Zum fünften Mal überprüfte Aurelie ihr Aussehen in dem großen Spiegel in der Luxussuite, die für sie im Mandarin Oriental in Manila reserviert worden war. Vor einigen Stunden war sie angekommen, gleich sollte sie Luke in der Bar treffen. Vor Nervosität war ihr übel.
Die dunklen Ringe unter ihren Augen konnte auch das leichte Make-up nicht verbergen. Seit Luke vor zehn Tagen aus ihrem Haus gestürmt war, hatte sie keine Nacht mehr durchgeschlafen. Erschauernd erinnerte sie sich an jenen Abend: an ihr abscheuliches Benehmen, an die Verachtung in seinem Blick – und seine Verwirrung.
Dass sie ihn ins Bett gelockt hatte, um ihm etwas zu beweisen, traf allerdings nicht zu. Sie hatte ihn aufrichtig begehrt – anfangs zumindest. Er hatte Gefühle in ihr geweckt, die lange im Verborgenen geschlummert hatten und sich nun mit Macht ans Licht drängten. Aber dann war etwas fürchterlich schiefgegangen. Unvermittelt hatte sie ihn nur noch als Mann betrachtet, der etwas von ihr wollte und es sich rücksichtslos nahm, und war bei diesen Gedanken erstarrt.
Im Gegensatz zu den anderen Männern aus ihrer Vergangenheit hatte er ihre Reaktion bemerkt und war darauf eingegangen. Das wiederum hatte ihr Angst eingeflößt.
Dann hatte er sie tief verletzt, indem er ihr unterstellte, dass sie im Bad Drogen konsumieren würde. Schlimmer noch hatte sie seine abfällige Bemerkung getroffen: Ich bin nicht du. Eigentlich hatte sie geglaubt, er würde mittlerweile mehr in ihr sehen. Er hatte sie eines Besseren belehrt. Offenbar wünschte er sich, dass sie auf der Bühne eine neue Persönlichkeit entwickelte, im täglichen Leben traute er es ihr nicht zu. Wenn sie ihre Folkballade zu Gitarrenbegleitung vortrug, würde es das Geschäft beflügeln, mehr bedeutete es ihm nicht.
Ihm geht es nur darum, vergiss das nie, ermahnte sie sich. Sie musste aufhören, sich mehr von ihm zu erhoffen. Während sie in ihren Auftritten eine Gelegenheit sah, ihre Karrierechancen auszuloten – vielleicht sogar sich selbst –, stellten diese für ihn nicht mehr als eine Werbeaktion dar.
Aurelie straffte die Schultern und warf einen letzten Blick in den Spiegel. Das grüne Sommerkleid wirkte ihrer Meinung nach seriös und lässig zugleich. Ein letztes Mal atmete sie tief durch, dann verließ sie ihre Suite und machte sich auf den Weg zu der Bar im Garten des Hotels, wo sie mit Luke verabredet war.
Draußen angekommen, umfing die tropische Schwüle sie. Es war bereits dunkel, die Blätter der Palmen raschelten in der sanften Abendbrise, aus der Ferne erklangen die Geräusche der geschäftigen Stadt.
Luke erwartete sie an der Bar. Als Aurelie ihn entdeckte, krampfte sich etwas in ihr zusammen. Sein Anzug wirkte leicht zerknittert, an seinem Kinn bemerkte sie einen Bartschatten, und er hatte die Krawatte gelockert. In der Hand hielt er einen halb leeren Whiskyschwenker. Er sah weniger geschäftsmäßig aus als bei ihren bisherigen Begegnungen und dennoch so vertraut – und unglaublich sexy.
Als sie näher trat, setzte er eine ausdruckslose Miene auf und kam ihr höflich entgegen.
„Aurelie.“ Er lächelte, reichte ihr aber weder die Hand, noch berührte er sie anderweitig, was sie zu ihrer Verwunderung als persönliche Zurückweisung empfand.
Vergiss Luke Bryant, ermahnte sie sich, es geht nur um dein Comeback.
„Luke“, begrüßte sie ihn kühl, obwohl ihr vor Nervosität fast der Schweiß ausbrach.
„Was möchtest du trinken?“
„Ein Mineralwasser, bitte.“
Luke bestellte und führte sie dann zu einem abgelegenen Tisch unter einer Palme.
