9. KAPITEL

Als Sheryl am Nachmittag das Casa la Monta erreichte, spürte sie gleich, dass etwas nicht stimmte.

Was genau, konnte sie nicht sagen, es war nichts Bestimmtes, eher so ein diffuses Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war.

Dass etwas anders war als sonst.

Am Vormittag hatte sie Kelly in die Stadt gebracht, die das Gestüt nun wieder verließ, aber nicht von ihrer Familie abgeholt wurde, sondern mit dem Zug nach Hause fuhr. Zu Sheryls großer Freude hatte dem Mädchen der Aufenthalt so viel Spaß bereitet, dass es unbedingt wiederkommen wollte.

Wiederkehrende Gäste waren für Sheryl das größte Lob, und in diesem speziellen Fall sogar ein ganz besonderer Erfolg. Denn sie betrachtete es als Zeichen dafür, dass das ja schon beinahe sicher geglaubte Aus für das Gestüt nun doch noch abwendbar war.

Mit ihrem neuartigen Konzept würde es Jeremy und ihr gelingen, sich in Zukunft gegen den Konkurrenten durchzusetzen. Zwar hatten sie noch nicht mit der Bank gesprochen, aber Sheryl hatte heute Mittag bereits einen Termin vereinbart und bei der Gelegenheit ihr Anliegen erläutert und auch einige erste Punkte ihres Konzeptes vorgetragen. Der Filialleiter hatte sehr interessiert gewirkt und gemeint, dass unter diesen Umständen sicher etwas zu machen sei. Der endgültige Termin war zwar erst kommende Woche, aber Sheryl hatte ein gutes Gefühl.

Nach zwei Jahren blickte sie nun endlich mal wieder voller Zuversicht in die Zukunft.

Und nach zwei Jahren empfand sie zum ersten Mal keine Wut mehr auf Jeremy.

Jeremy …

Wenn sie an die vergangene Nacht dachte und daran, wie sie miteinander geschlafen hatten, ging ihr das Herz über vor Liebe zu ihm. Ja, sie liebte ihn. Noch immer. Und trotz allem, was vorgefallen war.

Zwar war es ihr zunächst beinahe unmöglich vorgekommen, weiter mit dem Mann zusammenzuleben, der ihr so wehgetan hatte, doch schließlich war ihr klargeworden, dass sie versuchen musste, die Dinge differenzierter zu sehen. Der Jeremy von heute konnte nun einmal nichts für seine Taten von früher. Im Grunde war er ein anderer Mensch, den man für das, was er damals getan hatte, nicht verantwortlich machen konnte.

Ein Mensch mit einem großen Herzen.

Das hatte Sheryl begriffen, als sie sich ihm geöffnet und ihm von ihrer Vergangenheit erzählt hatte. Es war ein großer emo­tionaler Moment für sie gewesen, in dem sie sich Jeremy unglaublich nah gefühlt hatte.

Dennoch war sie sich durchaus im Klaren darüber, dass es nicht einfach werden würde, die Dinge so zu betrachten. Denn wie sollte sie, sofern Jeremy sein Gedächtnis nicht wiedererlangte, die Frage nach dem Warum vollständig aus dem Kopf bekommen? Wie sollte sie dauerhaft die Tatsache ausblenden, dass Jeremy ihr einst so viel Schmerz zugefügt hatte und sie nicht einmal den Grund hierfür kannte? Und dann die ständige Angst davor, dass er sie womöglich wieder einfach so verließ …

Plötzlich kam ihr ein noch viel erschreckenderer Gedanke – was wäre, wenn Jeremy sich nach einiger Zeit doch wieder an alles erinnerte? Und dann – nachdem sie womöglich jahrelang glücklich zusammengelebt hätten – herauskam, dass er sie damals gar nicht mehr geliebt hatte und deshalb fortgegangen war?

Aber war das nicht im Grunde ohnehin klar? So bitter es auch sein mochte, aber eigentlich lag es auf der Hand. Denn warum sonst hätte Jeremy sie damals im Stich lassen sollen?

Nein, sie musste das Heute einfach vom Gestern trennen. Auch wenn es ihr nicht leichtfallen mochte – sie würde es schaffen. Ganz bestimmt!

Ihr erster Weg führte sie in die Küche, und das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, kehrte zurück. Und es verstärkte sich sogar noch, als sie Lucia und Manolo erblickte, die beide am Küchentisch saßen.

