10. KAPITEL

Sheryl wagte kaum zu atmen. Ihre Gedanken rasten wild durcheinander, während sie spürte, dass die Spitze des Messers fest gegen die Haut an ihrem Hals gedrückt wurde. Feine Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn, ihr Puls raste und ihr Herz schlug so heftig, dass es ihr schier aus der Brust springen wollte.

Was war hier los? Wer war dieser Mann? Und warum bedrohte er sie mit einem Messer?

Sie hörte, dass Sunshine unruhig in ihrer Box herumtänzelte. „Was … was wollen Sie von mir?“, fragte sie ängstlich. „Wenn Sie Geld …“

„Halt die Klappe!“, fiel der Fremde ihr ins Wort. „Los, wieder rein da!“ Er zog sie mit sich in den Stall. „Und du wartest noch!“, rief er nach draußen.

Sheryl stolperte zurück ins Gebäude. Wer war da noch? Hatte er Komplizen? Wollten sie sie überfallen?

Der Fremde versetzte ihr einen brutalen Stoß in den Rücken. Sheryl landete unsanft auf den Knien im Heu. Es gelang ihr gerade noch, den Sturz mit den Händen abzufangen.

Hastig wirbelte sie auf dem Boden herum. Der Mann, der ihr gegenüberstand, war ihr vollkommen unbekannt. Er schien Araber zu sein, was in Andalusien jedoch nichts Ungewöhnliches war. Zahlreiche Tätowierungen zierten seine Arme, die von intensivem Muskeltraining wie aufgebläht wirkten. Sein dunkles Haar trug er raspelkurz. Seine Füße steckten in schweren Springerstiefeln.

„Also, nun sag schon, wo ist er?“, fragte er und wedelte drohend mit dem Messer.

Zischend zerschnitt die Klinge die Luft.

Irritiert sah Sheryl ihn an. „Wer? Wen meinen Sie? Und was wollen Sie?“

„Ich will von dir wissen, wo dein lieber Göttergatte ist. Sagst du es mir, bleibst du am Leben. Sagst du es mir nicht …“ Er ließ den Satz unvollendet, doch Sheryl verstand die Drohung auch so.

Sie schluckte. Was in drei Teufels Namen ging hier vor? Warum suchte dieser Kerl Jeremy? Was wollte er von ihm?

„Ich … ich weiß nicht, wo er ist“, stammelte sie.

„Du lügst! Ihr lügt alle! Nun rede endlich!“

Ihr lügt alle? Was meinte er damit? Sheryl verstand nicht.

„Hören Sie.“ Sie atmete tief durch und versuchte, den Blick des Mannes fest zu erwidern. „Ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie von mei… von Jeremy wollen. Aber ich sage die Wahrheit. Jeremy ist fortgegangen. Und ich weiß nicht, wohin.“

Der Fremde verengte die Augen zu Schlitzen. Kurz fürchtete Sheryl, er würde jeden Moment wütend auf sie losstürmen, doch dann entspannte sich sein Gesichtsausdruck ein wenig. Er legte die Finger der freien linken Hand an die Lippen und stieß seinen lauten Pfiff aus.

„Kommt rein!“, schrie er in Richtung Stalltür. „Macht schon!“

Irritiert sah Sheryl in die gleiche Richtung – und zog entsetzt die Brauen hoch, als sie erkannte, wer jetzt den Stall betrat.

„Manolo? Aber was …“

„Schnauze jetzt!“, fuhr der Fremde sie an, dann packte er Manolo am Arm und schubste ihn zu Sheryl hinüber. „Also, Schluss mit dem Theater. Besser, du bringst die Kleine zum Singen, Manolo. Sonst seid ihr nämlich beide dran!“

„Hör zu, Mounir, das wird nicht klappen. Sie weiß es wirklich nicht und …“

„Du kennst diesen Mann?“ Sheryl sah ihn fassungslos an. „Aber wa…“

„Natürlich kennt er ihn!“, erklang plötzlich eine Stimme vom Eingang des Stalls her. „Manolo arbeitet schließlich für diese Leute!“

Sheryl riss die Augen auf, als sie erkannte, wer da auf der Bildfläche erschienen war.