„Wie war der Flug? Gefällt dir deine Suite?“
„Alles bestens.“
„Gut.“
Ein Kellner brachte ihr Getränk, und Aurelie trank dankbar einen Schluck. Sie hatte keine Ahnung, worüber sie mit Luke reden sollte – er wirkte auf sie wie ein Fremder.
„Sämtliche Vorbereitungen für deinen Auftritt sind abgeschlossen“, kam er direkt aufs Geschäft zu sprechen. „Lia, eine meiner Angestellten, wird dich durch das Kaufhaus führen und dir danach helfen, dich auf deinen Auftritt um fünfzehn Uhr vorzubereiten.“
Aurelie empfand das Gespräch als schrecklich gezwungen. Was er tatsächlich empfand, ahnte sie nicht. War er angewidert von ihr – von der Frau, für die er sie hielt? Oder verbarg sich hinter der kühlen Fassade der leidenschaftliche, mitfühlende Mann, der ihr einen Neubeginn zutraute?
„Prima“, meinte sie.
„Gut.“ Er schob sein halb volles Glas beiseite. „Entschuldige mich, ich habe noch viel zu tun. Wir sehen uns vermutlich morgen bei der Eröffnungsfeier.“
Vermutlich? Unvermittelt schnürte sich ihr die Kehle zu.
„Also dann.“ Luke stand auf, und Aurelie tat es ihm gleich.
War das schon alles? fragte sie sich verwundert, als er ohne einen Blick zurück davoneilte. Unvermittelt spürte sie eine große Leere in sich aufsteigen.
Das war keine Meisterleistung, gestand Luke sich ein, als er in seinem Zimmer die Krawatte abstreifte. Er hatte versucht, das Gespräch mit Aurelie knapp und geschäftsmäßig zu halten, dabei aber die ganze Zeit daran gedacht, wie es gewesen war, sie im Arm zu halten, welche Gefühle sie in ihm geweckt hatte.
Wahrscheinlich liegt es an mir, überlegte er. Er hatte seit Langem mit keiner Frau mehr geschlafen, an Sex außerhalb einer festen Beziehung war er nicht interessiert. Wie sein Vater jedem Rock nachzujagen, kam für ihn nicht infrage. Könnte er Aurelie entspannter gegenübertreten, wenn er in jüngerer Zeit einige lockere Affären gehabt hätte?
Die letzte Begegnung mit ihr ging ihm nicht aus dem Sinn. Immer wieder überlegte er, was schiefgegangen war. Hatte Aurelie ihm beweisen wollen, dass er nur gekommen war, um sie zu verführen? Irgendetwas sagte ihm, dass das nicht alles sein konnte.
Er dachte an ihre gefühlvolle Stimme, an ihre zarten Liebkosungen, an ihr Erbeben in seinen Armen. Sie hatte etwas empfunden, ehe sie förmlich erstarrt war.
Künftig gehe ich ihr aus dem Weg, nahm er sich vor. Das war vermutlich für sie beide das Beste. Was zwischen ihnen passiert war, gehörte der Vergangenheit an. Mit dem Treffen in der Bar hatte er ihre Beziehung auf eine rein geschäftliche Ebene gebracht – wenngleich er mit dem Ergebnis nicht ganz zufrieden war. Insgeheim graute ihm vor den kommenden zehn Tagen.
Das Bryant’s Manila, ein modernes Gebilde aus Stahl und Glas, wies keinerlei Ähnlichkeit mit dem gemütlichen historischen Kaufhaus in New York auf. Aurelie stand hinter der provisorischen Bühne und kämpfte gegen die aufsteigende Panik an, als sie die gut eintausend Gäste sah, die sich im Foyer drängten.
Seit dem späten Vormittag befand sie sich hier, hatte sich durch das Haus führen lassen, einen Soundcheck absolviert und sich für ihren Auftritt umgezogen. Die ganze Zeit hatte sie zu verdrängen versucht, was vor ihr lag.
Vor Angst wurde ihr übel. Wenigstens hatte sie diesmal daran gedacht, ihren Blutzuckerspiegel zu überprüfen. Falls sie in Ohnmacht fiel, lag es allein an ihren Nerven.