Und zutiefst betrübt aussahen.

„Was ist denn mit euch los?“, fragte sie stirnrunzelnd. „Ihr macht ja Gesichter wie sieben Tage Regenwetter. Was ist denn? Ist etwas passiert?“

Lucia sah sie an, und in ihren Augen schimmerten Tränen. Sie wollte etwas sagen, konnte es aber nicht. Stattdessen sprang sie auf und stürzte an ihr vorbei aus der Küche.

Sheryl wusste nicht, wie ihr geschah.

„Aber Lucia!“, rief sie der Spanierin hinterher. „So warte doch! Was ist denn los? Ich …“

„Lass sie, Sheryl, bitte.“ Manolo war aufgestanden und legte ihr nun von hinten eine Hand auf die Schulter.

Sheryl drehte sich zu ihm um und sah ihn fragend an. „Aber was ist denn los? Manolo – was ist passiert? Nun rede doch endlich!“

Manolo zögerte. Sein Blick war ernst. „Es geht um Jeremy“, sagte er schließlich.

„Jeremy?“ Ein heißer Schreck durchfuhr sie. „Was ist denn mit ihm? Ist …“ Sie schluckte. „Ist ihm etwas zugestoßen?“

Manolo schüttelte den Kopf. „Nein, das nicht. Aber … Hör zu, Sheryl. Was ich dir jetzt sage, wird dir nicht gefallen.“ Er fasste sie mit beiden Händen an den Schultern. „Sheryl, das wird jetzt ein Schock für dich sein, aber Jeremy ist fortgegangen.“

„Fortgegangen?“ Sie runzelte die Stirn. „Ich verstehe nicht … Wohin ist er denn gegangen? Und wann … wann kommt er zurück?“

Manolo sah sie stumm an. Sein Gesichtsausdruck war starr. Er brauchte nichts mehr zu sagen. Jetzt endlich verstand Sheryl.

„Er … er kommt nicht wieder, richtig?“ Als Manolo nichts erwiderte, sondern nur den Blick senkte, wusste sie, dass es stimmte. Mit einem Mal wurde ihr eiskalt. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, und sie hatte das Gefühl, dass ihre Beine sie nicht mehr länger halten würden. Mit starrem Blick und offenem Mund ließ sie sich auf einen der Küchenstühle sinken, ohne es richtig mitzubekommen. Plötzlich war da nur noch Leere in ihr.

Und eine Frage.

„Aber … warum?“, stammelte sie heiser, während ihr Tränen in die Augen stiegen, die sie jedoch noch zurückhielt. „Warum denn nur?“

Manolo setzte sich zu ihr an den Tisch und legte seine Hand auf ihre. „Sheryl, es tut mir wirklich leid, dir das sagen zu müssen, aber es ist …“ Er atmete tief durch. „Jeremy hat gesagt, dass er nach Casablanca zurückmuss. Er hat sich in Marokko in den letzten zwei Jahren etwas aufgebaut und hat dort auch eine Frau, die er liebt. Er kam hierher, um zu sehen, ob er hier seine Erinnerung an damals zurückbekommt, doch nachdem das nun nicht geklappt hat, hält ihn nichts mehr in Andalusien.“

Sheryl starrte ihn an. „Das hat er gesagt? Dass ihn hier nichts mehr hält? Nicht einmal …“ Sie stockte. „Nicht mal ich?“

„Es tut mir leid, Sheryl. Wirklich.“ Er nahm seine Hand von ihrer und ballte sie zur Faust. „Aber ich habe ja von Anfang an gewusst, dass dieser Schuft dir erneut wehtun wird. Madre de Dios, wenn ich den zwischen die Finger …“

„Nein!“, schrie Sheryl. „Ich glaube das nicht! Du lügst!“ Anklagend richtete sie den Zeigefinger auf Manolo. „Du warst von Anfang an gegen Jeremy. Du wolltest nicht, dass er mich zurückbekommt. Und warum? Weil du in mich verliebt bist, Manolo!“

Sie seufzte. „Wir wissen doch beide, wie es ist, du hast es ja auch zugegeben. Aber in jener Nacht damals, in der ich so am Boden zerstört war, in der du mich in den Arm genommen und mich getröstet hast – da habe ich dir klipp und klar gesagt, dass ich nur freundschaftliche Gefühle für dich empfinde. Nicht weniger – aber keinesfalls mehr.“

Sie hielt inne, als sie an diese Zeit zurückdachte. Damals war sie wirklich mit den Nerven am Ende gewesen. Jeremy Verschwinden hatte sie all ihre Kräfte gekostet. Und Manolo war für sie da gewesen, als sie jemanden brauchte, dem sie ihr Herz ausschütten konnte. Er hatte ihr zugehört, hatte ihr Halt und Zuneigung gegeben.

