1. KAPITEL

Zum sechsten Mal innerhalb von vier Minuten sah Luke Bryant auf die Uhr. Wo bleibt sie nur? dachte er ungeduldig und warf seiner Marketingdirektorin Jenna einen fragenden Blick zu. Als Antwort erhielt er lediglich ein ratloses Achselzucken.

Allmählich zeigte auch das in dem eleganten Foyer versammelte Publikum Anzeichen von Ungeduld. Bereits vor fünfzehn Minuten hätte mit Aurelies Auftritt die Wiedereröffnungsfeier des historischen Kaufhauses beginnen sollen.

Du hättest das Fest besser selbst organisiert, schalt er sich. Da man ihn in den letzten Wochen in der Konzernzentrale in Los Angeles gebraucht hatte, hatte Luke seinem Team in New York die Vorbereitung des Festakts überlassen, mit der Folge, dass Jenna ein abgehalftertes Popsternchen als Stargast engagiert hatte.

„Wo ist sie?“, fragte er.

„In ihrer Garderobe, dem Pausenraum fürs Personal“, erklärte Jenna.

„Weiß sie, dass sie bereits fünfzehn …“ Er warf einen Blick auf die Uhr. „… sechzehn Minuten zu spät dran ist – um ein einziges Lied zu singen?“

„Ich denke schon.“

Ihm war klar, dass er seinen Ärger an der falschen Person ausließ. Die ehrgeizige Jenna hatte die Sängerin aufgrund von Marktforschungsdaten ausgewählt. Die sechsundzwanzig Jahre junge Aurelie sollte die Zielgruppe der Achtzehn- bis Fünfundzwanzigjährigen anlocken, bei denen sie vor wenigen Jahren mit drei Nummer-Eins-Hits Kultstatus erlangt hatte, ehe sie in der Versenkung verschwunden war.

In der Tat hatte sich ein großes Publikum eingefunden, das darauf brannte, sie nach langer Pause eines ihrer Lieder singen zu hören, bevor die Filiale von Bryant’s wiedereröffnet wurde.

Sich seiner Verantwortung als Geschäftsführer der Kaufhauskette bewusst, beschloss Luke, nach ihr zu sehen. Laut Vertrag hatte Aurelie sich verpflichtet, einen Song vorzutragen. Er gedachte, dafür zu sorgen, dass sie es auch tat.

In den Verkaufsräumen von Bryant’s, die er auf dem Weg zu ihrer Garderobe durchquerte, herrschte gespenstische Ruhe – noch. Lass diesen Tag zum Erfolg werden, flehte er im Stillen. Durch die Wirtschaftskrise war der Umsatz der Kaufhauskette in den vergangenen fünf Jahren eingebrochen. Überteuerte Luxusartikel, wie Bryant’s sie seit nahezu einem Jahrhundert vertrieb, waren nicht länger gefragt.

Sämtliche Versuche, die Angebotspalette zu erneuern, waren an seinem älteren Bruder Aaron gescheitert, der das letzte Wort im Konzern hatte. Erst die jüngsten, katastrophalen Zahlen hatten Aaron bewogen, einer grundlegenden Überarbeitung des Konzepts zuzustimmen. Hoffentlich nicht zu spät, dachte Luke, der wusste, dass man es ihm in dem Fall anlasten würde.

Luke erreichte den Pausenraum und klopfte. „Hallo? Miss … Aurelie?“ Ihren Nachnamen kannte er nicht. „Wir warten auf Sie.“ Er drückte die Klinke hinunter, aber die Tür war abgeschlossen. Erneut klopfte er. Niemand antwortete.

Unvermittelt überfiel ihn die Erinnerung an eine andere verriegelte Tür, und Schuldgefühle drohten ihn zu überwältigen. „Es ist deine Schuld, du hättest sie retten können“, hörte er eine Stimme aus der Vergangenheit.

Entschlossen konzentrierte er sich auf die Gegenwart, trat einen Schritt zurück und versetzte der Tür einen gezielten Tritt. Das Schloss zerbarst, und sie sprang auf.