„Noch dreißig Sekunden.“ Der Tontechniker nickte ihr zu. Nervös betrachtete sie die Gäste.
Viele hielten alte CDs und Poster von ihr in die Höhe, die sie vermutlich nach ihrem Auftritt signieren sollte. Sie freuten sich auf eine ihrer alten Nummern, wollten erleben, wie sie über die Bühne tanzte, sexy und schräg wie üblich. Es würde ihnen einen Schock versetzen, wenn sie in einfachen Jeans auftrat, eine Gitarre in der Hand.
Ich hätte mich niemals darauf einlassen sollen! dachte Aurelie in einem Anflug von Panik. Es würde nicht funktionieren und in einem Fiasko enden – für Bryant’s und für sie.
Hilfe suchend blickte sie sich nach Luke um. Wieso war er nicht an ihrer Seite? Er mochte ihren neuen Song – andererseits durfte sie nach seinem abweisenden Verhalten am Vorabend wohl kaum auf seine Unterstützung bauen.
Ich schaffe es nicht, schoss es ihr durch den Kopf.
„Ihr Auftritt!“
Mit weichen Knien trat Aurelie ins Rampenlicht. Sie war auf den größten Bühnen der Welt aufgetreten, ohne eine Spur von Lampenfieber. Hier spielte sie vor einem vergleichsweise kleinen Publikum. Es hätte ihr eigentlich nichts ausmachen dürfen – das Gegenteil war der Fall.
Bei ihrem Erscheinen ging ein Raunen durch die Menge. Das war nicht die Aurelie, die alle erwartet hatten.
Äußerlich gefasst setzte sie sich auf den Barhocker in der Mitte der Bühne. In diesem Moment entdeckte sie Luke. Er stand am gegenüberliegenden Ende des Foyers. Da dieses nicht allzu groß war, konnte sie seine Miene erkennen.
Er betrachtete sie kalt und unnachgiebig. Als ihre Blicke sich begegneten, presste er die Lippen aufeinander und wandte sich ab. Aurelie erstarrte und fühlte sich schrecklich verletzlich.
„Wir wollen ein Lied, wir wollen Aurelie“, schrie jemand aus dem Publikum. Das gab den Ausschlag. Sie atmete tief durch und begann zu spielen.
Ungeduldig und besorgt zugleich fieberte Luke Aurelies Auftritt entgegen. Den ganzen Tag war er ihr aus dem Weg gegangen, überzeugt davon, dass es das Beste für sie beide wäre. Während er jedoch zwischen den übrigen Zuschauern auf sie wartete, überfielen ihn Gewissensbisse.
Problemen aus dem Weg zu gehen, war nicht seine Art. Es bedeutete, jemanden im Stich zu lassen – etwas, das er nie wieder hatte tun wollen. Sein Leben lang hatte er hart dafür gearbeitet, die Schatten der Vergangenheit zu vertreiben. Er wollte sich Vertrauen und Respekt verdienen, auch von Aurelie.
Natürlich war ihm bewusst, dass sie sich vor diesem Auftritt fürchtete. Er hätte zu ihr gehen und sie ermutigen sollen. Das hätte sie allerdings einander nähergebracht und vielleicht zu mehr geführt …
Nein, so ist es besser, dachte er. Sie brauchte ihn nicht.
Als sie auf die Bühne trat, entging ihm die überraschte Reaktion des Publikums nicht. In Jeans und zarter Tunika, das Haar offen über die Schultern fallend, sah Aurelie jung und wunderschön aus. Dann begegneten sich ihre Blicke, und unwillkürlich überkam ihn heftiges Verlangen. Rasch sah er beiseite.
Ein Ruf ertönte, und sie begann zu spielen. Es dauerte einen Moment, bis Luke begriff, dass sie nicht den Song anstimmte, den er in ihrem Haus in Vermont gehört hatte. Sie sang einen ihrer alten Hits, dieselbe Popnummer wie in New York, diesmal allerdings nur mit Gitarrenbegleitung. Mitten im Lied blickte sie auf und bedachte das Publikum mit einem frechen Lächeln, typisch Aurelie.
Alle jubelten, er aber war zutiefst frustriert und enttäuscht. Wieso hielt sie sich nicht an ihre Absprache? Aus Angst? Oder rächte sie sich auf diese Weise an ihm?
