9. KAPITEL

Luke klappte seinen Laptop auf und blickte nachdenklich auf die Tabelle, die sich auf dem Bildschirm öffnete. Arbeit erschien ihm als die beste Medizin gegen sexuellen Frust. Seufzend fuhr er sich durchs Haar, löste seine Krawatte und legte los. Fünf Minuten später klopfte es an der Tür.

Wer kann das sein? überlegte er. Seine Angestellten oder das Hotelpersonal würden ihn per SMS oder Telefon kontaktieren. Als es erneut klopfte, zaghaft diesmal, wusste er die Antwort. Rasch ging er zur Tür und öffnete.

„Hallo, Aurelie.“

„Darf ich reinkommen?“

Sich seiner Schwäche Aurelie gegenüber nur allzu bewusst, zögerte er, trat dann aber beiseite und ließ sie ein. „Brauchst du etwas?“, fragte er steif, während er die Tür hinter ihr schloss.

„Ja, dich.“ Sie sah ihn aus großen Augen an, ihr Mund war leicht geöffnet.

Heißes Begehren durchzuckte Luke. Dagegen ankämpfend, ballte er die Hände zu Fäusten. „Das halte ich für keine gute Idee.“

„Komisch, das hast du schon mal gesagt.“

„Hatte ich etwa nicht recht?“ Als sie betroffen den Blick abwandte, fügte er hinzu: „Lass uns nichts übereilen, dazu ist das, was zwischen uns ist, viel zu wichtig.“

„Vielleicht ist es zu bedeutsam, um es hinauszuzögern?“ Sie kam einen Schritt näher.

„Ich fürchte, du bist noch nicht bereit.“

„Glaubst du nicht, ich kann das besser beurteilen?“

„Ja, aber …“ Wieso sträube ich mich eigentlich? fragte Luke sich, bis ihm einfiel, wie Aurelie an jenem Abend förmlich unter ihm erstarrt war. Er hatte sich gefühlt wie ein Vergewaltiger. Seufzend fuhr er sich durchs Haar und sank aufs Sofa. „Setz dich.“

Sie wählte einen Platz ihm gegenüber. Nichts an ihr erinnerte mehr an die kalte, zynische Popprinzessin mit dem zweideutigen Lächeln, die sie bei ihrer ersten Begegnung gewesen war. Sie hatte sich verändert, wirkte authentisch, war schön und verletzlich.

Ich darf ihr nicht wehtun oder sie im Stich lassen, schoss es ihm durch den Kopf.

Nie wieder wollte er versagen. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte er hilflos mit den Fäusten auf die verschlossene Tür eingedroschen und seine Mutter immer wieder angefleht, ihn hineinzulassen. Noch heute klang ihm der Vorwurf seines Vaters überdeutlich im Ohr: „Es ist deine Schuld.“

Rasch verdrängte Luke die schreckliche Erinnerung, aber sie hatte ihm seine Verantwortung für Aurelie bewusst gemacht – und seine eigene Schwäche.

„Ich bin längst keine Jungfrau mehr, auch wenn du so tust, als ob“, sagte Aurelie, offenbar um einen leichten Ton bemüht. Es gelang ihr nicht ganz.

„Wenn du nie Vergnügen an Sex hattest, bist du es in gewisser Weise doch …“

„Eine Spaß-Jungfrau?“

„Eher eine emotionale.“

Sie stöhnte. „Das sind bloß Worte.“

„Welche sexuellen Erfahrungen du bisher gemacht hast, weiß ich nicht, aber zwischen uns soll es anders sein.“

Nun errötete sie. „Das wünsche ich mir auch.“

„Was stellst du dir denn vor?“

„Vielleicht erzählst du mir erst, wie es bisher für dich war.“

Bestürzt wandte Luke den Blick ab. Derlei Gespräche war er nicht gewohnt. Zwischen Aufrichtigkeit und Seelenstriptease lag ein gewaltiger Unterschied. „Für mich ist Sex ein Ausdruck gegenseitiger Zuneigung … von Liebe.“

Eine Weile sahen sie einander schweigend an, Spannung lag in der Luft. „Hast du deine Exfreundinnen geliebt?“, fragte Aurelie dann.