„Jeremy!“

Sie schluckte. Einen Augenblick lang war es so ruhig, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. „Aber … was hat das alles zu bedeuten? Und was hast du damit zu tun, Manolo?“

„Mehr, als du dir vorstellen kannst“, sagte Jeremy. „Manolo hat uns von Anfang an nur benutzt.“ Bitter lachte er auf. „Ich habe ihn tatsächlich für einen Freund gehalten, aber in Wahrheit hat er sich nur unser Vertrauen erschlichen, damit wir ihm sein lukratives Geschäft nicht kaputtmachen, das er seit langen Jahren betreibt.“

„Geschäft?“ Sheryl blinzelte irritiert. „Was für ein Geschäft?“

„Oh, im Grunde handeln Manolo und seine Partner mit allem, woraus sich Profit schlagen lässt. Drogen, Waffen, Mädchen … So war es schon, als er noch für meine Tante gearbeitet hat. Und vermutlich wäre es noch ewig so weitergegangen, hätte ich nicht zufällig alles herausgefunden.“

Entsetzt schaute Sheryl Manolo an. „Ist das wirklich wahr?“

„Und ob das wahr ist“, erwiderte Jeremy an seiner Stelle. „Als ich ihm auf die Spur kam, musste er mich loswerden. Seine marokkanischen Komplizen sollten dafür sorgen. Sie verschleppten mich zuerst aus dem Land, um mich dann irgendwo in der Wüste zu verscharren. Aber ich konnte mich bereits im Hafen von Casa­blanca befreien.“

Manolo starrte ihn an. „Madre de Dios, du … weißt das alles? Wusstest es die ganze Zeit?“ Er kniff die Augen zusammen. „Dann war deine Amnesie also doch nur vorgetäuscht!“

„Nein, das nicht.“ Jeremy schüttelte den Kopf. „Bei dem Vorfall damals habe ich eine Kopfverletzung davongetragen, die mir mein Erinnerungsvermögen geraubt hat. Aber wie der Zufall es wollte, habe ich mein Gedächtnis genau in dem Moment wiedergefunden, als ich Andalusien verlassen wollte. Wofür du sorgen wolltest, nicht wahr? Oder warum hast du deine Schwester dazu gebracht, mir solche Lügen zu erzählen? Ich sollte von hier verschwinden, oder etwa nicht?“

Nun mischte sich erstmals der Fremde mit ein. „Was soll das, Manolo? Du hattest vom Boss den Auftrag, Baker aus der Welt zu schaffen – nicht, ihn fortzujagen!“

„Was glaubst du, was ich vorhatte?“, gab Manolo schneidend zurück, und Sheryl lief ein Schauer über den Rücken angesichts der eisigen Kälte, die plötzlich in seinem Blick und in seiner Stimme lag. „Aber ich konnte ihn nicht hier umlegen, kapiert ihr das nicht? Bakers Rückkehr und seine Amnesie haben in der Umgebung für Aufsehen gesorgt. Ich musste ihn also erst von hier fortschaffen. Das habe ich getan. Und ich habe jemanden auf ihn angesetzt, der ihm folgt. Wenn ich dann gewusst hätte, wo er sich niederlässt, wäre ich dorthin und hätte die Sache ein für alle Mal erledigt. Und dann hätte es niemand hier je erfahren. Concho! Es wäre fast so weit gewesen. Aber jetzt musstet ihr auftauchen und …“

„Ihr?“, fragte Sheryl, die noch immer nicht fassen konnte, was sie da eben zu hören bekommen hatte. Manolo wollte Jeremy umbringen? Tränen traten ihr in die Augen. Das konnte doch nicht wahr sein! Manolo war doch ihr Freund!

„Mein Komplize ist gemeint“, erklärte der Fremde.

„Er ist drinnen im Haus“, erklärte Manolo hastig. „Bei Lucia! Und deshalb musst du dich auch ergeben, Jeremy! Sonst tut der Kerl meiner Schwester etwas an!“

Doch Jeremy schüttelte den Kopf. „Dazu wird er kaum in der Lage sein. Ich war nämlich bereits im Haus. Sonst hätte ich euch gar nicht gefunden. Ich habe den Kerl, der Lucia bewacht hat, überwältigt und gefesselt. Lucia ist wohlauf und hat bereits die Polizei gerufen, die jeden Moment hier sein muss.“

„Das war ein Fehler, Baker!“, brüllte der Mann, den Manolo Mounir genannt hatte.

Jeremy blieb äußerlich gelassen, wofür Sheryl ihn nur bewundern konnte. „Ach ja? Und warum? Du hättest mich doch so oder so umgebracht.“

„Schon. Aber da du ja unbedingt alles ausplaudern und noch dazu die Polizei ins Spiel bringen musstest, wird jetzt auch deine hübsche Frau dran glauben müssen!“

Mit diesen Worten und einem wütenden Brüllen wollte er sich auf Jeremy stürzen.

