4. KAPITEL

Aurelie führte Luke in ihr Arbeits- und Musikzimmer im vorderen Teil des Hauses. Vor Aufregung schlug ihr das Herz förmlich bis zum Hals, ihre Hände waren feucht. Wieso tue ich mir das an? fragte sie sich. Es kam ihr weder auf Geld an noch auf ein Comeback.

Allerdings sehnte sie sich danach, den Song, der ihr so wichtig war, mit jemandem zu teilen – mit ihm. Sie schluckte nervös und bot ihm einen Platz ihr gegenüber an.

„Ich begleite mich auf der Akustikgitarre.“

Das Instrument hatte ihre Großmutter ihr kurz vor ihrem Tod geschenkt. „Vergiss nie, wer du wirklich bist“, hatte sie sie gewarnt. „Lass dir von niemandem den Kopf verdrehen.“ Leider hatte sie den guten Rat nicht beherzigt.

Panik ergriff sie. Um Zeit zu schinden, stimmte Aurelie das Instrument erneut – was sie erst vor wenigen Stunden getan hatte. Dann konnte sie es nicht länger hinauszögern, so groß ihre Angst auch war, dass Luke ihr Lied – und sie – ablehnen könnte.

„Fängt das Stück mit einer langen Pause an?“, versuchte er ihr augenzwinkernd das Lampenfieber zu nehmen.

„Nur Geduld.“ Nachdem sie tief eingeatmet hatte, schlug sie die ersten Mollakkorde an. Dann begann sie zu singen, der Klang ihrer Stimme erfüllte den Raum. Im Gegensatz zu den Popnummern, die sie laut herausschmetterte, trug sie ihr neues Lied sanft und sehr gefühlvoll vor. „Winter came so early, it caught me by surprise. I stand alone till the cold wind blows the tears into my eyes.“ Schon nach wenigen Takten vergaß sie alles um sich her und gab sich ganz der Musik hin.

Sobald der letzte Ton verklungen war, herrschte für einen Moment Stille. Das Herz schlug Aurelie bis zum Hals. Sie wagte nicht, Luke anzusehen. Nervös zupfte sie an den Saiten der Gitarre herum. „Das Lied ist ein wenig deprimierend“, entschuldigte sie sich. „Für die Eröffnungsfeierlichkeiten eignet es sich vermutlich nicht.“

„Doch, wenn du danach einen zweiten, fröhlicheren Song spielst.“

Überrascht sah sie auf. Luke beobachtete sie mit undurchdringlicher Miene.

„Also …“ Sie schluckte. „Wie gefällt es dir?“

„Ich finde es wunderschön.“

Erneut senkte sie den Blick, diesmal um die Tränen zu verbergen, die ihr in die Augen stiegen. Sie wollte nicht vor ihm weinen.

Luke beugte sich vor und legte ihr die Hand aufs Knie „Jetzt verstehe ich auch, wovor du Angst hast. Es ist sehr persönlich.“

In der Tat fühlte sie sich in diesem Moment, als stünde sie nackt vor ihm. Wie gebannt betrachtete sie seine langen, sonnengebräunten Finger. „Interpretiere nicht zu viel hinein. Es ist bloß ein Lied.“

„Wirklich?“ In seinem Blick lagen Verständnis und tiefes Mitgefühl.

Aurelie fühlte sich verletzlich und gleichzeitig akzeptiert. Die widersprüchlichen Empfindungen verwirrten und überwältigten sie. „Luke …“, sagte sie heiser.

In seinen Augen blitzte es auf. Plötzlich knisterte es zwischen ihnen. Die Wärme, die Aurelie gerade noch empfunden hatte, wich einer starken körperlichen Anziehung.

Immer geht es nur um Sex, dachte sie enttäuscht, während gleichzeitig etwas tief in ihr zum Leben erwachte.

Luke richtete sich auf und zog die Hand zurück. „Es ist schon spät, ich sollte gehen.“

„Bis nach New York schaffst du es heute nicht mehr.“

„Ich suche mir unterwegs ein Zimmer.“

Als er aufstehen wollte, geriet sie in Panik. „Du kannst hier übernachten“, rief sie atemlos, während sie sich gleichzeitig fragte, was sie dazu bewogen hatte. Sie wusste nur, dass sie ihn nicht gehen lassen wollte.

„Das halte ich für keine gute Idee“, meinte er nach einem Moment.

„Wieso nicht?“

Er lächelte schief. „Wir sind Geschäftspartner. Lass uns die Dinge nicht unnötig komplizieren.“

„Das muss nicht sein“, gab sie betont unbekümmert zurück.

