8. KAPITEL

„Marta! Pablo! Ich freue mich, dass ihr gekommen seid.“ Sheryl schüttelte die Hände ihrer Gäste und wandte sich dann ihrem Mann zu, der neben ihr stand. „Jeremy, das sind liebe Freunde, die ganz in der Nähe eine Olivenplantage betreiben.“

„Freut mich, euch kennenzulernen.“ Lachend schüttelte auch Jeremy den beiden die Hände. „Ihr kennt mich ja schon, aber ihr habt ja sicher auch gehört, dass es bei mir ein wenig anders ist … Geht doch bitte durch in den Garten, dort werdet ihr von Lucia mit Champagner und Kanapees versorgt.“

Sheryl blickte Jeremy lächelnd an. Er machte seine Sache wirklich gut. Seit etwa zehn Minuten trudelten die Gäste ein, und obwohl sie spürte, dass er sich angesichts der vielen unbekannten Gesichter alles andere als wohlfühlte in seiner Haut, begrüßte er tapfer jeden Einzelnen von ihnen mit Handschlag und wechselte ein paar freundliche Worte.

Als endlich so gut wie alle Gäste eingetroffen und mit Häppchen und Getränken versorgt waren, konnte Sheryl endlich in Ruhe ein paar Worte mit Jeremy wechseln.

„Ich kann gar nicht mehr zählen, wie viele Leute mir gesagt haben, wie schön hier alles geworden ist“, berichtete sie. „Du hast aber auch wirklich ganze Arbeit geleistet – der Pavillon sieht einfach prachtvoll aus. Fast wie neu, nur noch besser.“

Beinahe schüchtern lächelnd rieb Jeremy sich den Nacken. „Ach, das ist doch nicht der Rede wert. Körperliche Arbeit geht mir leicht von der Hand – und solange die Grundsubstanz vorhanden ist …“

„Du solltest dein Licht wirklich nicht unter den Scheffel stellen“, entgegnete sie lachend. „Ohne dich hätte ich das niemals geschafft.“ Sie machte eine kurze Pause. „Danke.“

Ehe er etwas erwidern konnte, kam Felipe, einer ihrer Nachbarn, auf sie zu und klopfte Jeremy auf die Schultern. „Dass wir dich hier jemals wiedersehen würden … Ich muss schon sagen, dass ich nicht damit gerechnet habe.“

Ein wenig verlegen zuckte Jeremy mit den Achseln. „Tja, jetzt bin ich ja wieder da …“

„Ja, und mir ist zu Ohren gekommen, was Sheryl und du plant.“ Anerkennend nickte der ältere Spanier. „Guter Gedanke. Auf diese Weise erreichst du ein viel größeres Publikum. Könnte mir vorstellen, dass sich sogar einige der größeren Reiseveranstalter dafür interessieren.“

„Das hoffen wir zumindest“, meldete Sheryl sich zu Wort. „Für heute Abend hat sich zumindest schon einmal ein Reporter der hiesigen Zeitung angekündigt, der ein Interview mit uns machen will … Ach, ich glaube, dort hinten ist er auch schon. Señor Guzman? Buenas tardes, wie schön, dass Sie es einrichten konnten. Möchten Sie vielleicht ein Glas Champagner?“

Sie merkte, wie froh Jeremy war, dass sie die Angelegenheit mit dem Journalisten in die Hand nahm und er sich stattdessen um andere Dinge kümmern konnte.

Auf die Fragen des Reporters hatte sie sich schon den ganzen Tag vorbereitet, sodass sie sie ohne größere Mühe beantworten konnte. Bis er schließlich einen Punkt anschnitt, mit dem sie überhaupt nicht gerechnet hatte.

„Señora Baker – es stimmt doch, dass Ihr Mann vor zwei Jahren spurlos verschwunden ist. Kam seine Rückkehr nicht überraschend für Sie?“

Sheryl stockte. „Ich … Wollten wir uns nicht eigentlich über das Projekt unterhalten?“

„Natürlich, aber unsere Leser interessieren sich auch für alle anderen Belange der Story. Wie ich hörte, kann sich Ihr Mann an nichts mehr erinnern. Wie haben Sie ihn ausfindig gemacht? Und hatten Sie wirklich noch Hoffnung, dass Sie ihn eines Tages wiedersehen würden?“

„Mithilfe eines Privatdetektivs“, antwortete sie wahrheitsgemäß. „Und nein, nach all der Zeit habe ich eigentlich nicht mehr mit seiner Rückkehr gerechnet.“

„Aber hat er Sie denn nicht auch um sehr viel Geld gebracht? Laut meinen Informationen ist er doch mit einem Großteil Ihres gemeinsamen Vermögens durchgebrannt.“

Sheryl zögerte. Was sollte sie darauf erwidern? Es stimmte ja – aber Jeremy war nicht mehr der Mann, der damals fortgegangen war. Und schlechte Schlagzeilen waren das Letzte, was sie im Augenblick gebrauchen konnten.