Der jedoch reagierte sofort. Blitzschnell ergriff er eine Heugabel, die an der Wand lehnte, holte aus und schlug den Angreifer mit dem Stiel nieder.

Der Mann stöhnte auf und ging bewusstlos zu Boden. Dabei entglitt das Messer seiner Hand.

Sheryl sah, wie Manolo nach der Waffe greifen wollte, doch er war zu langsam, denn Jeremy schwang schon wieder drohend die Heugabel. Manolo hielt inne und hob resignierend die Hände.

„Hätte ich dich doch bloß gleich umgebracht“, knurrte der Spanier durch zusammengebissene Zähne.

„Dein Fehler!“ Jeremy blickte zu Sheryl hinüber, ohne Manolo aber wirklich aus den Augen zu lassen. „Bist du in Ordnung?“, fragte er besorgt.

Sie nickte hastig, stand auf und klopfte sich den Staub von der Hose. „Ja, es … es geht mir gut. Was sollen wir denn jetzt machen?“

Mit einem Kopfnicken deutete Jeremy zur Tür. In diesem Augenblick war auch schon Sirenengeheul zu hören, das schnell lauter wurde. „Lauf hinaus und führ die Polizisten rein.“ Er kniff die Augen zusammen und blickte erst auf den Bewusstlosen am Boden, dann auf Manolo. „Die sollen hier mal kräftig aufräumen.“

Eine halbe Stunde später war der Spuk endgültig vorbei. Die Polizei hatte Manolo und die zwei Halunken abgeführt, die gekommen waren, um Jeremy zu töten, und auch Lucia hatte zum Verhör mit aufs Revier gemusst. Jeremy würde seine Aussagen morgen machen.

Sheryl fühlte sich noch immer wie im falschen Film. Das, was hier heute vorgefallen war, erschien ihr wie ein böser Traum. Sie konnte einfach nicht glauben, dass Manolo sie die ganze Zeit skrupellos benutzt und belogen hatte.

Noch einmal ging sie in den Stall zurück – den Ort, an dem die Wahrheit endlich ans Licht gekommen war. Sie war nicht überrascht, Jeremy dort anzutreffen.

„Ich … kann das alles noch gar nicht glauben“, sagte sie. „Dass du dich wirklich wieder erinnerst … Oh Gott, Jeremy, ich bin froh, dass es dir wieder gutgeht.“ Sie senkte den Blick. „Auch wenn du nicht mehr bei mir sein willst …“, fügte sie traurig hinzu.

„Wenn ich nicht mehr bei dir sein will …?“ Erstaunt sah er sie an. „Aber davon kann doch überhaupt keine Rede sein!“

„Ach nein?“ Sie sah ihn mit einer Mischung aus Zorn und Hoffnung an. „Und wieso bist du dann weggegangen? Du wolltest fort aus Andalusien. Fort von mir.“

„Aber hast du es denn nicht begriffen?“ Er sah sie an und lächelte, und obwohl sich alles in ihr dagegen sträubte, wärmte sein Lächeln ihr Herz. „Ich wollte nicht fort von dir. Niemals! Weder damals noch heute.“

„Aber …“

„Hör zu, Sheryl, du hast doch gehört, was vor zwei Jahren passiert ist, oder? Ich wurde verschleppt, weil ich den kriminellen Machenschaften von Manolo und seinen Partnern auf die Spur gekommen bin. Ich sollte aus dem Weg geräumt werden. Doch in Casablanca gelang es mir zu entkommen. Es gab einen Kampf, und ich stürzte in das Hafenbecken. Mein Kontrahent muss mich für tot gehalten haben, weshalb die Kerle nie nach mir suchten. Ich aber lebte noch, kletterte aus dem Wasser und wollte fortrennen. Dann aber wurde ich in einer finsteren Ecke des Hafens von irgendeinem Gauner überfallen. Es kam zum Kampf, er schlug mich nieder und raubte mich aus. Deshalb hatte ich nichts mehr bei mir. Meinen Ehering hat er wohl übersehen.“

Er seufzte. „Tja, und der Schlag auf den Kopf hat mir anscheinend nicht nur die Besinnung, sondern auch das Gedächtnis geraubt. Den Rest weißt du ja. Ich bin also nicht von dir fortgegangen, und ich habe auch kein Geld genommen. Das war Manolo.“