„Was willst du von mir, Aurelie?“

Die Art, wie er ihren Namen aussprach, gefiel ihr. Seit jeher hasste sie den lächerlichen Vornamen, den ihre alberne Mutter ausgesucht hatte, aber wenn Luke ihn sagte, klang er wunderschön. Dann fühlte sie sich wie sie selbst – oder besser gesagt, wie diejenige, die sie sein könnte, wenn man sie nur ließe.

„Was hättest du denn am liebsten?“

Er lachte leise. „Wieder einmal weichst du einer direkten Antwort aus.“

„Ich möchte dich nicht langweilen.“

„Das tust du ohnehin nicht.“ Er blickte ihr tief in die Augen, und sie erkannte das Feuer in seinem Blick. Auch in ihr loderte zu ihrer großen Verwunderung eine helle Flamme. Wann habe ich das letzte Mal – wann jemals – einen Mann begehrt? fragte sich Aurelie. Dass sie sich nach Luke verzehrte, konnte sie nicht leugnen. Sie wollte ihn, wollte mit ihm zusammen sein. Die Gründe, aus denen sie sonst mit einem Mann schlief, Macht, Kontrolle oder eine Art Tauschhandel, hatten damit nichts zu tun.

„Also?“, hauchte sie.

Reglos saß Luke ihr gegenüber und sagte kein Wort. In seinem Blick mischten sich Zweifel und Verlangen. Aurelie neigte sich vor und strich mit den Fingerspitzen über seine gerunzelte Stirn. „Du grübelst zu viel.“

Er lächelte. „Im Augenblick denke ich mit dem falschen Körperteil.“

Diesmal lachte sie. „Das ist nicht immer verkehrt.“ Langsam ließ sie die Finger über seine Wange gleiten, spürte den Bartansatz an seinem Kinn. Dass sie die Berührung genoss, war ebenfalls neu für sie.

Ermutigt legte sie ihm den Daumen auf die für einen Mann erstaunlich vollen Lippen und bewunderte sein Gesicht: das markante Kinn, die kräftige Nase, die geschwungenen dunklen Wimpern. Dass er trotz der langen Wimpern und sinnlichen Lippen so unglaublich maskulin wirkte, erschien ihr wie ein Wunder.

Als er nicht zurückwich, schob sie ihm einen Finger in den Mund. Sie spürte seine warme Zunge, dann begann er, zärtlich an ihrer Fingerspitze zu knabbern. Heiße Wellen der Lust durchfluteten sie, und sie rang nach Luft. Luke sah sie an, einen verlangenden Ausdruck in den Augen. Er saugte an ihrem Finger, und sie stöhnte erregt.

Unvermittelt zog er sich zurück. „Wieso tust du das?“

„Wieso nicht?“, konterte sie lächelnd.

„Wirf mir hinterher bitte nicht vor, dass ich genau wie alle anderen Männer bin.“

„Bestimmt nicht.“ Dass er das nicht war, wusste sie inzwischen. Genau aus diesem Grund wünschte sie, er würde bei ihr bleiben. „Du denkst viel zu viel nach“, murmelte sie. Dann stand sie auf, setzte sich rittlings auf ihn und schlang die Beine um ihn. Sie spürte deutlich, wie sehr er sie begehrte, und schmiegte sich noch enger an ihn.

Luke ließ die Hände über ihren Rücken gleiten und umfasste ihre Hüften. „Das ist gar keine gute Idee“, stöhnte er, als sie sich noch mehr an ihn presste, zog sie aber dennoch weiter an sich.

In diesem Moment wusste Aurelie, dass sie gewonnen hatte. Sie empfand Triumph und Verlangen, spürte jedoch gleichzeitig auf einer tieferen Bewusstseinsebene Enttäuschung und Schmerz. Denn trotz seiner gegenteiligen Beteuerungen war Luke wie alle Männer nur auf das eine aus.

Das Funkeln in ihren Augen verriet Luke, dass Aurelie im Begriff stand, ihn zu verführen. Wenn er kapitulierte, würde er sie in dem Glauben bestärken, dass er in der Absicht zu ihr gekommen war, mit ihr zu schlafen. Sein Verstand ermahnte ihn, nicht nachzugeben, sein Körper war zu allem bereit. Immerhin ist sie es, die mich in ihr Bett lockt, schoss es ihm durch den Kopf.

Er fühlte sich hin- und hergerissen. Die Stimme der Vernunft warnte ihn vor den zahllosen Komplikationen, die ihnen auf der gemeinsamen Geschäftsreise nach Asien bevorstanden, wenn er jetzt mit ihr schlief.

