7. KAPITEL

„Das ist alle Mühe wert, oder?“

Für einen Moment löste Aurelie sich von dem überwältigenden Anblick und wandte sich Luke zu. „Meine Sandalen sind ruiniert.“

„Leder trocknet.“

„Es ist atemberaubend“, gab sie zu, und er lächelte zufrieden.

„Lass uns einen Platz suchen, an dem wir picknicken können.“ Hand in Hand gingen sie weiter, bis sie zwischen den schroffen Felsen am Rand des Wasserfalls eine ebene, sonnige Stelle fanden.

Während Luke das Essen auspackte, machte Aurelie es sich gemütlich und genoss das prächtige Schauspiel, das die Fälle boten. Kristallklares Wasser ergoss sich in einem dichten Vorhang aus glitzernden Tropfen über farnbedeckte Felsen in ein ruhiges türkisblaues Becken gut zehn Meter tiefer.

Luke bot ihr ein Stück Longkong an. „Möchtest du?“

„Kann ich es wagen?“

„Diese ist wirklich süß.“ Er steckte es ihr in den Mund, dabei streiften seine Finger ihre Lippen. Die zarte Berührung sandte Schauer über ihren Rücken, und tief in ihr regte sich Verlangen.

„Lecker“, brachte Aurelie mühsam hervor. Nervös leckte sie sich den Fruchtsaft von den Lippen. Ihr Herz pochte wie wild.

Rasch versuchte sie, sich abzulenken. „Im Grunde weiß ich gar nichts von dir“, sagte sie.

„Was soll ich dir erzählen?“, fragte Luke, während er Essen auf zwei Pappteller verteilte.

„Wo bist du aufgewachsen?“

„In New York und auf Long Island.“

„In den Hamptons?“ Sie zog die Knie an die Brust und schlang die Arme darum. „Dann hast du bestimmt zu den privilegierten reichen Kindern gehört. Was ist mit den beiden Brüdern, die du erwähnt hast? Steht ihr euch nahe?“

Plötzlich wirkte er angespannt. „Nein.“

Aurelie, die ihn besser verstehen wollte, je vertrauter sie miteinander wurden, hakte nach: „Wieso nicht?“

„Aaron ist ein Kontrollfreak, und Chase hat sich schon vor langer Zeit von uns gelöst.“

„Was bedeutet das genau?“

Luke seufzte und lehnte sich zurück, den Arm auf dem Felsen hinter ihm. „Mein großer Bruder Aaron kehrt mit Leidenschaft den Chef heraus. Unser Vater hat ihn dazu ermuntert und ihn auch als Geschäftsführer von Bryant Enterprises eingesetzt. Chase, der Jüngste von uns, ist seit jeher ein Rebell. Ständig steckte er in Schwierigkeiten, wurde aus dem Internat geworfen und dergleichen. Vater hat ihn enterbt. Das hat Chase nicht weiter gestört. Inzwischen verdient er als Architekt ein Vermögen. Leider lässt er nur selten von sich hören.“

„Wie schade“, meinte Aurelie.

„Wenn ich ihn sehe, macht er jedenfalls immer einen glücklichen Eindruck.“

„Vielleicht ist das seine Maske? Und was ist mit dir?“, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu. „Wie passt du ins Bild?“

Luke zögerte. „Ich bin das klassische mittlere Kind.“

„Was heißt das?“

„Ich war gefangen zwischen zwei starken Persönlichkeiten. Im Lauf der Zeit wurde es besser.“

„Glücklich war deine Kindheit demnach nicht.“

„Nicht besonders.“ Er lächelte müde. „Ich sehne mich nicht danach zurück. Damals war ich schüchtern, ziemlich unbeholfen und habe sogar gestottert“, erzählte er beiläufig. Dennoch war ihr klar, dass die Erinnerung ihn schmerzte. „Mein Vater hatte nie Zeit für mich.“