Beim Eintreten sah er sich um. Über Tische, Stühle und sogar den Boden verstreut lagen knallbunte Glitzerkleidchen. Gleich darauf entdeckte er Aurelie. In einem lächerlich kurzen Kleid lag sie zusammengekrümmt in einer Ecke. Mit zwei Schritten war er bei ihr, kniete sich hin und tastete nach ihrem Puls. Er schien gleichmäßig zu schlagen, doch ihr aschfahles Gesicht war von einem Schweißfilm überzogen, und ihre Haut fühlte sich klamm an. Sie sah grässlich aus, so hübsch die zierliche Blondine sonst auch sein mochte.

Sie hat eine Überdosis genommen, wovon auch immer, schoss es Luke durch den Kopf. Dass er dieses Szenario ein zweites Mal erleben würde, hatte er nicht erwartet. Hektisch griff er nach seinem Handy, um den Notruf zu wählen.

In diesem Moment schlug sie die Augen auf, die graublau waren wie der Atlantik an einem stürmischen kalten Tag. Fasziniert ließ er das Handy sinken.

Aurelie blinzelte und versuchte, sich aufzusetzen. Erst jetzt bemerkte sie ihn. Sie warf ihm einen lasziven Blick zu. „Das ist aber mal ein erfreulicher Anblick!“

Seine Erleichterung, dass sie das Bewusstsein wiedererlangt hatte, schwand. Beherzt griff er ihr unter die Arme und zog sie auf die Beine. Auf dem Boden liegend, hatte sie schlank ausgesehen, in seinen Armen fühlte sie sich geradezu zerbrechlich an. Kraftlos lehnte sie sich gegen ihn, unfähig, allein zu stehen.

„Was haben Sie genommen?“

Den Kopf in den Nacken gelegt, lächelte sie zynisch. „Was auch immer – es war der Hammer!“

Schweigend hob er sie hoch und trug sie ins angrenzende Bad, wo er kaltes Wasser ins Waschbecken einließ und ihr Gesicht hineintauchte.

Prustend und schimpfend kam sie wieder an die Oberfläche.

„Was soll das?“

„Sind Sie jetzt wieder bei klarem Verstand?“

Wütend wischte sie sich das Wasser aus dem Gesicht. „Und ob! Wer sind Sie?“

„Luke Bryant.“ Der Schreck, den sie ihm eingejagt hatte, wich unverhohlenem Zorn. „Ich bezahle für Ihren Auftritt. In fünf Minuten stehen Sie auf der Bühne. Und schminken Sie sich vorher. Sie sehen schrecklich aus.“

Aurelie Schmidt – kaum jemand kannte ihren Nachnamen – trocknete sich das Gesicht ab. Dieser dumme Mann, dieser blöde Auftritt, dachte sie wütend. Wieso nur hatte sie dieses Engagement angenommen? Ach ja, sie hatte sich von einer anderen Seite zeigen wollen.

Sie zog einen Schokoriegel aus der Handtasche, entfernte das Papier und biss hinein. Dann ließ sie den Blick über die im Raum verstreuten Kleider schweifen.

Die Frau, die sie für den Auftritt gebucht hatte, hatte den Kopf über ihr ursprünglich geplantes Bühnenoutfit geschüttelt, Jeans und eine bunte Tunika. „Das entspricht nicht Ihrem Image …“

Das sollte es auch nicht. Als Popsängerin betrachtete Aurelie sich schon lange nicht mehr.

Doch das Publikum wollte offenbar den Popstar sehen – weil es ihre alten Hits liebte oder auf einen neuen Skandal hoffte. Daher hatte sie widerwillig eines ihrer alten paillettenbesetzten Minikleider übergestreift und begonnen, sich zu schminken – und war in Ohnmacht gefallen. Der herrische Mr Bryant hatte sie entdeckt und sofort das Schlimmste angenommen, was sie ihm eingedenk ihrer turbulenten Vergangenheit nicht einmal verübeln konnte.

Hastig schob sie sich den restlichen Schokoriegel in den Mund, während sie sich schminkte: Grundierung, Rouge, Lidstrich und reichlich Lippenstift. Für mehr reichte die Zeit nicht. Das Haar steckte sie zu einem lässigen Knoten auf und fixierte ihn mit Spray.