Sie räusperte sich angestrengt. „Ich …“

„Meine Frau will sagen, dass wir dieses Thema an einem so wunderbaren Abend wie heute lieber nicht diskutieren möchten.“ Jeremy trat neben sie und legte ihr zärtlich einen Arm um die Taille. „Warum nehmen Sie sich nicht ein Glas Champagner und feiern mit uns? Nachher unterhalten wir uns dann weiter über das Projekt, das meine Frau und ich ins Leben rufen werden.“

Erleichtert atmete Sheryl auf, als der Reporter nach kurzem Zögern nickte. „Also schön. Und vielen Dank noch mal für die Einladung.“

„Du erstaunst mich immer wieder“, sagte sie, nachdem sie sich ein Stück weit vom Trubel der Feier entfernt hatten. „Wie souverän du diesen aufdringlichen Kerl in die Schranken gewiesen hast, ohne dabei auch nur eine Sekunde lang unhöflich zu werden …“

Jeremy zuckte mit den Schultern. „Ich kann es dir nicht erklären“, entgegnete er. „Alles, was ich weiß, ist, dass mir mein Verhandlungsgeschick während meiner Zeit in Marokko oft zugu­tegekommen ist.“ Er griff nach ihrer Hand und drückte sie sanft. „Wir sollten wieder zur Party, meinst du nicht? Immerhin sind wir doch die Gastgeber.“

Sheryl lächelte. „Ja“, sagte sie. „Du hast recht. Lass uns gehen.“

Hand in Hand schlenderten sie zurück. Schon lange hatte sich etwas für Sheryl nicht mehr so gut, so richtig angefühlt.

„Es war schön, oder?“

Sheryls Stimme erklang in die nächtliche Stille hinein. Jeremy stand vor dem Gartenpavillon und hatte gedankenverloren zum Himmel hinaufgeblickt, an dem unzählige Sterne leuchteten. Die letzten Gäste waren vor etwa einer halben Stunde – weit nach Mitternacht – gegangen, und Sheryl hatte im Anschluss auch sofort Manolo und Lucia weggeschickt, die den ganzen Abend über geholfen hatten und eigentlich noch aufräumen wollten. Doch das war für Sheryl nicht infrage gekommen.

„Das machen wir alles morgen“, hatte sie gesagt. „Ihr braucht schließlich auch euren Schlaf.“

Jetzt trat sie neben Jeremy und sah ihn glücklich an.

„Ja, das war es“, antwortete er. „Schön – und anstrengend.“

Sie lachte. „Oh ja, anstrengend war es! Aber für dich wohl noch viel mehr als für mich.“ Sie sah ihn ein wenig besorgt an. „Ging es denn einigermaßen?“

„Was soll ich sagen?“ Grinsend hob er die Schultern. „Wenn man davon absieht, dass mir der Kopf vor lauter Namen schwirrt, die ich schon jetzt kaum noch den entsprechenden Gesichtern zuordnen kann, und dass ich gar nicht mehr weiß, wer alles was von mir wollte – ja, es ging.“

Sie musste lachen. Oje, da hast du ganz schön was durchgemacht, nicht wahr? Aber zur Belohnung gibt es jetzt noch ein Glas Champagner. Komm!“

Sie nahm seine Hand und führte ihn in den Pavillon. Die Berührung vertrieb sofort jedes Gefühl der Abgeschlagenheit aus seinem Körper, und Jeremy fühlte sich wie elektrisiert. Wie stellte Sheryl das nur immer wieder an, dass sein Körper so sehr auf sie reagierte? War das früher auch schon so gewesen?

Sie schenkte zwei Gläser voll und reichte Jeremy eines davon. „Ich denke, das haben wir uns verdient“, sagte sie.

Jeremy nickte, und sie ließen die Gläser klirren.