In dieser einen Nacht wäre er auch zu mehr bereit gewesen, das wusste sie. Und ja, einen Moment lang, einen winzigen Moment lang war die Versuchung da gewesen. Doch am Ende hatte Sheryl ihr widerstanden, und gleich am nächsten Morgen hatte sie einige grundlegende Dinge mit Manolo geklärt.

Denn ganz gleich, wie sehr sie von Jeremy enttäuscht und verletzt worden war – sie liebte ihn. Hatte nie aufgehört, ihn zu lieben. Trotz all der Wut, die sie ihm gegenüber verspürt hatte.

„Sheryl, por favor, so beruhige dich doch. Ich habe nicht gelogen, wirklich. Frag Lucia, sie wird es dir bestätigen.“ Manolo griff wieder nach ihrer Hand, doch Sheryl entzog sie ihm und sprang auf.

„Nein“, sagte sie abwehrend. „Nicht jetzt, Manolo. Ich weiß ja, du meinst es nur gut, und …“ Sie schüttelte den Kopf. „Hör zu, ich weiß nicht, was hier los ist und was ich von all dem halten soll. Ich weiß nur, dass ich jetzt allein sein muss.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um, stürmte aus der Küche und lief aus dem Haus.

Jetzt konnte sie ihre Tränen endgültig nicht mehr zurückhalten.

Zur selben Zeit befand sich Jeremy auf einer einsamen Landstraße weitab von Casa la Monta. Er hatte einfach eines der Pferde gesattelt und war davon geprescht, ohne lange darüber nachzudenken, was er tat.

Er ging davon aus, dass er sich nicht mehr in der Nähe des Gestüts befand. Da er sich hier allerdings nicht gut auskannte und nicht wusste, ob er womöglich nur im Kreis herumgeritten war, konnte er das nicht wirklich mit Sicherheit sagen.

Überhaupt konnte er gar nichts mehr sicher sagen. Weder, wie es ihm ging, noch, wo er nun hinwollte oder wie seine Zukunft aussehen sollte. Würde er nach Casablanca zurückgehen? Und dort wieder als Hilfsarbeiter sein Geld verdienen? Und – die wohl wichtigste Frage: Würde er jemals über Sheryl hinwegkommen?

Als er von der Affäre zwischen ihm und Lucia erfahren hatte, war ihm klar geworden, dass er nicht hierbleiben konnte. Zunächst hatte er noch mit dem Gedanken gespielt, ein klärendes Gespräch mit Sheryl zu suchen. Sich zumindest von ihr zu verabschieden. Denn im Grunde seines Herzens wollte er sie nicht einfach zurücklassen.

Nicht schon wieder.

Doch hier ging es ja nicht allein darum, dass er Sheryl hintergangen hatte. Auch sie hatte ihn betrogen. Mit seinem Geschäftspartner und engstem Vertrauten.

Und der Unterschied zwischen ihr und ihm war, dass sie es gewusst hatte. Die ganze Zeit über. Zweimal hatte sie seit seiner Ankunft in Andalusien mit ihm geschlafen – ohne ihm die Wahrheit zu sagen über das, was damals vorgefallen war.

Stattdessen hatte sie ihm sogar Vorwürfe gemacht, dass er gegangen war. Dabei wusste sie doch genau, warum! Lucia hatte ihm gesagt, dass er sie und Manolo in flagranti erwischt hatte. Die Ehe war in eine starke Krise geraten, und er selbst hatte dann Trost bei Lucia gesucht.

Ganz gleich, aus welchem Blickwinkel man es also betrachtete – sie hatten offenbar beide dafür gesorgt, dass ihre Beziehung in eine Sackgasse geraten war. Und am Ende hatte Jeremy es wohl nicht mehr ausgehalten und war fortgegangen.

Nun wusste er es also. Aber das war auch alles, was er wusste. Wie es mit ihm weiterging, stand in den Sternen. Eigentlich blieb ihm gar keine andere Wahl, als nach Casablanca zurückzukehren. Wohin sollte er denn sonst?