Die saloppe Frisur passte hervorragend zu ihrem Ruf, sie würde den Zuschauern gefallen. Dann eilte Aurelie, so schnell es ihre hohen Absätze zuließen, in die Lobby. Bereits vor zwanzig Minuten hätte sie ihren alten Hit Take Me Down präsentieren sollen. Sicher war das Publikum inzwischen unruhig und Luke Bryant noch wütender.

Wenn sie eine Bühne betrat, schien es ihr immer, als würde sie ihre Persönlichkeit in den Kulissen zurücklassen, weil sie in der Musik und dem Tanz völlig aufging.

Auch diesmal verschwamm die Menschenmenge vor ihren Augen zu einer formlosen Masse. Dann allerdings blieb Aurelie mit dem Absatz ihrer hochhackigen Sandaletten in einer Spalte am Boden hängen und drohte das Gleichgewicht zu verlieren. Ein Raunen ging durch das Foyer. Die Leute warteten darauf – hofften –, sie stürzen zu sehen, doch sie fing sich gerade noch rechtzeitig. Ein freches Lächeln auf den Lippen, begann sie zu singen.

Normalerweise war ihr kaum bewusst, was sie auf der Bühne tat. Sie schlüpfte in eine Rolle, die ihr zur zweiten Natur geworden war – wenn nicht gar zur ersten. Diesmal funktionierte es nicht so, dennoch absolvierte sie ihren Auftritt annähernd perfekt.

Während sie sang und tanzte, bemerkte sie neben der Bühne, abseits vom Publikum, Luke Bryant. Er beobachtete sie unverhohlen mit grimmiger Miene. Seltsamerweise fiel es ihr schwer, den Blick von ihm zu abzuwenden.

Luke merkte sofort, dass Aurelie nicht mit dem Herzen bei der Sache war, wenngleich sie eine ausgezeichnete Show ablieferte. Sie tanzte lässig und sinnlich, ließ ihre klare Stimme nach Belieben sanft, heiser oder verführerisch klingen.

Dann begegneten sich ihre Blicke, und seine Distanziertheit fiel von ihm ab. Unvermittelt empfand er nur noch … Verlangen und gleichzeitig den noch stärkeren Wunsch, Aurelie zu beschützen. Mach dich nicht lächerlich, rief er sich zur Ordnung. Sie war ihm nicht sympathisch, ja er verachtete sie sogar.

Als sie eine Drehung vollführte und sich wieder dem Publikum zuwandte, atmete er erleichtert auf. Sicher waren nur Müdigkeit und Stress schuld an seiner Reaktion.

„So alt ist der Song nicht, dass ihr ihn vergessen habt“, forderte sie die Menge scherzend auf, den Refrain mitzusingen.

Unwillkürlich empfand er so etwas wie Bewunderung für sie, weil sie sich selbst nicht so ernst nahm. Oder hatten die Drogen ihr den nötigen Mut verliehen?

Das Stück endete, Applaus erklang, aber auch einige Pfiffe. Das Publikum mochte sie, liebte es aber auch, sie zu necken. Das schien ihr bewusst zu sein, denn sie verabschiedete sich mit übertriebenen Gesten, ehe sie von der Bühne tänzelte – direkt auf ihn zu. Ihre Blicke begegneten sich erneut, und sie hob herausfordernd das Kinn.

Er hatte sie zwar hart angefasst, dachte aber nicht daran, sich zu entschuldigen. Dass Aurelie vor dem Auftritt Drogen genommen hatte, war unverzeihlich. Luke beschloss, sie so schnell wie möglich loszuwerden, damit sie auf der Feier keinen Schaden anrichtete.

Als sie an ihm vorbeigehen wollte, umfasste er ihr Handgelenk. Es war so schmal, dass er ihren Pulsschlag spüren konnte. Ein leichter Duft nach Zitrusfrüchten stieg ihm in die Nase, unwillkürlich betrachtete Luke sie genauer: die festen Brüste und ihre weiblichen Hüften, die das Stretchkleid betonte. Gleich darauf begegnete er ihrem zynischen Blick. Ihm wurde bewusst, dass er sie angestarrt hatte.

„Danke“, sagte er steif.