„Ich glaube, es ist wirklich gut gelaufen für uns“, sagte Jeremy schließlich, nachdem er das wohltuende Prickeln des Champagners auf der Zunge genossen hatte. „Unser neues Konzept ist auf breite Zustimmung gestoßen, die Leute stehen hinter uns, einige haben sogar ihre Hilfe angeboten, und dass ein Zeitungsbericht über unser künftiges Angebot erscheint, ist sozusagen das Sahnehäubchen. Wenn wir es jetzt noch in die Kataloge der großen Reiseveranstalter schaffen, kann praktisch gar nichts mehr schiefgehen.“

Sheryl nickte. „Und bis dahin machen wir im Internet kräftig Werbung. Die Homepage, an der ich in den letzten Tagen abends noch gebastelt habe, ist so gut wie fertig. Wenn du willst, zeige ich sie dir. Ich habe meinen Laptop ja hier, damit ich den Gästen alles zeigen und erklären konnte.“

„Gern.“

„Schau hier“, sagte sie, nachdem sie den Rechner eingeschaltet und die entsprechenden Dateien aufgerufen hatte. „Hier erkläre ich, wie genau unser neues Konzept funktionieren wird. Dann gibt es noch einmal Unterkategorien, in denen auf jede Zielgruppe – also Familienväter, Mütter und Kinder – einzeln eingegangen wird.“

„Gut“, sagte Jeremy. „Wirklich sehr gut. Allerdings würde ich auch noch darauf hinweisen, dass es sich hierbei lediglich um Vorschläge unsererseits handelt. Wir sollten klarmachen, dass jeder, der gern reiten möchte, dies selbstverständlich auch weiterhin bei uns tun kann.“

Sie saßen jetzt so dicht nebeneinander, dass Jeremy deutlich Sheryls Körperwärme spüren konnte. Und allein ihre Nähe reichte aus, um sein Herz schneller klopfen zu lassen.

„Sheryl, ich muss dich etwas fragen.“ Plötzlich wurde er ernst.

Sie sah ihn stirnrunzelnd an. „Klar, was denn?“

„Waren wir glücklich?“ Er atmete tief durch. „Ich meine, waren wir wirklich glücklich?“

Sie zögerte, wenn auch nur kurz. „Ich denke schon. Wieso fragst du?“

„Weil ich herausfinden muss, warum ich damals fortgegangen bin. Als ich hierherkam, hatte ich gehofft, die Erinnerung käme von ganz allein. Doch jetzt ist schon eine Weile vergangen, und ich stehe nach wie vor im Ungewissen. Und je mehr Zeit ich mit dir verbringe, desto weniger kann ich mir vorstellen, dass ich dich wirklich so behandelt haben soll.“

„Denkst du etwa, dass ich lüge?“, fragte sie, hörbar gereizt, und Tränen schimmerten in ihren Augen. „Glaubst du etwa, ich habe mir all das aus den Fingern gesogen? Den Schmerz, das Leid, die Nächte voller Ungewissheit und dann die Erkenntnis, dass du mit unserem Geld auf und davon bist?“

„Sheryl …“ Er streckte die Hand nach ihr aus, doch sie schüttelte sie ab.

„Nein, Jeremy, du verstehst nicht. Ich weiß, wie du dich fühlen musst. Oder sagen wir besser, ich kann es mir einigermaßen vorstellen. Der Gedanke, sich an nichts zu erinnern, ist einfach furchtbar. Aber mir geht es auch nicht viel besser, wenn auch auf eine andere Weise. Ich lebe mit einem Mann zusammen, der mich vor zwei Jahren im Stich gelassen hat. Himmel, ich kann mir ja nicht einmal sicher sein, dass du es nicht einfach wieder tust. Und ich weiß ja nicht einmal, warum du es getan hast!“ Jetzt strömten ihr die Tränen übers Gesicht. „Warum, Jeremy? Wie konntest du mir das antun? Nach allem, was ich erlebt habe? Du wusstest doch, wie schwer mich so etwas treffen würde!“

Heftig weinend drehte sie sich von ihm weg. Jeremy trat einen Schritt näher und legte ihr von hinten eine Hand auf die Schulter. Er spürte, wie Sheryls Körper unter seiner Berührung bebte.

