5. KAPITEL

„Wünschen Sie noch Kaffee, Señor?“, fragte Lucia, als Jeremy am nächsten Morgen beim Frühstück saß. Er war allein mit Manolos Schwester, die als Hausangestellte auf dem Gestüt arbeitete und auch für die Gästebetreuung zuständig war, wie er inzwischen wusste.

Sheryl schlief noch, und Manolo war in aller Frühe zum Großmarkt gefahren, um Lebensmittel zu kaufen, weil sich für morgen endlich einmal wieder ein Gast angemeldet hatte.

„Nein, vielen Dank, Lucia“, verneinte er ihre Frage freundlich. „Ach, sagen Sie, bevor ich damals fortging … Haben wir uns da geduzt?“

Sie nickte stumm.

„Dann sollten wir das auch weiterhin tun.“ Er lächelte. „Einverstanden?“

Wieder nickte sie stumm.

„Sag mal, Lucia: Weißt du vielleicht Näheres über den Gast, der morgen kommt?“

Sie zuckte mit den Schultern, während sie an der Spüle hantierte. „Ein junges Mädchen. Ihre Eltern bringen sie her und fahren dann weiter. Ist oft so.“

Jeremy nickte. Genau das war ihm auch direkt aufgefallen, als Sheryl ihm vom Alltag auf dem Gestüt erzählt hatte. Daher war ihm ja der Einfall gekommen, das Angebot ein wenig umzustricken und zu erweitern.

Es freute ihn, dass sein Vorschlag bei Sheryl so gut angekommen war, und er konnte es kaum abwarten, mit ihr zusammen weiterzuplanen und die Details auszuarbeiten. Unwillkürlich fragte er sich, ob sie früher auch so gut zusammengearbeitet hatten. Oder war die Tatsache, dass sie nicht nur zusammenlebten, sondern auch miteinander arbeiteten, eine Belastung für ihre Ehe gewesen?

„Sag, Lucia“, meinte er jetzt, während er den letzten Rest Kaffee aus der Tasse trank. „Waren Sheryl und ich … Waren wir glücklich?“

Ihm entging nicht, dass die Spanierin erschrocken innehielt.

„Ich … ich möchte nicht darüber reden, por favor“, erwiderte sie hastig.

Jeremy runzelte die Stirn. Dass Manolos Schwester ziemlich in sich gekehrt und manchmal sogar ein bisschen ängstlich wirkte, war ihm bereits aufgefallen; diese Reaktion aber verwunderte ihn doch.

„Bitte, Lucia, verstehe mich doch. Du … du kannst dir nicht vorstellen, wie es ist, keine Erinnerung mehr zu haben. Ich bin völlig auf die Hilfe anderer angewiesen, auch auf deine. Daher bitte ich dich noch einmal, sag mir …“

„No!“ Sie legte den Lappen beiseite, mit dem sie eben die Spüle ausgewischt hatte, drehte sich um und sah Jeremy an. „Por favor, frag mich nicht weiter, ich kann dir wirklich nichts sagen.“

Mit diesen Worten wandte sie sich ab und eilte hastig aus der Küche. Verwundert sah Jeremy ihr nach. Irgendetwas stimmte nicht mit Lucia. Es schien fast so, als wüsste sie etwas über ihn, über das sie nicht sprechen wollte. Über ihn und Sheryl. Aber was konnte das sein?

In dem Moment, in dem er an Sheryl dachte, betrat sie auch schon die Küche. Sie sah verschlafen aus, ungeschminkt, das Haar noch ganz zerzaust. Überhaupt hatte Jeremy sie bisher noch nie geschminkt und zurechtgemacht gesehen. Doch seiner Meinung nach brauchte sie auch kein Make-up, es würde ihre wahre Schönheit nur überdecken.

Sie gähnte herzhaft, was sie unheimlich süß wirken ließ, und sofort fühlte Jeremy sich wieder beinahe schmerzhaft zu ihr hingezogen. Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte sie einfach in seine Arme geschlossen.