„Dann ähnelt deine Kindheit meiner.“

Überrascht sah Luke sie an. „Inwiefern?“

Von Mitgefühl für ihn und eigenen schmerzlichen Erinnerungen erfüllt, schluckte Aurelie. „Meine Mutter hat sich auch kaum um mich gekümmert, meinen Vater kenne ich nicht.“

„Bei wem bist du aufgewachsen? Bei deiner Großmutter?“

„Leider habe ich nur einen einzigen Sommer bei ihr verbracht, als ich elf Jahre alt war. Es war die schönste Zeit meines Lebens. Nein, ich habe überall und nirgends gelebt. Meine Mutter ist nie lange am selben Ort geblieben. Sie hat sich immer einen Job als Kellnerin oder so besorgt, mich an der nächsten Schule angemeldet und einen unmöglichen Freund gefunden. Sobald er angefangen hat, sie zu bestehlen oder zu schlagen, sind wir weiter­gezogen.“

„Wie schrecklich.“

„Ich bin darüber hinweg.“

„Dann war Julia Schmidt deine Mutter. Du hast dein Haus von ihr gekauft, oder?“

„Meine Großmutter hat es ihr hinterlassen. Sie hoffte, Mom würde sich dort niederlassen, aber das wollte sie nicht. Ich habe ihr das Haus zu einem übertrieben hohen Preis abgekauft. Damals, mit siebzehn, war ich schon berühmt und konnte es mir leisten.“

„Es ist dein Zuhause. Bestimmt hat dich der Tod deiner Großmutter hart getroffen.“

Sein Verständnis verblüffte sie, und es tat ihr überraschend gut. „Sie fehlt mir immer noch.“

„Und deine Mutter?“

Aurelie zuckte die Schultern. „Ich habe keine Ahnung, wo sie gerade steckt. Früher ist sie zu mir gekommen, wenn sie Geld brauchte. Seit ich nicht mehr im Rampenlicht stehe, habe ich sie nicht mehr gesehen.“

„Dann bist du ganz allein.“

Gerade in diesem Moment fühlte sie sich kein bisschen einsam. Am liebsten hätte sie es Luke gesagt, hielt sich aber zurück, aus Furcht vor einer neuerlichen Zurückweisung.

„Was ist mit deinen Eltern?“, erkundigte sie sich.

„Sie sind beide tot.“ Seine Miene war undurchdringlich.

„Das tut mir leid. Wie sind sie ums Leben gekommen?“

„Mein Vater starb an einem Herzinfarkt, als ich gerade das College hinter mir hatte. Mutter bekam Brustkrebs, als ich dreizehn war“, setzte er nach einer kaum merklichen Pause hinzu.

„Wie schrecklich!“

Er nickte nur. Aurelie spürte, dass er etwas zurückhielt, beschloss aber, ihn deswegen nicht zu bedrängen.

„Dann stehst du auch allein da“, meinte sie ruhig.

Luke griff nach ihrer Hand. „Aber nicht in diesem Moment.“ Er stand auf und zog sie hoch. „Lass uns schwimmen.“

Skeptisch betrachtete sie das Becken am Fuß des Wasserfalls. „Was ist mit dem Riesenbarrakuda?“

„Du meinst den mittelgroßen? Der ist ganz lieb.“

„Ich habe keine Badesachen dabei.“

„Ich auch nicht. Wir improvisieren – es sei denn, du hast keine Lust.“

Ist das ein neuer Vertrauenstest? fragte sie sich. Sie war es gewohnt, dass Männer sie als Trophäe betrachteten, als Objekt, und ihr vorschrieben, was sie zu tun hatte. Nicht so Luke. Umso lieber gab sie nach. „Gut, gehen wir schwimmen.“

Über einen schmalen Pfad kletterten sie hinab zum Fuß des Wasserfalls. Auch von unten wirkte er eindrucksvoll, wie er sich schäumend über die Felsen in das erstaunlich ruhige Becken zu seinen Füßen hinabstürzte.