Als sie sich verneigte, mischten sich zahlreiche Pfiffe in den Applaus, wie immer nach ihren Auftritten. Winkend verließ sie die Bühne.
Die Würdenträger ignorierend, die auf eine persönliche Führung durch das Kaufhaus warteten, eilte Luke ihr in ihre provisorische Garderobe nach. Aurelie stellte gerade ihre Gitarre beiseite. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt. Der Anblick ihres zarten Nackens weckte erneut sein Verlangen, das durch seinen Zorn noch geschürt wurde.
„Du hast nicht dein Lied gesungen.“
Mit ausdrucksloser Miene wandte sie sich zu ihm um. „Oh doch.“
„Du weißt, was ich meine.“
„Es hätte nicht funktioniert. Ich habe dich gewarnt.“
„Wieso hast du es nicht versucht?“
„Ich habe gespürt, dass es nicht geht. Eigentlich solltest du mir dankbar sein. Ich habe dich gerettet.“
„Dich selbst, meinst du. Warum hast du gekniffen? Ich habe dich nicht gebucht, damit du wieder Aurelie gibst.“
Skeptisch betrachtete Aurelie ihn. „Wozu dann?“, fragte sie in eindeutig zweideutigem Tonfall
„Lass das. Hier geht es nicht um Sex.“
„Es geht immer nur darum.“
„Für dich vielleicht.“
„Und was ist mit einem gewissen Luke Bryant, der mit einem geschäftlichen Vorschlag zu mir nach Hause kam und zwei Stunden später mit mir im Bett lag?“
Zornig ballte Luke die Hände zu Fäusten. „Du hast mich verführt.“
„Das leugne ich nicht.“
„Wir beide müssen uns dringend unterhalten. Vorher werde ich mich allerdings um meine Gäste kümmern.“
„Dein Auftritt, deine Rolle?“ Sie lächelte müde, und er erwiderte ihr Lächeln.
„Irgendwie schon.“ Einen Moment lang sahen sie einander in stillschweigendem Einverständnis an, dann wandte Aurelie sich ab.
Unvermittelt spürte Luke Frust in sich aufsteigen. „Wir sprechen uns später.“ Seufzend verließ er den Raum.
Nachdem die Tür hinter Luke ins Schloss gefallen war, atmete Aurelie vernehmlich aus. Am ganzen Körper bebend, schlug sie die Hände vors Gesicht. Wieso habe ich das getan? fragte sie sich. Sie hatte sich wie Aurelie verhalten, dem Publikum, aber auch ihm gegenüber.
Das war ihre Art, auf Zurückweisungen zu reagieren, wie ihr erst in diesem Moment bewusst wurde. Er traute ihr keine Veränderung zu, also versuchte sie es erst gar nicht. Auf diese Weise behielt sie die Kontrolle.
Aber es funktionierte nicht. Sie fühlte sich nicht als Herrin der Lage, sondern dem Abgrund nahe, im Begriff zu fallen, ohne zu wissen, was sie unten erwartete.
Wieso soll ich mich überhaupt neu erfinden? überlegte sie. Das Publikum würde sie nie akzeptieren – genau wie Luke.
Traurig griff sie nach ihrer Kosmetiktasche und frischte ihr Make-up auf. Wie geplant würde sie sich unter die Menge mischen, lächeln und plaudern und für den Rest des Tages ihre Aufgabe erfüllen. Anschließend wollte sie Luke mitteilen, dass sie nach Hause fuhr.
Vier Stunden später war die Eröffnungsfeier vorüber und Aurelie ins Hotel zurückgekehrt, erschöpft und bedrückt. Den ganzen Tag hatte sie Luke gemieden, war sich jedoch seiner Anwesenheit bewusst gewesen und hatte ihn sogar beobachtet. Ihr war aufgefallen, dass er sehr steif und ernst auftrat, aber dennoch authentisch wirkte, etwas, das sie nicht wagte.
Inzwischen hatte sie ihre Entscheidung, nach Vermont zu fahren, überdacht und beschlossen, sich nicht feige davonzuschleichen. Egal, was Luke oder das Publikum von ihr hielten, sie wollte ihren Auftrag ausführen. Das war sie sich selbst schuldig.