Aber genau das solltest du nicht tun. Du solltest sie nicht zu sehr an dich heranlassen – in deinem eigenen, aber auch in ihrem Interesse. Nicht ehe du weißt, wer du bist, was du getan hast – und wer sie ist.

Seit zwei Jahren lebte er nun schon mit der Ungewissheit, womöglich ein Verbrecher zu sein. Die schrecklichsten Szenen waren vor seinem geistigen Auge abgelaufen, doch nicht eine davon war für ihn greifbar gewesen.

Tief in seinem Inneren konnte er sich einfach nicht vorstellen, einem anderen Menschen Leid anzutun. Aber was wusste er schon wirklich über sich? So gut wie gar nichts. Und seine Kleidung war nun mal blutverschmiert gewesen, als er zu sich gekommen war, und er selbst hatte keine offene Wunde an seinem Körper gefunden.

Er konnte – durfte – sich selbst nicht trauen. Und wenn er schon nicht von hier fort konnte, weil er wahrscheinlich nur hier die Chance bekam, seine Erinnerung zurückzubekommen, dann musste er Sheryl anderweitig vor sich schützen. Und zwar, indem er auf Abstand ging.

Doch der Gedanke war verflogen, ehe er ihn zu Ende gedacht hatte.

„Guten Morgen“, sagte er freundlich, stand auf und rückte Sheryl einen Stuhl zurecht. „Setz dich doch. Möchtest du Kaffee?“ Er zwinkerte ihr zu. „Ich habe Lucia eben beobachtet und mir gemerkt, wo alles steht.“

„Na, wenn das so ist: Gerne!“ Lachend setzte sie sich und nahm sich, während Jeremy ihr Kaffee einschenkte, von einer Platte auf dem Tisch einen Churro, ein spanisches Schmalzgebäck, das den meisten Andalusiern zum Frühstück genügte.

Er nahm ihr gegenüber Platz und sah ihr beinahe fasziniert beim Essen und Trinken zu. Es wunderte ihn selbst, wie sehr ­Sheryl ihn mit ganz normalen Kleinigkeiten jedes Mal aufs Neue in ihren Bann zog. Diese Frau hatte etwas an sich, das er nicht in Worte fassen konnte. Hatte er sie wirklich verlassen? Lieber Himmel, welch ein Narr musste der alte Jeremy gewesen sein!

„Was ist los?“, fragte sie stirnrunzelnd. „Habe ich Schokolade im Gesicht, oder warum starrst du mich so an?“

Hastig wandte er den Blick ab. „Ich habe nur gerade nach­gedacht“, wechselte er rasch das Thema. „Und zwar über ­Lucia.“

„Du starrst mich an und denkst an Lucia?“ Tadelnd schüttelte sie den Kopf, lächelte dabei aber. „Was ich davon wohl halten soll?“

„Im Ernst, Sheryl, mir ist aufgefallen, dass sie sich ein wenig merkwürdig mir gegenüber benimmt. Oder ist sie immer so zurückhaltend?“

„Zurückhaltend? Nein, eigentlich gar nicht. Lucia ist eine sehr sympathische und stets hilfsbereite junge Frau. Sie ist sehr engagiert, und es fühlt sich schon an, als wären wir eine Familie.“

„Dann muss es an mir liegen“, erwiderte er nachdenklich. „Auf mich wirkte sie eben auch wieder regelrecht ängstlich.“

„Du musst dich täuschen“, antwortete Sheryl. „Ängstlich hat sie auf mich jedenfalls noch nie gewirkt.“ Sie trank einen Schluck Kaffee. „Vielleicht liegt es daran, dass sie mit dir nicht recht umzugehen weiß. Ich meine, auch für sie ist es sicher nicht leicht, ebenso wie für ihren Bruder. Du warst hier immer der Mann im Haus und zudem ihr Arbeitgeber. Und jetzt …“

„Ich verstehe schon.“ Er nickte. „Ich komme ja selbst nicht mit mir klar, wie soll ich von Manolo und seiner Schwester dann erwarten, dass sie es können?“ Er machte eine kurze Pause. „Oder von dir?“