Kaum dort angekommen, zog Luke sich das Hemd über den Kopf. Sein Anblick verschlug Aurelie die Sprache. Wie gebannt bewunderte sie seine breiten Schultern, die athletische Brust, den Waschbrettbauch und die schmalen Hüften. Erst als er ihr lächelnd zuzwinkerte und die Hose fallen ließ, wandte sie errötend den Blick ab. Sie wagte gar nicht, daran zu denken, was sich unter den Boxershorts verbarg …

„Wenn du mich weiter so ansiehst, gerate ich noch in eine peinliche Situation“, scherzte er rau.

Anfangs hatte sie sein Verlangen immer prompt als Waffe gegen ihn eingesetzt. Inzwischen machte es sie glücklich. „Das fände ich nicht weiter schlimm.“

„Jetzt bist du dran“, lenkte er vom Thema ab und deutete auf ihr rosafarbenes Sommerkleid.

Luke hatte sie bereits in aufreizenden Popstar-Dessous und sogar nackt gesehen, doch als Aurelie jetzt ihr Kleid abstreifte, empfand sie diesen Moment als wahrhaftiger.

„Hätte ich geahnt, was du vorhast, hätte ich heute Morgen andere Unterwäsche angezogen“, entschuldigte sie sich für den langweiligen weißen Baumwoll-BH mit passendem Slip. Er schien sich daran nicht zu stören. Unter seinem glühenden Blick fühlte sie sich nackt, und ihr Körper reagierte mit wachsendem Ver­langen.

„Wer zuerst drinnen ist …“, forderte Luke sie heraus und verschwand mit einem gekonnten Kopfsprung im Wasser. Gleich darauf tauchte er wieder auf. Tropfen liefen ihm übers Gesicht, und er schien sich sehr wohlzufühlen. „… hat gewonnen“, beendete er den Satz. „Was ist, kneifst du?“, fragte er, als sie keine Anstalten machte, sich zu ihm zu gesellen.

„Ich bin nur vorsichtig.“ In den vergangenen Jahren war sie bestenfalls in Hotelpools geschwommen.

„Hast du in dem Sommer bei deiner Oma nie in einem Teich gebadet? Etwas anderes ist das hier auch nicht – nur schöner. Der Boden besteht aus Sand, nicht aus Schlick.“

Woher weißt du so viel? wunderte sich Aurelie, die sich an den trüben See in Vermont erinnerte, in dem sie viele Stunden verbracht hatte.

„Komm schon. Du darfst auch auf meine Schultern klettern, wenn sich der mittelgroße Barrakuda zeigt.“

Wieder forderte er Vertrauen im Kleinen, was zur Folge hatte, dass sie ihm auch in großen Dingen vertraute. Sie atmete tief ein, nahm Anlauf und sprang kopfüber in das Becken. Eine Weile verharrte sie unter der Oberfläche und genoss die Stille – bis Luke sie packte und nach oben zog.

„Was ist …?“

„Du hast mir eine Höllenangst eingejagt“, schimpfte er, aber in seinen Augen funkelte es verräterisch. „Ich dachte, einer der Barrakudas hätte dich erwischt.“

Aurelie lachte, wurde allerdings gleich wieder ernst, als sie merkte, wie er sie ansah: voller Verlangen. Immer noch umfasste er ihre Schultern. Er war ihr so nahe, dass sie die Wassertropfen auf seiner Haut sah, seinen verlockenden Mund …

Unvermittelt ließ er sie los und schwamm davon, auf den Wasserfall zu. „Das musst du sehen“, rief er ihr über die Schultern zu.

Aurelie blieb enttäuscht zurück. Wolltest du ihn etwa küssen? fragte sie sich und beantwortete sich die Frage gleich selbst mit einem überraschend eindeutigen Ja. Staunend schüttelte sie den Kopf und schwamm ihm nach.

„Hinter den Fällen befindet sich eine Höhle“, verriet er ihr. „Tauch einfach darunter hindurch.“

Er verschwand unter Wasser, und sie folgte ihm. Eine Sekunde später fand sie sich unter einem kleinen, von Farn überwucherten Überhang wieder. Ein glitzernder Wasservorhang trennte sie von der Außenwelt. Luke schwang sich auf einen flachen Felsvorsprung und half ihr hinauf.

Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander, entspannt und glücklich, soweit es Aurelie betraf. Nie zuvor hatte sie sich einem anderen Menschen so nahe gefühlt. Die Empfindung war so intensiv, dass sie es ihm zu sagen beschloss. Sie sah ihn an. „Es ist wunderbar hier. Der ganze Tag war herrlich.“

Flüchtig strich Luke ihr über die Wange. „Das finde ich auch. Er blickte sie zärtlich an, sein Mund war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt …

„Luke …“ Soll ich ihn bitten, mich zu küssen? schoss es Aurelie durch den Kopf. Doch ehe sie fortfahren konnte, ließ Luke sich zurück ins Wasser gleiten und tauchte unter dem Wasserfall hindurch.

Seufzend folgte sie ihm.

Eine Weile planschten sie noch im seichten Bereich des Beckens, bespritzten sich gegenseitig mit Wasser, neckten sich und lachten. Schließlich zogen sie sich zum Trocknen auf die von der Sonne aufgeheizten Felsen zurück.

Aurelie stützte sich auf die Ellbogen, die Beine ausgestreckt. Obwohl sie nur Unterwäsche trug, fühlte sich unglaublich wohl. Sie war sie selbst, schon den ganzen Tag lang. Luke hatte ihr geholfen, herauszufinden, wer sich hinter dem Popstar Aurelie verbarg.

„Wie hat man dich damals eigentlich entdeckt?“, erkundigte er sich nach einer Weile.

„Bei einem Karaoke-Abend in einer Bar in Kansas. Mom und ich haben zusammen gesungen.“

„Aha“, sagte er bedeutungsvoll

„Was meinst du damit?“

„Deine Mutter ist nicht berühmt?“

„Nein …“

„Ich wette, es hat ihr nicht gefallen, dass ihre Tochter … Wie alt warst du damals?“

„Fünfzehn. Es war einen Monat vor meinem sechzehnten Geburtstag.“

„Jung und wunderschön und kurz davor, ein Star zu werden. All das war deine Mutter nicht.“

Seltsam. Auf die Idee, dass ihre Mutter eifersüchtig gewesen sein könnte, war sie noch nie gekommen. Im Nachhinein erinnerte Aurelie sich, wie still ihre Mutter an jenem Abend gewesen war. Natürlich hatte Pete fast ununterbrochen geredet und versprochen, sie zum Star zu machen. Sie schluckte. An jenem Abend hatte ihre persönliche Katastrophe ihren Anfang genommen.

„Ich wollte keine schlimmen Erinnerungen wecken“, entschuldigte sich Luke.

Abwehrend schüttelte Aurelie den Kopf. „In mancher Hinsicht waren es die glücklichsten Jahre meines Lebens. Aber wenn ich geahnt hätte …“ Es fiel ihr schwer, offen darüber zu sprechen. „Damals wusste ich nicht, dass ich meine Seele verkaufe. Ich habe sie fortgegeben, ohne zu ahnen, was mir verloren geht.“

Er runzelte die Stirn. „Das bringt der Ruhm mit sich.“

„Nein. Es war …“ Sie hielt inne, weil sie ihm nicht mehr offenbaren wollte – konnte. „Es war schrecklich“, fügte sie leise hinzu.

„Never give your heart away“, zitierte er aus ihrem neuen Song. „Ist das passiert? Hat ein Mann dir das Herz gebrochen?“

Sie nickte.

„Du warst drei Jahre mit ihm zusammen, eine lange Zeit. Kein Wunder, dass es wehgetan hat, als es vorüber war.“

„Eine Ewigkeit“, stimmte sie ihm nach kurzem Nachdenken zu und lachte bitter. „Aber mein Herz ist nicht gebrochen, als es vorüber war, sondern als die Beziehung begann.“