„Wofür?“

„Für den Auftritt.“

„Gern geschehen, Sklaventreiber.“

„Womit habe ich diese Bezeichnung verdient?“

Empört stemmte Aurelie die Hände in die Hüften. „Soll ich mich etwa dafür bedanken, dass Sie mich in ein Becken mit kaltem Wasser getaucht haben?“

„Sie waren bewusstlos – ich habe Ihnen einen Gefallen getan.“

„Sehen Sie, was ich meine?“

„Ich verlange nicht mehr, als vereinbart war.“

Sie lächelte spöttisch und legte ihm eine Hand auf die Brust. Durch das Hemd spürte er die Wärme ihrer Finger, den sanften Druck, und sofort begehrte er sie wieder.

„Und was genau ist das?“, fragte sie in verführerischem Tonfall.

„Dass Sie sofort verschwinden“, fuhr Luke sie an. Seinen Körper hatte er zwar nicht unter Kontrolle, dafür alles Übrige.

Aurelie lachte nur und ließ den Blick zu seinem Schritt schweifen. „Sicher?“

Wutentbrannt schob er ihre Hand beiseite. „Wenn Sie nicht augenblicklich gehen, lasse ich Sie vom Sicherheitsdienst hinausbegleiten.“

„Halten Sie das für klug? Die Presse fände es sicher erwähnenswert. Sie würde Ihre große Eröffnungsfeier verreißen. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche.“

„Zweifellos.“ Die Medien hatten oft genug negativ über sie berichtet.

„Finden Sie sich damit ab, dass Sie mich brauchen.“

Luke focht einen inneren Kampf aus. Schließlich siegte die Vernunft über den Drang, Aurelie wegzuschicken. Er musste seinen Stolz hinunterschlucken, denn von diesem Tag hing zu viel ab. „Gut“, gab er nach. „Sie dürfen eine Stunde auf der Party bleiben. Danach verschwinden Sie freiwillig. Falls Sie aber auf die Idee kommen sollten …“

„Auf welche?“, fragte sie spöttisch.

„Das weiß ich, ehrlich gesagt, auch nicht.“

Im einen Moment wirkte sie kokett und katzenhaft, verlockend und verheißungsvoll, im nächsten traurig und verloren. Rasch senkte sie den Kopf. „Keine Sorge. Wie immer gebe ich jedem, was er will. Sogar Ihnen.“ Ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen, ging sie weg.

Betroffen sah Luke ihr nach. Er hatte Aurelie als hohl und oberflächlich abgetan, gerade eben hatte sie ihm jedoch einen Blick in ungeahnte Tiefen gewährt, voller Dunkelheit und Schmerz.

Aufatmend wandte er sich ab, fest entschlossen, keinen weiteren Gedanken an diese Frau zu verschwenden.

Das Publikum zerstreute sich bereits, die Menschen gingen umher und bewunderten die Auslagen. Auch Luke schlenderte durch sein Kaufhaus, und während er lächelte, grüßte und mit wichtigen Gästen sprach, meinte er, immer noch Aurelies Hand auf seiner Brust zu spüren.

Was ist nur los mit dir, Luke Bryant? überlegte Aurelie, während sie durch das Kaufhaus bummelte. Seine Muskeln hatten sich unglaublich verspannt angefühlt, als sie ihm die Hand auf die Brust legte. Den beschleunigten Herzschlag schrieb sie ihrer Wirkung auf ihn zu.

Üblicherweise erfüllte es sie mit grimmiger Zufriedenheit, wenn ein Mann ihrem Zauber verfiel. Diesmal empfand sie nichts als Leere und Müdigkeit, und die Vorstellung, eine weitere Stunde den Popstar zu spielen, bereitete ihr Unbehagen.

Was passiert, wenn ich heute aus der Rolle falle und ganz ich selbst bin? fragte sie sich.

Die Reaktion der PR-Mitarbeiterin fiel ihr ein. Die Leute wollten die Popprinzessin sehen, deren Eskapaden in der Regenbogenpresse breitgetreten wurden. An ihr selbst war niemand interessiert. Aurelie war sich nicht einmal sicher, ob noch ein Rest ihrer wahren Persönlichkeit existierte.