„Was meinst du damit?“, fragte er verzweifelt. „Was hast du erlebt? Ich weiß es doch nicht mehr. Willst du es mir nicht sagen?“

Einen Augenblick lang rührte sie sich nicht. Dann schließlich verklang ihr Schluchzen, und sie drehte sich langsam zu ihm um. Aus verweinten Augen blickte sie ihn an, das Gesicht vor Aufregung gerötet. „Ich … ich kann doch nicht …“

„Pst, ganz ruhig.“ Sanft strich er ihr übers Haar. „Ich weiß, wie befremdlich sich das für dich anfühlen muss. Immerhin hast du mir das wahrscheinlich schon einmal erzählt, nicht wahr? Aber ich bitte dich, es mir noch einmal zu erzählen – mir zuliebe, aber auch dir zuliebe. Öffne dich mir noch einmal. Ich weiß, da ist etwas, was dich sehr belastet. Etwas, das wichtig ist für uns beide, habe ich recht?“

Einen Augenblick lang dachte sie schweigend nach. Jeremy konnte förmlich sehen, wie sehr es hinter ihrer Stirn arbeitete. Schließlich nickte sie.

„Ja“, begann sie leise, „es gibt da etwas. Eine ganze Menge sogar. Als du mich damals verlassen hast, brach eine Welt für mich zusammen. Du warst weg, der Großteil unseres Geldes war weg, und für mich kam das aus heiterem Himmel. Ich will nicht sagen, dass unsere Ehe perfekt war, nein, das war sie wohl nicht. Aber welche Ehe ist das schon. Du hattest deine Macken, und ich hatte sicher auch welche.“

„Und welcher Art waren meine … Macken?“, fragte Jeremy vorsichtig. Er wollte sie nicht unterbrechen, hielt dies jedoch für wichtig.

„Ich weiß nicht …“ Sie suchte offenbar nach den passenden Worten. „Du warst halt ziemlich eifersüchtig.“

Er zog eine Braue nach oben. „Eifersüchtig?“

„Ja. Am Anfang unserer Beziehung eigentlich noch nicht, oder es war so wenig, dass es mir nicht aufgefallen ist. Als wir noch nicht in Andalusien lebten, hatten wir auch recht wenige Leute um uns herum. Wir hatten keinen großen Bekanntenkreis und auch keine unterschiedlichen Hobbys. Was wir gemacht haben, haben wir zusammen gemacht. Da gab es überhaupt keine Anlässe zur Eifersucht, auch nicht, als wir verheiratet waren. Doch als wir dann hierherkamen, änderte sich das. Hier waren zum einen unsere Hilfsarbeiter auf dem Gestüt, aber auch Nachbarn und Bekannte, zu denen wir Kontakt bekamen.“

„Und da wurde ich eifersüchtig auf Männer, die … von denen ich dachte, sie könnten mir gefährlich werden?“

Sie nickte. „So in der Art. Aber wie gesagt, das waren keine großen Probleme. Deshalb hätte ich auch nie damit gerechnet, dass du mich verlassen würdest.“ Sie holte hörbar Luft. „Und selbst für den Fall, dass wir nicht mehr miteinander zurechtgekommen wären, hätte ich eine vernünftige, einigermaßen faire, aber zumindest ehrliche Trennung erwartet. Aber nicht, dass du einfach auf Nimmerwiedersehen aus meinem Leben verschwindest! Wo du doch genau wusstest, dass ich noch immer nicht so richtig über meine Vergangenheit hinweggekommen bin, darüber, dass …“ Erneut brach sie in Tränen aus, und Jeremy nahm sie in den Arm.

„Komm“, sagte er leise und führte sie zu einer Bank, die direkt neben dem Pavillon stand. „Setzen wir uns. Und dann erzählst du mir alles, ja?“

Er reichte ihr ein sauberes Taschentuch aus seiner Jacketttasche, das sie dankbar nahm. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und schnäuzte sich.

Dann atmete sie ein paarmal tief durch und nickte.

„Also gut“, sagte sie, „ich will dir alles erzählen. Ich habe dir ja bereits gesagt, dass meine Schwester gestorben ist, als sie ein kleines Mädchen war. Damals war ich gerade vierzehn, und bis dahin waren wir eigentlich eine glückliche Familie. Meine Eltern mochten ineinander nicht die große Liebe gefunden haben, aber sie kamen miteinander zurecht, und meine Schwester war der Sonnenschein der Familie. Daher haben wir sie ja auch so genannt.“

„Aber deine Eltern hatten dich doch bestimmt nicht weniger lieb als deine Schwester?“, erkundigte er sich vorsichtig.