Ein anderer Teil von ihm beharrte darauf, dass es nicht der Popstar Aurelie war, mit dem er ins Bett gehen würde, sondern Aurelie Schmidt, die Frau, die ihm ihr wunderschönes herzzerreißendes Lied vorgesungen hatte. Die verwirrende Frau mit den rauchgrauen Augen, die ihn vom ersten Augenblick an fasziniert hatten. Doch wäre das nicht noch schlimmer? Sie erschien ihm ungemein zart und verletzlich.

Irgendwann schob er alle Bedenken beiseite, umfasste verlangend ihr Gesicht und schob die Finger in ihr seidiges Haar. Dann küsste er sie. Erst ließ er die Lippen hauchzart über ihre gleiten, bevor er sie daraufpresste und ein lockendes Spiel mit der Zunge begann. Die Stimme der Vernunft wurde immer leiser, bis sie ganz verstummte.

Wie sie nach oben ins Schlafzimmer gekommen waren, wusste Luke später nicht mehr. Er erinnerte sich nur noch daran, dass die Treppenstufen beim Hinaufgehen gequietscht hatten. Gleich darauf stand Aurelie vor dem Bett und entledigte sich ihrer Jeans, während er sich den Pulli über den Kopf zog und den Knopf seiner Jeans öffnete. Einen Moment später lag sie in BH und Slip vor ihm auf dem Bett, offenbar zu allem bereit – doch ihr Kinn bebte verdächtig.

Luke zögerte, während ihm das Blut heiß durch die Adern pulsierte. Er verzehrte sich förmlich nach ihr. „Aurelie …“

Sie streckte die Arme nach ihm aus und zog ihn entschlossen am Hemd aufs Bett.

„Zu spät! Du kannst es dir nicht noch einmal überlegen.“ Ihr leidenschaftlicher Kuss verscheuchte all seine Bedenken. Selbstvergessen erwiderte er ihn, sein Verlangen steigerte sich ins Unermessliche. Als sie am Reißverschluss seiner Jeans zerrte, konnte er keinen klaren Gedanken mehr fassen.

„Aurelie“, stieß er hervor, während er ihren Po streichelte und die Hand dann unter ihren Slip schob. Er liebkoste die zarte Innenseite ihre Schenkel … Unvermittelt wurde ihm bewusst, dass sie nicht länger auf seine Berührungen reagierte. Die Arme ausgestreckt, lag sie angespannt unter ihm. Gleich darauf schluchzte sie auf. Erschrocken stützte er sich auf die Arme und versuchte herauszufinden, was los war.

Aurelie hielt die Augen fest geschlossen, ihr Atem ging stoßweise.

Sie wirkt richtig gequält, dachte er in einem Anflug von Selbstverachtung. Fluchend rollte er sich von ihr hinunter, bedauernd und frustriert zugleich. Ich wusste doch gleich, dass es ein Fehler ist, schalt er sich insgeheim. „Was ist passiert?“

Aurelie antwortete nicht, sondern glitt aus dem Bett und verschwand im Bad. Als sich die Tür hinter ihr schloss, legte er sich den Arm über die Augen. Er verstand nicht, was gerade geschehen war, gab sich aber die Schuld daran.

Sekunden verstrichen, Minuten. Luke hörte, wie Aurelie im Bad herumging, einen Schrank öffnete und wieder schloss. Allmählich wurde er unruhig. Er hasste geschlossene Türen, Stille, das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Irgendetwas ist nicht in Ordnung, dachte er. Ganz und gar nicht.

Hastig stand er auf, schlüpfte in seine Hose und trat an die Tür.

„Aurelie?“ Keine Antwort. Sein Unbehagen wuchs. „Aurelie“, rief er erneut, ehe er die Tür aufriss – und wieder fluchte.

Sie stand am Waschbecken, einen Arm ausgestreckt, eine Spritze in der anderen Hand. Mit einem Satz war er bei ihr und schlug ihr die Spritze aus der Hand, die klappernd zu Boden fiel.

„Was, zum Teufel, machst du da?“

„Was glaubst du denn?“

Verwirrt blickte er sie an. Diese Frau trieb ihn noch in den Wahnsinn! „Es sieht aus, als würdest du dir etwas spritzen.“

Ein spöttischer Zug erschien um ihren Mund. „Der Kandidat hat hundert Punkte. Genau das mache ich.“ Aurelie hob die Spritze auf, desinfizierte sie mit einem alkoholgetränkten Wattepad und stach sie sich in den Oberarm.

Luke stand mit geballten Fäusten daneben und beobachtete sie. „Wieso erklärst du mir nicht endlich, was los ist?“

Sorgfältig verstaute sie die Spritze in einem Kosmetiktäschchen. Ehe sie es zumachte und wegräumte, sah Luke, dass sich darin mehrere kleine Ampullen befanden. Müde meinte sie: „Keine Sorge, Bryant. Das ist nur Insulin.“

Sie ging an ihm vorbei und zurück ins Schlafzimmer.