Allerdings würde es ihr alles andere als leichtfallen, die Gleichgültige zu mimen, wo sie zutiefst betroffen war.
Erschöpft streifte sie die hochhackigen Pumps und ihre restlichen Sachen ab und ging unter die Dusche. Als sie Luke das letzte Mal gesehen hatte, war er in offensichtlich wichtige Gespräche verwickelt gewesen. Sicher hatte er vergessen, dass er sie sprechen wollte.
Fünfzehn Minuten später, sie hatte gerade T-Shirt und Jogginghose angezogen, klopfte es an der Tür. Nervös fuhr sie sich durch das noch feuchte Haar und blickte durch den Türspion. Draußen stand Luke.
Sie öffnete, und etwas in ihr krampfte sich zusammen, als sie sah, wie erschöpft er wirkte. „Das war wohl ein harter Tag?“
„Und wie. Darf ich reinkommen?“
Erstaunt und gerührt registrierte Aurelie, dass er nie eintrat, ohne vorher um Erlaubnis zu bitten. Sie machte einen Schritt beiseite, und er ging an ihr vorbei ins Wohnzimmer, wobei er einen schnellen Blick durch die geöffnete Tür ins angrenzende Schlafzimmer warf. Gleich darauf wandte er sich ihr wieder zu. „Wir müssen miteinander sprechen.“
Resigniert zuckte sie die Schultern und setzte sich aufs Sofa. „Wie du meinst.“
Luke atmete hörbar aus. „Was in Vermont zwischen uns geschehen ist, hätte nicht passieren dürfen. Es tut mir leid.“
Sein ernster Blick ließ sie sich in Spott flüchten. „Uns, Bryant?“
„Ich heiße Luke. Nachdem wir beinah miteinander geschlafen hätten, solltest du mich wenigstens beim Vornamen nennen.“
„Beinah. Das gibt dir noch lange nicht das Recht …“
„Es geht nicht um Recht, sondern um ein Mindestmaß an Höflichkeit. Ich bin ehrlich zu dir …“
„Weil du nicht anders kannst.“
„Hör endlich auf mit den schnippischen Antworten, der vorgetäuschten Gleichgültigkeit und dem Zynismus“, fuhr er sie scharf an. „Das bist nicht wirklich du.“
Vor Überraschung verschlug es ihr die Sprache. Er durchschaute die Maske der Popprinzessin, die ihr als Schutzschild diente. Forschend betrachtete er sie. Aurelie schluckte und sah zu Boden. „Was willst du von mir?“, fragte sie leise.
„Ich würde zu gern wissen, was du von mir willst.“
Zum zweiten Mal machte Luke sie sprachlos. „Nichts“, brachte sie hervor, obwohl ihr Mund plötzlich wie ausgetrocknet war.
„Wieso hast du versucht, mich zu verführen?“
„Wieso nicht?“, konterte sie.
„Offensichtlich nicht aus Spaß am Sex.“
„Woher willst du das wissen?“
„Fast jede Frau äußert ihr Vergnügen daran durch kleine Geräusche, Berührungen oder Küsse und liegt keinesfalls stocksteif da.“
Aurelie errötete. „Vielleicht dachte ich, es würde mir gefallen, aber du hast mich enttäuscht.“
„Das stimmt sicher“, gab Luke gelassen zu. „Ich war zu ungeduldig – weil ich lange keinen Sex mehr hatte.“
Sie schluckte. Dasselbe traf auf sie zu. „Wieso reden wir überhaupt darüber?“
„Wenn wir die nächsten neun Tage zusammenarbeiten wollen, muss ich …“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, mir geht es nicht um unsere geschäftliche Beziehung. Ich kann nicht aufhören, über dich und das, was geschehen ist, nachzudenken.“
Darauf fiel ihr keine schlagfertige Erwiderung ein. Den Tränen nahe, rang sie sich ein Lächeln ab. „Du bist unglaublich ehrlich.“
„Sei du es auch. Wolltest du mit mir schlafen, um mir etwas zu beweisen?“
„Nein“, hauchte sie. „Ich habe dich wirklich begehrt und fürchtete, du könntest gehen. Der Abend mit dir war schön.“ Nervös betrachtete sie ihre im Schoß zu Fäusten geballten Hände.