Ein unangenehmes Schweigen entstand, doch ehe es zu lang andauern konnte, sagte Sheryl in die Stille hinein: „Ich hoffe übrigens, du bist ausgeschlafen. Ich möchte nämlich, dass wir gleich heute mit der Arbeit beginnen.“

„Und was genau hast du dir vorgestellt?“

„Ich dachte mir, dass ich dich vielleicht erst einmal richtig auf dem Gestüt herumführe. Ich weiß zwar, dass du dir schon einiges angesehen hast, aber ich hätte gern, dass du dich richtig vertraut machst mit allem. Und dann können wir schon einmal schauen, was genau wir ändern und neu machen wollen.“ Sie aß den letzten Bissen von ihrem Churro, den sie noch einmal in flüssige Schokolade tunkte und sah ihn fragend an. „Na, was meinst du? Können wir gleich loslegen?“

„Natürlich.“ Er nickte. „Nur einen Moment noch, jetzt hast du da nämlich wirklich Schokolade im Gesicht.“ Er beugte sich vor und streckte seine Hand aus. Als sein Zeigefinger die Stelle neben ihrem rechten Mundwinkel berührte, spürte Jeremy, wie Sheryl leicht zusammenzuckte. Doch nicht, weil es ihr unangenehm war, sondern im Gegenteil. Es gefiel ihr, das spürte er. Hatte er schon immer eine solche Wirkung auf sie ausgeübt? Und sie auf ihn?

Er zog den Finger wieder zurück und konnte nicht widerstehen, ihn sauber zu lecken. Die Schokolade schmeckte besser als sonst – zumindest bildete er sich das ein.

„Dieses Gestüt ist wirklich ein Traum“, sagte Jeremy, und Sheryl erkannte an seinem Gesichtsausdruck, dass er es wirklich ernst meinte.

Sie lächelte. „Kein Wunder. Du warst ja daran beteiligt, es zu dem zu machen, was du heute siehst.“

Inzwischen war es Nachmittag, und Sheryl hatte die letzten Stunden damit verbracht, Jeremy das Gestüt genau zu zeigen und ihm alles Wissenswerte zu erklären. Da war eine ganze Menge zusammengekommen, angefangen bei der Versorgung der Pferde über Bestellungen und Unterbringung der Gäste bis hin zur Buchhaltung.

Jetzt standen sie draußen bei den Pferden, und während sie sich über Details ihrer Planungen für die Umgestaltung des Gestüts unterhielten, tätschelte Sheryl Sunshines Hals, was sich die Stute nur zu gern gefallen ließ.

„Ich schlage vor, dass wir morgen einen genauen Plan ausarbeiten“, sagte Jeremy. „Ein Konzept mit unserem Vorhaben.“

Sheryl nickte. „Genau. Und das können wir dann auch der Bank vorlegen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass sie uns dann noch einmal einen Kredit geben. Schließlich ist abzusehen, dass wir nur mit dieser Umstrukturierung aus unserer schlechten Lage herauskommen können. Allerdings werde ich morgen nicht den ganzen Tag zur Verfügung stehen, da ich mich auch um unseren Gast kümmern muss. Aber bei der Gelegenheit …“ Sie stutzte.

„Woran denkst du?“, hakte Jeremy nach.

„Wenn die Familie, die ihre Tochter hier absetzt, morgen ankommt, können wir ja mal vorsichtig nachhaken, was sie von unserer Idee hält. Dann bekämen wir gleich eine Reaktion von den Leuten, die wir schließlich erreichen wollen.“

„Gute Idee“, stimmte Jeremy zu. „Dann sollten wir aber gleich schon mal ein paar Dinge notieren, die sich die Leute morgen angucken können.“ Er sah sie an. „Dieses Pferd magst du ganz besonders gern, oder?“ Er deutete mit einem Kopfnicken auf Sunshine.