Ein Schatten legte sich auf ihr Gesicht. „Doch, das hatten sie. Zumindest habe ich es damals so empfunden. Bevor Kim geboren wurde, hatte ich, damals ja selbst noch ein kleines Mädchen, immer nur gehört, wie sie darüber sprachen, dass sie sich noch ein Kind wünschten. Es hat wohl eine ganze Weile nicht geklappt. Als Kim dann zur Welt kam, war die Freude so groß, dass ich mich ziemlich vernachlässigt gefühlt habe. Alles drehte sich immer nur um Kim. Dennoch, ich liebte meine Schwester. Und als sie starb, brach nicht nur für meine Eltern eine Welt zusammen, sondern auch für mich.“

Erfolglos versuchte Sheryl ein Stöhnen zu unterdrücken, das verriet, wie sehr sie der Gedanke an dieses tragische Ereignis noch immer quälte. „Mein Vater suchte in seiner Verzweiflung Trost im Alkohol, und eines Tages verließ er meine Mutter und mich. Und meine Mutter …“ Sie seufzte schwer. „Weißt du, normalerweise würde man denken, dass eine Mutter, die eines ihrer beiden Kinder verloren hat, sich nun an das verbliebene Kind klammert. Es beschützt, es kaum mehr aus den Augen lässt, es tröstet und darin vielleicht auch selbst Trost findet.“

„Und deine Mutter tat das nicht?“, fragte Jeremy leise.

Sheryl schüttelte den Kopf. „Sie hat mich weggegeben, einfach weggegeben!“ Aufschluchzend ballte sie die Hände zu Fäusten. „Mein Vater war noch gar nicht lange fort, da fand sie einen neuen Mann, einen Typen mit Geld. Sie reisten um die Welt – und ich wurde auf ein Internat abgeschoben. Von da an bin ich eigentlich nur noch herumgeschubst worden. Meine Mutter habe ich nur noch selten gesehen, und als ich schließlich erwachsen war, brach sie ganz den Kontakt ab.“

Jeremy spürte, dass er wütend wurde. Wütend auf die Frau, die Sheryl so behandelt hatte. Er fragte sich, wie eine Mutter so etwas tun konnte. Sicher, es mochte verschiedene Arten geben zu trauern – aber sein eigenes Kind einfach in ein Internat zu stecken … Zeitgleich mit der Wut kam noch ein anderes Gefühl in Jeremy auf. Ein Gefühl unendlicher Verbundenheit zu Sheryl. Ihm wurde klar, wie viel ihm diese Frau bedeutete …

„Du warst der erste Mensch, dem ich mich geöffnet habe“, sagte sie in diesem Moment. „Am Anfang unserer Beziehung war ich noch scheu und ängstlich, sehr schüchtern. Ich wollte nie über meine Vergangenheit reden, doch du hast mir meine Ängste genommen. Ich habe dir alles erzählt, und du hast mir zugehört und mir Kraft gegeben.“ Sie senkte den Blick, als wieder Tränen in ihre Augen traten. „Du hast gewusst, dass ich mich nie geliebt gefühlt habe. Dass es meine größte Angst war, wieder allein gelassen zu werden.“ Jetzt weinte sie hemmungslos. „Und doch hast du es getan!“, schrie sie ihn an. „Du hast mich allein gelassen, einfach allein gelassen!“

Mit tränenverschleiertem Blick sah Sheryl den Mann an, den sie einst so sehr geliebt hatte. Dem es gelungen war, ihr Vertrauen zu gewinnen. Der ihr das Gefühl gegeben hatte, kein ungeliebter Mensch zu sein. Der die Wunden, die ihre Mutter ihr zugefügt hatte, wieder hatte verheilen lassen.

Und der dann all das zunichtegemacht hatte, indem er einfach fortgegangen war.

Sie sah tiefes Entsetzen in seinen Augen. Erst jetzt schien er zu begreifen, wie eng das, was er getan hatte, mit ihrer Vergangenheit verflochten war.

„Oh Sheryl, es tut mir leid“, sagte er, und der Klang seiner Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass er es ehrlich meinte. „Es tut mir so leid! Wenn ich doch nur …“ Er nahm sie in die Arme und drückte sie ganz fest an sich. In seinen Armen kam Sheryl langsam zur Ruhe.

Sanft küsste er zuerst ihr Haar, dann ihre Stirn und, als sie zu ihm aufblickte, auch ihre Lippen.

Es war ein zarter, liebevoller Kuss, und doch weckte er in Sheryl unwillkürlich Gefühle, die sie noch einen Augenblick zuvor nicht für möglich gehalten hatte. Nicht in dieser Situation. Nicht nach allem, was zwischen ihnen vorgefallen war.