Bei den Gästen der Eröffnungsfeier handelte es sich in erster Linie um Bürger aus der Mittelschicht. Das ehemalige Luxuskaufhaus bot nun auch preiswertere Artikel an als früher, hatte aber trotz der Sortimentsumstellung nichts an Stil und Eleganz eingebüßt.

Es erschien Aurelie als Ironie des Schicksals, dass sowohl Bryant’s als auch sie sich neu zu erfinden versuchten, und sie überlegte, ob Luke mehr Erfolg beschieden war als ihr.

Eine Dreiviertelstunde lang badete sie in der Menge, gab Auto­gramme und tat so, als würde sie sich amüsieren. Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie nach Luke Bryant Ausschau hielt. Ihm schien die Party nicht mehr Vergnügen zu bereiten als ihr. Im Gegensatz zu ihr gelang es ihm allerdings nicht ganz, es zu verbergen.

Mit dem braunen Haar, den dunklen Augen und dem athletischen Körperbau sah er zwar fantastisch aus, wirkte für ihren Geschmack aber viel zu ernst und streng. Ob er jemals lachte?

Als sie ihm die Hand aufs Herz legte, hatte er sie erst wütend angeblickt, dann verlangend. Typisch Mann, dachte Aurelie abfällig, konnte jedoch nicht leugnen, dass er ungeahnte Empfindungen in ihr weckte.

Unvermittelt begegneten sich ihre Blicke, und ihr wurde bewusst, dass sie ihn minutenlang unverhohlen angestarrt hatte. Abfällig verzog Luke den Mund, als hätte er etwas Unangenehmes entdeckt, und wandte sich wieder ab.

Aurelie empfand sein Verhalten als Zurückweisung. Sie war tief getroffen und verletzt. Mach dich nicht lächerlich, wies sie sich zurecht. Durch die Klatschpresse hatte sie weitaus schlimmere Beleidigungen erfahren. Verwundert fragte sie sich, wieso er überhaupt die Macht besaß, ihr Schmerz zuzufügen.

Es fiel ihr zunehmend schwerer, den Gesprächen um sich herum zu folgen. Sie versuchte zu lächeln, ihre Rolle zu spielen, aber es gelang ihr nicht länger. Daher beschloss sie zu gehen und machte sich auf den Weg zu ihrer Garderobe, um ihre Sachen zu holen.

Als Luke merkte, dass Aurelie sich zurückzog, war er erleichtert und frustriert zugleich. Sie stellte eine Gefahr für die Eröffnungsfeier dar, je eher sie verschwand, desto besser. Andererseits hatte er ihren betroffenen Blick wahrgenommen, und irgendwie tat sie ihm leid. Hauptsache, sie ist weg, sagte er sich dann, sie ist mir völlig gleichgültig.

Dennoch fand er sich kurz darauf auf dem Weg zu ihrer improvisierten Garderobe wieder. Er trat ein, ohne anzuklopfen. Aurelie stand mitten im Raum, die Arme nach oben gestreckt, das Kleid halb über den Kopf gezogen.

„Entschuldigung …“

„Wieso so schüchtern?“ Sie streifte es ab und stand, nur mit einem knappen Push-up-BH und einem winzigen Slip bekleidet, die Hände in die Seiten gestemmt, spöttisch lächelnd vor ihm. „Betrachten Sie in aller Ruhe, was Sie schon den ganzen Abend ansehen wollten.“

„Sie sind einfach unmöglich.“

„Ist das ein Kompliment?“

Zu seinem Entsetzen gelang es Luke nicht, den Blick von ihr abzuwenden. Hastig griff er nach einem durchscheinenden lila Etwas, das zu seinen Füßen lag, und warf es ihr zu. „Ziehen Sie das über.“

Amüsiert betrachtete sie das Top. „Wenn Sie darauf bestehen.“

Das durchsichtige Oberteil betonte ihre Rundungen nur noch stärker. Sie ist viel zu dünn, sagte Luke sich, während er ihren Anblick förmlich in sich aufsog. Zu allem Überfluss spürte er, wie erneut Verlangen in ihm erwachte.