„Ich kann es noch immer nicht fassen.“ Sie senkte den Blick. „Wie konnte Manolo das nur tun? Nie hätte ich ihm das zugetraut!“ Sie hielt inne. „Aber … heute bist du doch auch wieder gegangen. Manolo hat gesagt, du wolltest fort von hier, weil du keine Hoffnung mehr hast, hier noch dein Gedächtnis wiederzufinden. Und weil du in Casablanca eine Frau hast, die du liebst.“

„Er hat gelogen“, antwortete Jeremy, und sein ernster Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass er es ehrlich meinte. „Du hast es doch von Manolo selbst gehört. Er wollte mich fortlocken, um mich dann umbringen zu können, ohne Aufsehen zu erregen. Deshalb hat er seine Schwester gezwungen, mir eine Lügengeschichte aufzutischen. Lucia hat behauptet, ich hätte dich damals mit ihr betrogen – und du mich mit ihrem Bruder.“ Er seufzte schwer. „Ich habe ihr geglaubt – vor allem, weil ich seit meiner Ankunft immer eine Szene im Kopf hatte.“

Sheryl sah ihn an. „Und welche?“

„Ich habe dich gesehen. Zusammen mit einem Mann. Ihr habt euch umarmt, euch geküsst … Den Mann konnte ich nie erkennen, nur dich. Ich habe das für eine Erinnerung gehalten.“

„Du dachtest, ich hätte dich damals betrogen?“

„Ehrlich gesagt, wusste ich nicht, was ich glauben sollte.“ Er zuckte mit den Schultern. „Und in gewisser Weise habe ich mich auch nicht getäuscht.“

„Wie meinst du das?“

„Es war eine Erinnerung. Doch eine andere, als ich glaubte. Denn in Wirklichkeit warst nicht du die Frau, die ich immer in meinen Erinnerungsblitzen gesehen habe.“

Sie blinzelte. „Ich verstehe nicht …“

„Hör zu, Sheryl. Ich habe nie mit dir darüber gesprochen. Lange bevor wir uns kennengelernt haben, war ich mit einer Frau zusammen, von der ich glaubte, dass ich sie liebe. Ich war ganz vernarrt in sie, und ich war sicher, dass sie meine Gefühle erwidert. Doch ich habe ihr wohl nicht sehr viel bedeutet. Jedenfalls erwischte ich sie eines Tages in flagranti mit einem anderen Mann.“ Er hielt inne. In seinen Augen lagen Schmerz, Wut und tiefe Traurigkeit, und Sheryl spürte, wie sie von einer Woge des Mitgefühls erfasst wurde.

„Dann war das also die Frau aus deinen Erinnerungsfetzen?“

Er nickte. „Ja, aber ich konnte mich ja nicht wirklich erinnern. Und weil wir so viel zusammen waren, habe ich wohl geglaubt, du seist es.“

Sheryl nickte. „Jedenfalls erklärt das auch, warum du früher in unserer Beziehung immer so eifersüchtig warst.“

„Mir ist klar, dass das ein Problem für dich gewesen sein muss.“ Er schlug die Augen nieder. „Ich hatte wohl einen ziemlichen Schaden aus meiner vorherigen Beziehung davongetragen.“

„Warum hast du denn nie mit mir darüber gesprochen?“

Er hob die Schultern. „Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich wollte ich einfach mit niemandem darüber sprechen. Ich habe mich geschämt. Aber eines verspreche ich dir, wenn du bereit bist, mir noch eine Chance zu geben: Dann werde ich an mir arbeiten und alles daran setzen, dir der Ehemann zu sein, den du verdienst.“

„Oh, Jeremy!“ Sie schluchzte erstickt auf und flog ihm in die Arme. „Natürlich gebe ich dir eine Chance – wenn du auch mir eine gibst. Wir haben beide Fehler gemacht, doch eines weiß ich mit absoluter Sicherheit: Ich liebe dich wie noch keinen anderen Menschen in meinem Leben, und ich kann mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen.“

Jeremy schaute sie an, und in seinen ungewöhnlichen Augen spiegelte sich Erleichterung, Glück und eine tiefe Liebe wider, die Sheryl atemlos machte.

„Du weißt gar nicht, wie glücklich du mich mit diesen Worten machst“, sagte er, umfasste zärtlich ihr Gesicht mit beiden Händen und versiegelte ihre Lippen mit einem langen, leidenschaftlichen Kuss, den ­Sunshine aus ihrer Box mit einem zustimmenden Wiehern quittierte.