspringen, aber Emily hält ihn fest an der Leine. Neben ihr stehen, ein unbekannter Mann, der mich an einen jungen Hugh Grant erinnert, und Joanne, meine zukünftige Chefin.
»Nein«, flüstere ich. »Wann? Wie?«
Ich schniefe und erkenne meine Freunde nur undeutlich, weil ich zu Tränen gerührt bin. Sie reichen mich von einer Umarmung zur nächsten. Ich wünsche frohe Weihnachten, beantworte Fragen und stelle selbst welche. Alles wie in Trance, weil ich immer noch nicht fassen kann, was Ryan auf die Beine gestellt hat.
Kuro schlabbert mir seine gewaltige Zunge durchs Gesicht, was alle zum Lachen bringt. Ryan verteilt Getränke, während Ben und Bree das Buffet eröffnen, das die beiden auf dem Tisch aufgebaut haben. Wir stoßen alle miteinander an, bevor Ryan mich weiterzieht. »Ich habe noch eine Überraschung für dich.«
»Wir können unsere Gäste nicht allein lassen«, wehre ich ab, aber er gibt nicht nach und führt mich zu unserem Schlafzimmer.
Vorsichtig öffnet er die Tür und späht hinein. Dann hebt er den Zeigefinger vor den Mund. Neugierig schlängele ich mich an ihm vorbei. Ein Überraschungslaut entkommt mir. Auf dem riesigen rotkarierten Hundekissen liegt ausgestreckt eine getigerte Katze und schläft, als gäbe es den Party-Krach nebenan nicht.
»Ist das …?« Erneut kommen mir die Tränen und ich kann meine Frage nicht stellen. »Ist es das Kätzchen, das wir gefunden haben?«
»Ivy. Ich habe sie nach dem Efeu genannt, den wir bekämpfen mussten.« Auch seine Stimme klingt rau. »Ich habe Emily gebeten zu prüfen, ob Kuro und sie sich verstehen.«
»Funktioniert es?« Ich möchte mir nicht vorstellen, was passiert, sollte mein riesiger Hund die Kleine nicht mögen.
»Pass auf.« Ryan öffnet die Tür und ruft: »Kuro, hierher, mein Großer!«
Mein Hund kommt angaloppiert, als hätte er nur auf diese Gelegenheit gewartet. Als er an mir vorbeistürmt, halte ich den Atem an. Werde ich schnell genug sein, das Kätzchen zu retten? Emily hätte niemals zugelassen, dass Ryan die Katze holt, wenn Kuro sie nicht mag. Aber es ist schon ein erschreckender Anblick, als sich die gewaltige schwarze Nase dem schlafenden Samtpfötchen nähert.
»Ryan, ich halte das nicht aus.«
»Wenn ich Kuro vertraue, kannst du das erst recht.«
In dem Moment erreicht der Hund das Kätzchen. Seine gewaltige Zunge schießt hervor und leckt der Kleinen über das Fell. Sie öffnet ein Auge, hebt eine Pfote und faucht. Sofort schreckt Kuro zurück. Vorsichtig nähert er sich wieder der Katze, die die Krallen ausfährt und nach ihm schlägt. Da dreht Kuro sich um, einen sichtlich enttäuschten Ausdruck auf dem Gesicht, und legt sich in das Katzenbett. Genauer gesagt legt er sich auf das hellgraue Katzenbett, das unter seinem gewaltigen Körper verschwindet. Kuro platziert den Kopf auf die Pfoten und beobachtet den Stubentiger, ob neidisch oder beschützend, da bin ich mir nicht ganz sicher.
»Sie hat ihn von der ersten Begegnung an unter der Pfote gehabt.« Emily stellt sich zu uns und beobachtet Hund und Katze. »Kuro ist ein Beschützer. Da müsst ihr euch keine Sorgen machen.«
»Ich mache mir eher Sorgen, ob sie ihn leben lässt.« Ryan lacht. »Ivy scheint sehr durchsetzungsstark zu sein.«
»Craig und ich müssen uns verabschieden. Wir wollen heute noch nach St. Bart zurückfahren. Die Tiere warten.«
Ryan und ich begleiten sie zur Tür.
»Danke, danke für alles.« Ich umarme Emily. »Ohne dich hätte ich das nicht geschafft.«
»Du brauchtest nur einen kleinen Schubs.« Sie erwidert die Umarmung. »Lasst von euch hören.«
»Gute Reise«, wünsche ich und dann stehe ich mit Ryan allein im Flur. Mein Geschenk werde ich ihm überreichen, wenn wir wieder allein sind.
»Gemma?« Wie immer flattern wunderschöne Falter in meinem Bauch auf, wenn Ryan meinen Namen sagt. »Tagträumst du wieder?«
»Nein«, antworte ich. Eine unglaubliche Wärme durchströmt mich, als ich mich an ihn ankuschele. »Nein, das muss ich nicht mehr. Mein Leben ist schöner, als ich es mir erträumen könnte.«