Er folgte ihr. „Hast du Diabetes?“

„Du hast es erfasst.“ Aurelie nahm einen flauschigen Bademantel von einem Haken an der Rückseite der Tür, schlüpfte hinein und setzte sich auf die Bettkante. In diesem Moment wirkte sie unglaublich jung, verletzlich und einsam.

„Das hättest du mir längst sagen können.“

„Wann? Als ich ohnmächtig in der Garderobe lag, oder nachdem du mich ins Waschbecken getaucht hattest?“

Erschöpft ließ Luke sich in einen Sessel ihr gegenüber fallen. Er fuhr sich durchs Haar und versuchte, seine wirren Gedanken zu ordnen. „Also war Unterzuckerung die Ursache deiner Ohnmacht in New York.“

„Ich hatte vergessen, den Blutzuckerspiegel zu kontrollieren.“

„Das ist gefährlich …“

Sie lachte kurz. „Als ob ich das nicht wüsste! Ich lebe seit fast zehn Jahren mit dieser Krankheit. In der Aufregung über meinen Auftritt hatte ich es leider vergessen.“ Als hätte sie zu viel von sich preisgegeben, verschränkte sie die Arme vor der Brust und sah nervös weg.

„Wieso hast du mir das nicht eher verraten? Heute. Ich habe dich gefragt.“

„Du hättest mir nicht geglaubt.“

„Ich habe doch gesagt, dass ich es tue.“

„Dann kannst du doch lügen.“

„Dass du vor Hunger in Ohnmacht gefallen bist, erschien mir zumindest unglaubwürdig. Hätte ich allerdings gewusst, dass eine Krankheit …“

„Vielleicht habe ich keine Lust, mich ständig zu erklären? Würde jemand annehmen, dass du ein Junkie bist, wenn du ohnmächtig werden würdest?“

„Natürlich nicht. Aber ich bin nicht …“

Aurelie neigte sich vor. In ihren Augen glitzerte es gefährlich. „Du bist nicht was?“

„Ich bin nicht du, nicht Aurelie.“ Noch während er die Worte aussprach, wusste Luke, dass er besser geschwiegen hätte.

Sie presste die Lippen fest aufeinander. „Die bin ich“, stellte sie ruhig fest.

Er barg das Gesicht in den Händen. „Immerhin ist bekannt, dass du …“

„Ich weiß, was man mir nachsagt.“ Ihr Kinn bebte, ein Zeichen dafür, dass sie sich fürchtete – so gut kannte er sie inzwischen. Traurig war sie obendrein – genau wie er.

„Was ist eben im Bett passiert? Wieso hast du auf einmal dagelegen, als …?“ Er brachte die Worte kaum über die Lippen. „Als würde man dich gleich foltern?“

Hatte sie ihm lediglich eine Falle gestellt? Hatte sie ihm beweisen wollen, dass er wie alle anderen Männer nur darauf aus war, sie ins Bett zu bekommen?

Aurelie schwieg, und Luke fragte sich, ob es noch schlechter hätte laufen können.

„Willst du mich immer noch nach Asien mitnehmen?“, erkundigte sie sich nach einer Weile leise.

„Möchtest du denn noch mitkommen?“, fragte er erstaunt.

„Wieso nicht?“ Sie bedachte ihn mit einem eisigen Blick.

Also hat sie doch mit mir gespielt, dachte er wütend. Er hatte zwar mitgemacht, sich bereitwillig verführen lassen. Das änderte allerdings nichts an der Tatsache, dass sie ihn absichtlich und kaltherzig benutzt hatte, um ihm ihren verdrehten Standpunkt klarzumachen. Denn Sex hatte er nicht im Sinn gehabt, bis sie den ersten Schritt gemacht hatte. Oder vielleicht doch?

„Du bekommst den Job“, versicherte er ihr erschöpft. Vielleicht erwuchs doch noch etwas Gutes aus dieser unseligen Affäre. „Meine Assistentin wird dir die Einzelheiten nennen. Am vierundzwanzigsten sehen wir uns in Manila.“ Er stand auf und registrierte zufrieden ihren überraschten Blick.

„Du gehst?“

„Ich möchte nicht bleiben. Das dürfte auch in deinem Sinn sein. Und glaub mir, ich bin nicht mit dem Vorsatz zu dir gekommen, dich zu verführen. Das schwöre ich.“

Als sie nichts erwiderte, verließ er kopfschüttelnd das Zimmer.