„Was ist dann passiert?“, hakte Luke nach.
Aurelie zuckte die Schultern, den Blick immer noch gesenkt. „An Sex hatte ich noch nie Freude, es lag also nicht an dir.“ Als Luke schwieg, sah sie auf. Er betrachtete sie nachdenklich, die Stirn gerunzelt, als würde er über ein Problem nachdenken.
„Noch nie?“, fragte er schließlich, und es klang so traurig, dass sie blinzeln musste.
„Glaub bloß nicht, dass ich missbraucht oder vergewaltigt wurde“, stellte sie rasch klar.
„Irgendetwas ist dir zugestoßen.“
Das traf tatsächlich zu. Man hatte ihr ihre Unschuld geraubt, aber sie hatte es zugelassen. Sie hatte nie gelernt, Sex als Vergnügen zu betrachten, sondern als Werkzeug, manchmal sogar als Waffe, mit deren Hilfe sie ihre Wünsche durchsetzen konnte.
„Es tut nichts zur Sache und geht dich auch nichts an“, fauchte sie. „Uns verbindet allein das Geschäft.“
„Ich weiß. Aurelie …“
Sie wünschte, Luke würde sie nicht beim Namen nennen. Wenn er es tat, voller Zuneigung und Wärme, fühlte sie sich wie eine ganz normale junge Frau, die sich nach Liebe sehnte.
„Es tut mir so leid“, fuhr er fort.
Entsetzt sah sie ihn an. War das die Kündigung? Das Konzert war für ihn nicht nach Wunsch gelaufen, also schickte er sie nach Hause?
Vor wenigen Stunden hätte sie das begrüßt, jetzt füllten ihre Augen sich mit Tränen. Das bedeutete einen weiteren Fehlschlag, den sie einstecken musste.
„Wenigstens haben wir es versucht. Dass es schwierig wird, wussten wir im Voraus.“ Aurelie zuckte die Schultern, als würde es ihr nichts ausmachen.
Luke betrachtete sie verwirrt. „Wovon, glaubst du, rede ich?“
„Von meinem Auftritt. Das Publikum war nicht begeistert …“
„Das wäre es gewesen, hättest du, wie vereinbart, dein neues Lied gesungen. Du hast nicht gewagt, das Risiko einzugehen. Daran bin ich mit schuld. Ich hätte vor dem Auftritt mit dir reden, dich ermutigen müssen. Stattdessen bin ich auf Distanz gegangen, weil …“ Er verstummte für einen Moment. „Es erschien mir einfacher. Ich habe dich im Stich gelassen, das bedaure ich sehr.“
Aurelie schwieg. Das Gespräch ging ihr unter die Haut. Ihr fehlten die Worte.
„Aber ich glaube an dich, deswegen finden auch die nächsten Konzerte statt.“
„Wirklich?“ Ein winziger Funke Hoffnung keimte in ihr auf.
„Ja. Lass uns später darüber reden. Zunächst geht es um uns.“
„Um uns?“, hauchte sie.
„Ich fühle mich immer noch zu dir hingezogen.“
In ihrem Herzen regte sich etwas, ob Furcht oder Freude, vermochte sie nicht zu sagen. „Denkst du an Sex?“
Gedankenverloren blickte Luke aus dem Fenster. Tief unter ihnen funkelten die Lichter der Stadt wie Sterne am dunklen Firmament. „Möchtest du wissen, mit wie vielen Frauen ich im Lauf meines Lebens geschlafen habe?“
„Lieber nicht.“
„Es waren drei.“ Er lächelte verlegen. „Zählt man unseren missglückten Versuch dazu, komme ich auf vier.“
Aurelie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.
„Ich hatte drei feste Beziehungen, jeweils über mehrere Monate oder sogar Jahre. Nur mit diesen Frauen habe ich geschlafen.“
„Dann bist du so etwas wie ein Heiliger.“ Auf einmal fühlte sie sich unglaublich erschöpft. Zu viele schlimme Erfahrungen lagen hinter ihr.
„Ich nehme Sex nur ernst.“
„Solange es nicht um Sex mit mir geht.“
Luke betrachtete sie schweigend. Aurelie begann sich allmählich zu fragen, ob er ihre Antwort überhaupt gehört hatte. Sie wollte etwas Witziges sagen, um ihm zu beweisen, dass es ihr nichts ausmachte, doch ihr fiel nichts ein. Es war ohnehin zu spät, er wusste zu viel und verstand sie zu gut.