Allerdings fragte er sich, warum er sich noch nicht auf den Weg gemacht hatte. Warum war er noch immer hier? Er hatte ja nicht einmal seine Sachen gepackt. Stattdessen war er einfach aus dem Haus und in den Stall gestürmt und war davon geritten.

Einfach nur noch geritten.

Aber er brauchte seine ohnehin wenigen Sachen auch gar nicht. Ihm genügte das, was er am Leib trug. Alles andere konnte er sich in Casablanca wieder kaufen. Denn auf keinen Fall wollte er noch einmal zum Gestüt zurückgehen und dort womöglich Sheryl begegnen.

Das Pferd wieherte unruhig, so als könne es seinen inneren Aufruhr spüren – was vermutlich auch der Fall war. Er würde es beim nächsten Anwesen, das er erreichte, abgeben und von dort aus zu Fuß weitergehen. Der Hengst gehörte ihm nicht, und er wollte ihn auch nicht. Er wollte überhaupt nichts, was ihn an Casa la Monta erinnerte.

An Sheryl.

Er trieb das Tier an, sodass es zunächst in einen schnellen Trab und schließlich in Galopp verfiel. Das Trommeln der Hufe auf dem Boden vermischte sich mit dem heftigen Hämmern seines Herzens. Jeremy beugte sich tief über den Rücken des Hengstes, sodass seine Wange fast den Hals des Tieres berührte. Er spürte den Wind im Gesicht, und für eine kurze Weile wollte er einfach nur versuchen, alles zu vergessen.

Er hatte die Augen geschlossen, als der Hengst plötzlich panisch wieherte. Im nächsten Moment stellte sich das Tier abrupt auf die Hinterbeine.

Mit einem erschreckten Schrei fiel Jeremy vom Pferd. Scharfer Schmerz durchzuckte seinen Schädel, als sein Hinterkopf auf dem knochenharten Boden aufschlug.

Er verlor nicht das Bewusstsein, zumindest nicht völlig. Es fühlte sich eher an wie in einer Zwischenwelt. In einer Welt zwischen Schlaf und Wachsein. Fast hatte Jeremy das Gefühl, als würde er schweben. Alles fühlte sich plötzlich so leicht an, so unbeschwert. Ein Teil von ihm wollte sich der Leichtigkeit einfach hingeben und einschlafen. Einfach seine Ruhe haben. Der andere Teil aber wollte wach sein, aufstehen. Dieser Teil gewann schließlich die Oberhand.

Jeremy öffnete die Augen. Er lag auf dem Rücken und blickte in die grelle Sonne. Zunächst wusste er gar nicht, was geschehen war.

Doch dann fiel es ihm wieder ein.

Und ihm fiel noch mehr ein.

Viel mehr.

Einen Augenblick lang fühlte er sich wie erschlagen von der Last, die plötzlich auf ihn einprasselte, und er wusste gar nicht, wie ihm geschah. Was passierte hier? Unzählige Dinge stürzten auf ihn ein, ohne dass er etwas dagegen tun konnte.

Und dann begriff er, dass das, wonach er so lange gesucht hatte, endlich wieder da war.

Seine Vergangenheit.

Seine Erinnerung.

Erst konnte Jeremy es nicht glauben. Wie konnte das sein? Aber dann wurde es ihm klar: Der Sturz musste sie wieder an die richtige Stelle in seinem Gehirn gebracht haben. Ja, das war die einzige Erklärung. Über so etwas hatte er schon einmal gelesen, erinnerte er sich. Ein Schock oder ein Unfall konnte eine vorhandene Amnesie spontan heilen.

Plötzlich hatte er sein Leben wieder: Jeremy sah sich als Kind, sah seine Eltern, seine Verwandten, sah sich im Kindergarten, in der Schule … Alles war wieder da.

Und er sah Sheryl.

Während er noch immer auf dem Rücken im Staub lag, lief alles wie ein Film vor seinem geistigen Auge ab. Wie er Sheryl kennenlernte, sich in sie verliebte, ihr vor dem Altar das Jawort gab, wie sie gemeinsam nach Andalusien gingen.

Er hielt den Atem an, als er sich auch an etwas anderes erinnerte. Die Männer, der Kampf, das Blut – und eine Person, die er nur zu gut kannte.

„Oh mein Gott!“, stieß er hervor und sprang ruckartig auf. Er musste zurück zum Casa la Monta.