Ihr Herz klopfte heftig.

Sie blickte in seine erstaunlichen Augen, und einmal mehr war ihr, als könne sie dabei zusehen, wie sie immer wieder die Farbe wechselten. So war es schon immer gewesen. Sie hatte sich daran nie sattsehen können. Es faszinierte sie, zog sie wie magisch an.

„Ich wünschte, ich könnte dir erklären, was damals geschehen ist“, sagte er, nachdem er den Kuss beendet hatte. „Ich wünschte es wirklich. Denn es fällt mir schwer zu begreifen, was in mich gefahren ist, eine Frau wie dich zu verlassen.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich verstehe es einfach nicht.“

„Das sagst du doch jetzt nur, um mich zu trösten“, stieß sie mit heiserer Stimme hervor. „Aber das musst du nicht. Ich habe gelernt, damit zu leben.“ Sie senkte den Blick. „Zumindest dachte ich das – bis du wieder zurückgekommen bist. Jetzt aber …“ Hilflos zuckte sie mit den Schultern. „Es hat alles wieder hochkommen lassen, weißt du? Und was noch schlimmer ist – jetzt weiß ich, dass ich niemals wirklich über dich hinweg war. Ich habe versucht, mir das einzureden, aber in Wahrheit hast du mein Herz niemals freigegeben.“

Er strich ihr übers Haar, zeichnete mit den Fingerspitzen die Konturen ihres Gesichts nach. „Wie hast du leiden müssen meinetwegen?“, flüsterte er, und es lag echtes Bedauern in seiner Stimme. Kein Mitleid – nein. Reue vielmehr.

„Das warst nicht du“, erwiderte sie, und es wunderte sie selbst ein wenig, wie ernst es ihr damit war.

Es war falsch gewesen, ihm Vorwürfe zu machen. Der Mann, den sie einst geheiratet hatte, existierte nicht mehr. Und er würde aller Voraussicht nach auch nicht wieder zurückkehren. Doch das bedeutete nicht, dass sie sich zu dem Jeremy, der nun vor ihr stand, nicht ebenso hingezogen fühlte.

Ganz im Gegenteil sogar.

Langsam, beinahe bedächtig, hob sie eine Hand und streichelte zärtlich seine Wange. Lächelnd umfasste er ihr Handgelenk und hauchte ihr einen Kuss auf die empfindsame Stelle, unter der ihr Puls pochte.

Sie atmete scharf ein. Dann legte sie ihm beide Arme um den Nacken und zog sein Gesicht zu sich heran. Und als sie sich dieses Mal küssten, legte Sheryl alles in ihren Kuss. Jedes Quäntchen Gefühl, jedes bisschen Leidenschaft und all die Sehnsucht, die sich über die vergangenen zwei Jahre in ihr angestaut hatte. Endlich konnte sie sich vollkommen fallen lassen und einfach nur genießen.

Hitze durchflutete ihren Körper, als er den Kuss vertiefte und dabei gleichzeitig anfing, sie zu streicheln. Mit einer beinahe nachlässigen Geste strich er ihr die Träger ihres Sommerkleids über die Schultern, ließ von ihrem Mund ab und überzog ihren Hals, ihre Kehle und ihr Dekolleté mit einer Spur feuriger Küsse.

Sheryl legte den Kopf in den Nacken und fasste mit beiden Händen in sein Haar. Dann zog sie das Hemd aus seinem Hosenbund und glitt mit den Fingern darunter. Zuerst ließ sie sie über seinen Rücken wandern, der hart und fest war. Doch sofort sehnte sie sich nach mehr und zog ihre Hände zurück, was Jeremy einen leisen Protestlaut entlockte.

Jedoch nur, bis sie seine Hemdknöpfe öffnete und den Stoff zur Seite schob. Jetzt ließ sie ihre Finger über seine nackte Brust wandern und zeichnete die Konturen seiner Muskeln nach.

Mit einem erstickten Stöhnen stand Jeremy auf und zog sie hoch. Nun streifte er das Kleid ganz über ihre Schultern und über ihre Hüfte, sodass es zu Boden glitt. Im nächsten Moment beugte er sich vor und umschloss die aufgerichteten Brustspitzen abwechselnd mit den Lippen.

Es war ein so wunderbares Gefühl, dass Sheryl sich aufstöhnend an ihn drängte. Sie wollte mehr, so viel mehr. All die verlorene Zeit mit ihm wieder aufholen und endlich wieder glücklich sein.