„Es hat mir durchaus etwas bedeutet“, gestand er schließlich so leise, dass sie es kaum hörte. „Als ich dich auf dem Boden in der Garderobe liegend gefunden habe … Du hast die Augen aufgeschlagen und … ich habe etwas empfunden.“
„Wut?“
„Nein. Ich weiß selbst nicht, was es war … ist. Du bedeutest mir etwas. Die Frau, die sich hinter dem Popsternchen verbirgt, die dieses Lied geschrieben hat.“
Betroffen schluckte sie. „Du hast das Lied erst einmal gehört …“
„Ich habe es in deinen Augen gesehen.“
„Für einen Romantiker hätte ich dich nie gehalten.“
„Ich mich auch nicht.“
Ihr Herz schlug so heftig, dass es beinah schmerzte. Ihr war schwindlig, und sie fürchtete sich entsetzlich, weil sie nicht verstand, was Luke ihr mitzuteilen versuchte. Nervös befeuchtete sie sich die Lippen. „Was … was willst du mir eigentlich damit sagen?“
„Das weiß ich selbst nicht.“ Er fuhr sich durchs Haar. „Mein Verstand sagt mir, wir sollten es bei einer rein geschäftlichen Beziehung belassen, die kommenden neun Tage hinter uns bringen und uns danach nie wiedersehen.“
„Das wäre vermutlich am klügsten.“
„Bestimmt. Dummerweise habe ich kein Interesse daran.“
„Was möchtest du denn?“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Seinem Mienenspiel konnte Aurelie entnehmen, dass er einen inneren Kampf mit sich ausfocht. Er wollte sie nicht begehren, kam aber nicht dagegen an.
„Ich möchte einen Neubeginn versuchen“, meinte er nach einer Weile. „Lass uns vergessen, was geschehen ist, und einander neu kennenlernen.“
„Bist du dir da sicher?“, fragte sie ausdruckslos.
„Absolut nicht. Ich weiß nicht einmal, weshalb ich es dir vorschlage.“
„Vielleicht solltest du nicht ganz so ehrlich sein.“
„Vermutlich. Jedenfalls wünsche ich mir eine zweite Chance.“
Eine zweite Chance? Privat, nicht beruflich? Das ist viel zu gefährlich, schoss es Aurelie durch den Kopf. Und unglaublich verlockend. Unwillkürlich schloss sie die Augen. Widersprüchliche Gefühle drohten sie zu überwältigen.
„Was hältst du davon?“, hakte er leise nach.
Erschrocken blickte sie auf. Unter seinen Augen lagen Schatten, er musste sich dringend rasieren – und sah überwältigend sexy aus.
„Wieso möchtest du mich kennenlernen?“
Seine Mundwinkel zuckten. „Kannst du dir das nicht denken?“
„Du hast keine Ahnung, wer ich bin.“
„Ich weiß genug, um mehr über dich in Erfahrung bringen zu wollen. Glaub mir, ich kann zwischen Theater und Wirklichkeit unterscheiden.“
„Wie kannst du das, wenn ich es nicht einmal selbst schaffe?“
„Lass mich dir die Augen öffnen.“
„Du willst mir helfen? Mich retten?“
Luke schwieg lange. „Nein“, brachte er schließlich hervor. „Retten kann ich niemanden. Immerhin weiß ich, dass du den Versuch wert bist.“
„Und wie geht es jetzt weiter?“, fragte Aurelie zaghaft.
„Gibst du uns eine zweite Chance?“
Unter seinem forschenden Blick fiel es ihr schwer zu antworten. Zu viel ging ihr durch den Kopf. Ich fürchte mich davor. Was ist, wenn du mich hasst, sobald du mehr über mich erfährst? Was ist, wenn es nicht funktioniert, wenn du mich verletzt und ich mich hinterher leerer fühle als je zuvor?
„Aurelie“, sagte Luke. Es war keine Frage, sondern einen Feststellung: Ich weiß, wer du bist.
Sie glaubte ihm nicht, dennoch rang sie sich zu einer Antwort durch. „Einverstanden.“