Auch Aurelie merkte es und lächelte wissend.

„Ich wollte mich nur überzeugen, dass es Ihnen gutgeht“, versuchte er sich zu rechtfertigen.

„Wieso sollte es das nicht?“

„Weil …“ Er konnte ihr unmöglich gestehen, dass er ihren traurigen Blick aufgefangen hatte. Andererseits war er nicht in der Lage, zu heucheln oder zu lügen. „Ich hatte den Eindruck, dass Sie nicht gut drauf sind.“

Verblüfft sah sie ihn an. Er spürte, dass ihre selbstbewusste Haltung lediglich eine Pose war.

„Sie sind ja ein ganz Sensibler“, raunte sie so sexy, dass ihm Schauer über den Rücken liefen und sein Verlangen heiß aufloderte. Seine letzte Beziehung war vor Monaten in die Brüche gegangen, seither hatte er keinen Sex mehr gehabt. Das musste der Grund für seine heftige körperliche Reaktion auf diese unmögliche Frau sein.

Aurelie kam auf ihn zu und blickte ihm tief in die Augen. Unwillkürlich trat Luke einen Schritt zurück, bis er an der Tür lehnte.

„Nicht ich habe ein Problem, sondern Sie.“ Sie lächelte zynisch, streckte die Hand aus und strich ihm mit den Fingerspitzen sanft über den Schritt.

Wie elektrisiert zuckte Luke zusammen und machte einen Schritt zur Seite.

„Was ist nur mit Ihnen los?“ Angewidert schüttelte er den Kopf.

„Ihrer Reaktion nach zu schließen, ist alles in Ordnung.“

„Mein Körper reagiert lediglich auf den Anblick einer attraktiven Frau in Unterwäsche, mehr nicht.“

„Und Ihre Sorge um meinen Gemütszustand?“ Lächelnd, aber mit einem eisigen Ausdruck in den Augen wich sie zurück.

„Dachten Sie etwa, ich will Sie anmachen? Ist es nicht eher umgekehrt?“ Er lachte bitter. „Ich mag Sie nicht einmal!“

„Was hat Sex mit Sympathie zu tun?“

„In meinen Augen alles.“

„Wie süß.“ Aurelie kehrte ihm den Rücken, griff nach ihrer Jeans und schlüpfte hinein. „Nun, ich kann Sie beruhigen. Mir geht es ausgezeichnet.“

So sah sie allerdings nicht aus. Obwohl Luke wusste, dass es höchste Zeit war zu gehen, blieb er frustriert stehen und beobachtete, wie sie ihre Kleider zusammenraffte und in eine riesige Reisetasche stopfte. Einmal blickte sie zu ihm herüber, und für einen Moment wirkte sie unglaublich jung und verletzlich.

Sie lächelte ihr zynisches Lächeln, das er grässlich fand, und fragte: „Immer noch hier? Geben Sie die Hoffnung nicht auf?“

„Ich will sicherstellen, dass Sie auf dem Weg nach draußen nicht wieder zusammenbrechen.“ Nur mit Mühe bezwang er seine Wut. „Vor einer Stunde lagen Sie bewusstlos auf dem Boden. Ein Bericht über die Popprinzessin Aurelie, die sich im Bryant’s eine Überdosis setzt, ist das Letzte, was ich brauche.“

Entnervt verdrehte sie die Augen. „Dann sind Sie also nicht meinetwegen besorgt? Keine Angst, es geht mir ausgezeichnet.“

„Wenn dem so ist, verabschiede ich mich jetzt. Würden Sie bitte den Hinterausgang benutzen?“

„Das mache ich immer – schon wegen der Paparazzi.“ Aurelie lächelte, und ihm fiel auf, dass ihr Kinn kaum merklich bebte. In diesem Moment wurde ihm klar, dass er sie verletzt hatte. Ihr Gleichmut war nur gespielt.

Das sollte ihm gleichgültig sein – war es aber nicht. „Leben Sie wohl“, verabschiedete Luke sich.

Statt zu antworten, sah sie ihn nur aus ihren sturmgrauen Augen an, das bebende Kinn trotzig erhoben.

Er fluchte, wandte sich um und stürmte aus dem Raum.