Sheryl nickte. „Ja, allerdings. Aber du weißt ja auch, warum.“

„Du meinst, ich wusste es.“

„Ach herrje.“ Sie verdrehte die Augen. „Ich verstehe nicht, wie ich es immer wieder vergessen kann, dass du all das ja gar nicht mehr weißt. Also: Ja, es stimmt. Sunshine ist ein ganz besonderes Pferd. Damals, als wir hierherkamen, war ich dabei, als es zur Welt kam. Und ich habe ihm dem Namen Sunshine gegeben, weil …“ Sie schloss die Augen. „Meine jüngere Schwester Kim wurde von meinen Eltern und mir immer so genannt. Sie … sie starb, als sie noch ein kleines Mädchen war.“

Jeremys Miene wurde ernst. „Das tut mir sehr leid“, sagte er, und Sheryl spürte, dass er wirklich tief bewegt war.

„Komm“, sagte sie rasch, vor allem, weil sie selbst nicht weiter in der Vergangenheit wühlen wollte, „ich glaube, ein Glas Eistee wird uns beiden guttun. Und dabei können wir dann schon mal grob die Pläne erarbeiten, was meinst du?“

Er nickte. „Gute Idee.“

Sheryl strich Sunshine noch einmal über den Kopf, dann gingen sie zurück zum Haus. Plötzlich ergriff Jeremy ihre Hand, und den Rest des Weges legten sie Hand in Hand zurück.

Fast so wie früher.

Etwas später, in einer Villa in Marokko

„Und? Wie sieht es aus? Ist Baker aus dem Weg geräumt?“, fragte der Mann.

Die Stimme am anderen Ende der Telefonleitung zitterte leicht. „Noch nicht. Hören Sie, so einfach wird das nicht werden.“

„Warum?“

„Baker ist … Sagen wir mal, er hat viel Aufsehen erregt mit seiner Rückkehr. Die Leute interessieren sich für ihn, belagern sein Anwesen. Sogar die Presse ist vor Ort. Wenn ihm jetzt etwas zustößt, wird es eine Wahnsinnsaufregung hier geben. Dann wird nachgeforscht, und zwar genauestens.“

„Dann müssen Sie es halt wie einen Unfall aussehen lassen.“

„Das werde ich auch. Aber ich habe noch einen anderen Plan, um uns alle zusätzlich abzusichern. Bloß brauche ich dafür noch etwas mehr Zeit.“

„Wie viel?“ Der Mann kniff die Augen zusammen.

„Das kann ich im Moment noch nicht sagen. Ich muss noch ein bisschen abwarten und …“

„Warten Sie nicht zu lange. Wenn ich das Gefühl habe, dass Sie nicht Herr der Lage sind, schicke ich meine Männer. Die werden schon wissen, was zu tun ist. Mit Baker und auch mit Ihnen.“

Ein Schlucken vom anderen Ende der Leitung war zu vernehmen.

Ohne eine Antwort abzuwarten oder noch etwas zu sagen, beendete der Mann das Gespräch.

„Diese Hütte soll ein Restaurant sein?“, fragte Jeremy erstaunt. Nachdem sie noch den gesamten Nachmittag damit verbracht hatten, ihre Planungen zu Papier zu bringen, hatte Sheryl spontan vorgeschlagen, gemeinsam essen zu gehen.

Jeremy freute sich darüber. Es zeigte ihm, dass sie langsam zwischen dem alten und dem neuen Jeremy zu unterscheiden begann. Sicher war und blieb er letztendlich ein und dieselbe Person, und was er seiner Frau angetan hatte, konnte er nicht rückgängig machen. Doch an all das hatte er nun mal keine Erinnerung, von daher war es gut, dass Sheryl ihn nicht ständig mit Vorwürfen überschüttete, sondern das Ganze differenzierter betrachtete, was die Einladung zum Essen bewies.

Als sie jetzt allerdings aus Sheryls Wagen stiegen, den sie an einer Straße abgestellt hatte, die parallel zur Strandpromenade verlief, war weit und breit kein Restaurant zu sehen. Zumindest keines, wie er es erwartet hatte.

Nur eine kleine, schlichte Holzhütte direkt am Strand.

„Lass dich vom ersten Eindruck nicht täuschen“, erwiderte Sheryl lächelnd, aber er bemerkte auch einen Anflug von Enttäuschung in ihrem Blick. Waren sie früher womöglich öfter hier gewesen? Hatte sie gehofft, dass er sich an etwas erinnerte?