Ungeduldig, beinahe hastig, befreite sie ihn von seiner Hose. Doch schon im nächsten Augenblick hatte Jeremy sie wieder an sich gezogen und ließ sich mit ihr ins Gras sinken. Im nächsten Augenblick drang er in sie ein, und Sheryl hatte das Gefühl, vor lauter Glückseligkeit in tausend Stücke zerspringen zu müssen.

Sie sahen einander in die Augen, während sie sich dem Höhepunkt näherten. Und als sie schließlich gleichzeitig die Erfüllung fanden, klammerte Sheryl sich an ihn, nicht bereit, ihn jemals wieder loszulassen.

Er war in ihr Leben zurückgekehrt, und sie hatte ihn willkommen geheißen. Doch sie wusste auch mit absoluter Sicherheit, dass sie niemals darüber hinwegkommen würde, wenn er sie je wieder verließ.

Denn sie liebte ihn.

So sehr, dass es ihr fast das Herz zerriss.

Obwohl Jeremy in der Nacht erst sehr spät ins Bett gekommen war, stand er am nächsten Morgen schon in aller Frühe auf. Gegen sechs Uhr war er bereits wach geworden, und sämtliche Versuche, wieder einzuschlafen, waren gescheitert. Also hatte er beschlossen, T-Shirt und Jogginghose anzuziehen und eine Runde laufen zu gehen, um den Kopf freizubekommen.

In Casablanca war er oft joggen gegangen. Entweder früh morgens oder manchmal sogar in der Nacht, wenn ihn all die unbeantworteten Fragen, die ihm immerzu im Kopf herumschwirrten, nicht zur Ruhe kommen ließen. Ob er vor seinem Gedächtnisverlust auch sportlich gewesen war? Vielleicht sollte er Sheryl mal danach fragen.

Sheryl …

Während er um das Grundstück des Casa la Monta lief, wanderten seine Gedanken automatisch zu ihr. Die vergangene Nacht hatte ihn tief bewegt. Zu erfahren, was Sheryl in der Vergangenheit hatte durchmachen müssen, hatte ihm deutlich gemacht, was für ein starker Mensch diese Frau war.

Und was für ein Schuft er sein musste, um sie so verletzen zu können.

Er wusste, dass es unsinnig war, seinem jetzigen Ich Vorwürfe zu machen. Das, was er damals getan hatte, konnte er jetzt nicht mehr nachvollziehen, zumal er die Gründe nicht kannte. Dennoch ließ ihn der Gedanke daran nicht mehr los. Was für ein Mensch war er gewesen, dass er so etwas hatte tun können? Und war es in Anbetracht dessen dann nicht auch ein Fehler gewesen, erneut mit Sheryl zu schlafen?

Kein Zweifel, es war ein großartiges Erlebnis für ihn gewesen. Mehr noch: Anders als beim ersten Mal war es nicht bloß Sex gewesen, sondern mehr.

Viel mehr.

Liebe.

Ja, er liebte Sheryl. Er liebte sie von ganzem Herzen. Aber wie sollte es mit ihnen weitergehen? Er hatte diese Frau nicht verdient. Diese Frau, die er einfach verlassen, der er über alle Maßen wehgetan hatte.

Aufstöhnend beschleunigte er sein Tempo noch, obwohl ihm der Schweiß jetzt schon über die Stirn lief und es in seinen Seiten schmerzhaft zu stechen begann. Wie sollte er denn bloß wissen, was richtig oder falsch war? Wie konnte er das alles genau beurteilen, solange er nicht wusste, was damals geschehen war, was ihn veranlasst hatte, seine Frau zu verlassen?

Und solange er nicht wusste, ob er womöglich ein Mörder war.

Das würde er wohl nie herausfinden. Zumindest glaubte er längst nicht mehr daran, sein Gedächtnis jemals zurückzubekommen. Zwei Jahre hatte er nun in der Hoffnung gelebt, dass alles in Ordnung kommen würde. Und als er schließlich von Sheryls Existenz erfahren hatte, war er überzeugt gewesen, sich an alles zu erinnern, sobald er in Andalusien war.

Bei seiner Frau.

Zu Hause.

Doch nichts. Und je mehr Zeit verstrich, desto kleiner wurde die Chance, dass sich daran noch etwas änderte, das spürte er einfach. Die Frage war also: Wie sollte er sich nun verhalten?