Zu Sheryl.

Hoffentlich kam er nicht zu spät.

„Ach, Sunshine, wenn du mir nur helfen könntest …“

Wie so oft, wenn Sheryl Sorgen hatte, sich traurig oder einsam fühlte, war sie auch jetzt wieder zu Sunshine in den Stall gegangen. Für gewöhnlich ging es ihr dann rasch besser – sie war dann nicht mehr völlig allein und konnte ihre Probleme einfach für eine kleine Weile vergessen.

Dieser Effekt trat jetzt jedoch nicht ein. Nicht einmal annähernd.

Noch immer liefen ihr die Tränen übers Gesicht, und in ihrem Kopf herrschte ein einziges Chaos. Sie konnte nicht begreifen, was hier heute geschehen war. Als sie am Morgen das Haus verlassen hatte, um Kelly zum Zug zu bringen, war die Welt für sie noch in Ordnung gewesen. Sogar mehr als das: Endlich, nach furchtbaren zwei Jahren, hatte Sheryl wieder ein Gefühl von Glück verspürt. Es ging aufwärts mit dem Gestüt, und sie und Jeremy hatten wieder zueinandergefunden, obwohl es noch viele offene Fragen und sicher auch Schwierigkeiten gab.

Aber sie liebten sich, und das war doch die Hauptsache.

Zumindest hatte Sheryl geglaubt, dass sie sich liebten.

Ein Irrtum, wie sich nun herausstellte.

Jeremy hatte sie nicht geliebt, zumindest nicht seit seinem Verschwinden vor zwei Jahren. Und inzwischen fragte sich Sheryl, ob er sie überhaupt jemals geliebt hatte.

Eines jedenfalls stand fest: Jetzt liebte er sie nicht mehr, und damit würde sie sich abfinden müssen. Wenn es stimmte, was Manolo sagte – und sie zweifelte nicht mehr daran –, gab es längst eine andere Frau in Jeremys Leben. Er war nur in der Hoffnung nach Andalusien gekommen, hier die Erinnerung an sein altes Leben wiederzufinden.

Und nun, da ihm klar geworden war, dass daraus wohl nichts werden würde, hielt ihn nichts mehr hier.

Nichts und niemand.

Auch nicht seine Ehefrau.

Sheryl schluchzte auf, als ihr mit erschreckender Deutlichkeit bewusst wurde, dass er sie schon wieder verlassen hatte.

Einfach so.

Ohne ein Wort des Abschieds.

Wie vor zwei Jahren.

„Was soll ich nur machen?“ Nachdenklich stand sie neben Sunshine und strich ihr über den Kopf. Die Pferdedame quittierte es mit einem lauten Wiehern, als wollte sie sagen: „Lass den Kopf nicht hängen. Dieser Schuft ist es nicht wert, dass du ihm so viele Tränen nachweinst!“

Plötzlich stieg heiße Wut in Sheryl auf. Sie ballte die Hände zu Fäusten und presste die Lippen zusammen. Es stimmte, sie sollte keine einzige Träne vergießen! Das wäre doch nur eine Bestätigung für diesen Mistkerl, der ihr nun schon zum zweiten Mal das Herz gebrochen hatte! Was bildete er sich ein, sie so zu behandeln?

Und was hatte sie getan, dass niemand auf der Welt sie je geliebt hatte? Weder ihr Vater, der seine Familie im Stich gelassen hatte, noch ihre Mutter, von der sie ins Internat abgeschoben worden war – und schon gar nicht Jeremy, dem sie ihr Herz geschenkt und dem sie sich voll und ganz anvertraut hatte.

Ausgerechnet!

Sie tätschelte Sunshine noch einmal, dann versorgte sie auch die anderen Pferde und machte sich anschließend daran, den Stall zu verlassen. Sie brauchte jetzt dringend frische Luft, daher wollte sie einen längeren Spaziergang machen.

Um den Kopf freizubekommen. Sofern das überhaupt möglich war.

Sie trat gerade nach draußen, da spürte sie, dass sie nicht mehr allein war. Als sie herumfahren wollte, wurde sie grob von der Seite gepackt. Im nächsten Moment sah sie ein Messer aufblitzen; gleich darauf spürte sie die kalte Klinge an ihrer Kehle und hörte eine raue männliche Stimme, die flüsterte:

„Ganz ruhig! Eine falsche Bewegung, und du wirst es bitter bereuen!“