Ehe er etwas erwidern konnte, nahm sie seine Hand. „Komm …“

Sie erreichten die Strandhütte und traten ein. Überrascht schaute sich Jeremy in dem Raum um. Dies mochte kein Nobelrestaurant sein, aber auf jeden Fall war es mehr, als er vor dem Eintreten erwartet hatte. Rustikale Holztische und Stühle bildeten die Grundeinrichtung. Auf jedem der Tische lag eine rot-weiß karierte Decke und Kerzen sorgten für eine romantische Stimmung. An den Wänden hingen Gemälde, die Szenen aus der Umgebung zeigten. Jeremy erkannte auf einem davon den Torre del Oro wieder.

Das Restaurant war gut besucht – ebenso die Terrasse, die nach hinten hinaus aufs Meer blickte. Bis auf einen Tisch waren alle anderen belegt.

„Ich habe auf den Namen Baker reserviert“, erklärte Sheryl dem Kellner, der sie daraufhin zu ihrem Platz führte.

Sie setzten sich, und Jeremy blinzelte verblüfft. „Du hast reserviert? Wann das denn?“

„Um ehrlich zu sein, schon heute Vormittag.“ Sie lächelte verlegen. „Es war also kein ganz so spontaner Entschluss von mir, mit dir essen zu gehen.“

Er nickte. Das bestätigte seine Annahme, dass es mit diesem Lokal etwas Besonderes auf sich haben musste. Er räusperte sich. „Waren wir früher … öfter hier?“, erkundigte er sich.

Der Ober kam, brachte die Speisekarten und nahm ihre Getränkebestellung auf – Sheryl wählte eine Flasche Weißwein und Mineralwasser. Sobald sie wieder allein waren, nickte sie Jeremy zu.

„Ja“, antwortete sie auf seine Frage. „Sooft es unsere Zeit zuließ. In der letzten Zeit dann leider nicht mehr so häufig. Aber gerade zu Anfang haben wir viel Wert darauf gelegt, regelmäßig auszugehen, und dieser Ort hier hatte es uns beiden einfach angetan.“

„Was ich sehr gut verstehen kann“, sagte Jeremy ehrlich. „Es ist wirklich wunderbar hier.“

Sie grinste. „Warte ab, bis du gegessen hast. Dann wirst du richtig begeistert sein.“

„Was kannst du mir denn empfehlen?“, fragte er Sheryl, als der Ober kam, um die Getränke zu servieren und die Bestellung aufzunehmen.

Keine zehn Minuten später wurden zwei große Teller mit herrlich duftenden, leicht angebratenen Garnelen gebracht, mariniert in einer Mischung aus Olivenöl, Zitrone und Kräutern.

Inzwischen hatten sie auch bereits von dem Wein getrunken, der Jeremy ganz ausgezeichnet schmeckte.

„Hm“, sagte er jetzt mit Blick auf seinen Teller. „Das duftet wirklich gut und sieht auch ganz hervorragend aus.“

„Dann koste, ehe es kalt wird“, forderte Sheryl ihn auf und begann selbst zu essen.

Es schmeckte köstlich. Solange Jeremy zurückdenken konnte, hatte er sich nicht so entspannt gefühlt. Sie aßen und tranken, unterhielten sich und lachten, und die Zeit verging wie im Flug.

Jeremy fühlte sich wie berauscht, was wohl an den vielen Eindrücken und der besonderen Stimmung hier draußen lag. Das lautstarke Stimmengewirr der Gäste vermischte sich mit dem Rauschen der Brandung und dem Kreischen der hungrigen ­Möwen.

Aber vor allem lag es wohl an seiner Begleitung. Je mehr Zeit er mit Sheryl verbrachte, desto klarer wurde ihm, warum er sich damals offenbar in sie verliebt und sie geheiratet hatte: Sie war einfach eine ganz besondere Frau. In ihrer Gegenwart fühlte er sich wohl und geborgen.