Sheryl und er konnten doch nicht einfach weitermachen wie bisher. Würde sie ihm überhaupt jemals wirklich verzeihen können, dass er sie verlassen hatte? Würde sie imstande sein, sein altes Ich vollständig von seinem neuen zu trennen?

Über all das grübelte er noch immer nach, als er eine Stunde später, nach einem ausgiebigen Lauf und einer eiskalten Dusche, die Küche betrat.

Lucia war gerade dabei, Kaffee zu kochen. Als sie Jeremy erblickte, zuckte sie merklich zusammen.

Stirnrunzelnd blieb Jeremy in der Tür stehen. „Ist etwas mit dir, Lucia? Du bist ja so schreckhaft?“

Die Spanierin schüttelte den Kopf und vermied es, Jeremy anzusehen. „No, es ist alles in Ordnung. Por favor.“ Sie bedeutete ihm mit einer Handbewegung, sich an den Tisch zu setzen. „Ich mache gerade frischen Kaffee. Sheryl ist schon in die Stadt gefahren, sie bringt unseren Gast zum Bahnhof, da Kelly heute abreist. Außerdem hat sie noch etwas zu erledigen und lässt ausrichten, dass sie erst am Nachmittag wieder da sein wird.“

Doch so schnell wollte Jeremy das Thema nicht wechseln. Er spürte, dass etwas nicht stimmte. Seit seiner Ankunft in Andalusien verhielt Lucia sich ihm gegenüber schon so merkwürdig: schüchtern, zurückhaltend und wortkarg, beinahe ängstlich.

Und jetzt war sie auch noch regelrecht zusammengezuckt, als er in die Küche gekommen war. Warum bloß? Wusste sie vielleicht etwas über ihn, das er nicht erfahren sollte? Kannte sie die Gründe, warum er Andalusien vor zwei Jahren Hals über Kopf verlassen hatte?

Was auch immer es war – Jeremy wollte es herausfinden. Und zwar jetzt!

„Lucia“, sagte er sanft und trat hinter sie. Als er ihr eine Hand auf die Schulter legte, spürte er, wie sie erneut zusammenzuckte. „Bitte, was ist denn los? Ich merke doch, dass du etwas vor mir verheimlichst. Sag mir, was es ist.“

Einen Augenblick lang schien sie wie versteinert zu sein, dann aber drehte sie sich um. Zu seiner Bestürzung sah er, dass sie mühsam versuchte, die Tränen zurückzuhalten.

„Aber Lucia, was ist denn bloß los? Liegt es an mir? Habe ich … habe ich dir früher etwas angetan? Bitte, nun rede schon!“

Er sah, wie sie innerlich mit sich kämpfte. Erst zögerte sie noch, dann schließlich senkte sie den Blick.

„Es ist …“, begann sie leise. „Es ist wegen … Du und ich, wir …“

Er verstand nicht. „Ja?“, hakte er nach. „Was ist mit uns beiden? So sprich doch weiter. Bitte! Ich muss endlich die Wahrheit wissen, hörst du?“

„Ich … Ich wollte erst nichts sagen. Ich wusste ja nicht, ob du überhaupt hierbleibst. Daher dachte ich, dass ich schon damit fertigwerde. Doch jetzt, wo ich sehe, dass du und Sheryl … ihr seht so verliebt aus, und ich …“

Er verstand noch immer nicht, worauf sie hinauswollte. „Was ist mit dir, Lucia? So sag doch endlich, was du meinst?“

„Ich liebe dich doch auch!“, platzte es aus ihr hervor. „Und du hast meine Liebe erwidert – zumindest zeitweise.“

Ihre Worte trafen Jeremy bis ins Mark. Er hatte mit einigem gerechnet – aber nicht damit. „Willst du damit sagen, wir beide …“

„Wir hatten eine Affäre, !“ Sie hob den Blick, vermied es aber weiterhin, Jeremy direkt in die Augen zu sehen. „Eine ganze Weile sogar.“

„Und Sheryl? Ich meine … habe ich sie denn nicht mehr …“

„Geliebt?“ Sie senkte wieder den Kopf. „No, du hast sie nicht mehr geliebt. Sie … hat dich schwer enttäuscht. Deshalb bist du fortgegangen. Du wolltest sie vergessen. Das alles hier ver­gessen.“

„Sie hat mich enttäuscht?“ Er schluckte schwer. „Wie meinst du das?“

Die Spanierin zögerte noch, dann aber sprach sie es aus. „Sie hatte ebenfalls eine Affäre. Mit meinem Bruder.“