Und die ohnehin schon ziemlich leise Stimme der Vernunft, die ihm riet, vorsichtig zu sein, weil er diese Frau schließlich gar nicht kannte, rückte noch weiter in den Hintergrund, bis sie schließlich ganz verklang.

Sheryl blickte auf die Uhr und nickte zufrieden. Jeremy bemerkte, dass sich die Stimmung im Lokal veränderte. Die Gespräche verstummten, so als würden die Gäste gespannt auf etwas warten.

„Was ist los?“, fragte er irritiert.

„Nun, jetzt erwartet uns noch eine ganz besondere Attraktion.“ Sheryl lächelte, und ihre Augen nahmen einen besonderen Glanz an, als sie zu einer kleinen improvisierten Bühne am anderen Ende des Lokals zeigte, die Jeremy bisher noch gar nicht aufgefallen war.

In diesem Augenblick betrat eine attraktive Spanierin die kleine Bühne. Sie trug ein prachtvolles Kleid mit Rüschen und langer Schleppe. Begleitet wurde sie von zwei gut aussehenden Männern, die schwarze Hosen und weiße Hemden trugen. Einer der beiden trug eine Gitarre, und sobald alle drei auf der Bühne standen, begann er auch schon, darauf zu spielen.

Sheryl beugte sich zu Jeremy vor. „Was dich jetzt erwartet“, raunte sie ihm heiser zu, was ihre Stimme ungemein sexy klingen ließ, „ist echter Flamenco.“

Mit harten Akkorden gab der Mann mit der Gitarre den Rhythmus vor, und sofort begannen die Zuschauer, im Takt mitzuklatschen. Jeremy hielt sich zunächst zurück und beobachtete Sheryl, in deren Augen ein begeisterter Glanz lag. Sie schien schon jetzt komplett im Geschehen versunken zu sein.

Auch Jeremy begann zu klatschen, und in dem Moment begann der Mann ohne Gitarre, in einer fremdartig wirkenden Tonfolge zu singen, erst ganz leise, dann immer lauter.

Währenddessen stand die Frau in einer aufrechten, stolzen Haltung auf der Bühne, führte eigenartig wirkende Bewegungen mit den Armen aus und stampfte abwechselnd mit den Absätzen und Spitzen ihrer Schuhe auf den Holzboden der Bühne, was ein Geräusch verursachte, das die Gitarrenklänge und den Gesang sogar noch übertönte.

Die gesamte Darbietung wirkte so fremdartig und doch so vertraut auf Jeremy, dass ihm eines klar wurde: Einer solchen Aufführung wohnte er heute nicht zum ersten Mal bei, auch wenn er sich nicht erinnern konnte, so etwas jemals zuvor gesehen zu haben.

Als die Aufführung endete, klatschten die Zuschauer begeistert Beifall. Die Künstler bedankten sich, indem sie sich verbeugten, verließen die Bühne aber nicht, sondern begannen nun, die Gäste weiter mit spanischer Musik und Gesang zu unterhalten. Sofort erhoben sich die meisten der Leute von ihren Plätzen und fingen an, ausgelassen zu tanzen.

Auch Sheryl stand auf. Zu Jeremys Überraschung hielt sie ihm die Hand hin.

„Was …?“ Er lächelte verunsichert.

„Komm schon“, sagte sie lachend. „Ich möchte mit dir ­tanzen.“

„Aber ich kann nicht …“

Sie nickte fest. „Oh doch, du kannst“, versicherte sie ihm mit fester Stimme. „Und wie!“

„Das mag ja sein, aber …“ Er räusperte sich angestrengt. „Du vergisst dabei, dass ich mich nicht erinnere …“

„Und du vergisst, dass du einmal Erlerntes weiterhin beherrschst. Wie hat es der Arzt im Krankenhaus noch gleich ausgedrückt? Sofern du einen Führerschein besessen hast, kannst du also auch wieder Auto fahren. Sobald du hinter dem Steuer sitzt, wirst du wissen, was zu tun ist. Nun, das müsste dann ja auch fürs Tanzen gelten. Und ich möchte jetzt wissen, ob das stimmt.“

Sie sah ihn herausfordernd an. „Also, was ist?“