„Ich dachte es zumindest. Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher.“ Nervös fuhr Luke sich durchs Haar. „So wie jetzt hat es sich nie angefühlt.“

„Wir kennen uns erst seit Kurzem, und ich behaupte nicht …“, brachte sie mühsam hervor. Sie räusperte sich. „Ich will dich zu nichts zwingen.“

Seine Mundwinkel zuckten. „Wirklich nicht?“

„Körperlich vielleicht, aber nicht emotional.“

Bedächtig schüttelte er den Kopf. „Beides gehört zusammen. Sex ohne Gefühle will ich nicht.“

In ihren Augen blitzte es auf. „Darin sind wir einer Meinung.“

Gern hätte er ihr geglaubt, doch er zögerte. Sie kannten sich erst seit wenigen Tagen – intensiven Tagen zwar, aber dennoch.

„Bitte“, hauchte Aurelie, und sein ohnehin schwacher Widerstand erlahmte. Luke war ehrlich genug, sich einzugestehen, dass er es ebenso wollte wie sie.

„Ich bestimme das Tempo, was auch immer zwischen uns passiert“, stellte er eine Bedingung.

Sie erstarrte für einen Moment, ehe sie lächelnd zustimmte: „Ja, Boss.“

„Sobald ich den Eindruck habe, dass es nicht funktioniert, hören wir auf. Höre ich auf. Verstanden?“

„Jawohl.“

Das fördert die Stimmung nicht gerade, dachte er, aber er brauchte in diesem kritischen Moment ihr Vertrauen – und musste sich selbst klare Grenzen setzen.

Aurelie sah ihn erwartungsvoll an, aber ihm fiel beim besten Willen nichts mehr ein.

„Und was jetzt?“, fragte sie lächelnd.

„Wenn ich das nur wüsste!“

Sie lachte ihr fröhliches, ansteckendes Lachen, und er stimmte ein. Vielleicht wird doch noch alles gut, dachte Luke. Er stand auf und reichte ihr die Hand. Vertrauensvoll nahm sie sie. „Komm.“

Von seinem Schlafzimmer aus hatte man einen herrlichen Blick auf den Yachthafen, doch Aurelie sah nichts als das große breite Bett, auf dem sich Kissen in unterschiedlichen Blautönen türmten. Fragend wandte sie sich zu Luke um.

„Lass es uns locker angehen“, schlug er vor. Er schlüpfte aus den Schuhen, nahm seine Krawatte ab und streckte sich auf dem Bett aus. Zögernd setzte sie sich auf die Bettkante, zog ebenfalls die Schuhe aus und legte sich vorsichtig neben ihn.

„Du siehst aus wie ein Patient auf dem Untersuchungstisch.“

„Ein wenig fühle ich mich auch so.“

„Wir nehmen uns alle Zeit, die du brauchst.“ Zärtlich strich er mit den Fingerspitzen über ihre Augenbrauen, dann über ihre Wange. Sie schloss die Augen, und er erforschte ihr Gesicht weiter – die schmale, gerade Nase, die vollen Lippen.

Unvermittelt fragte er dann: „Welches Zimmer in deinem Haus in Vermont magst du am liebsten?“

Aurelie schlug die Augen auf und sah ihn verblüfft an. „Die Küche – dort erinnere ich mich am meisten an meine Oma.“

„Du hast ihr in jenem Sommer sicher oft beim Kochen und Backen geholfen.“

„Ja.“

Zärtlich strich er ihr über die Augen. Sie schloss sie und entspannte sich. „Ich habe gern mitgemacht, weil sie meine Hilfe zu schätzen wusste.“

„Du vermisst sie sehr, stimmt’s?“

„Und dir fehlt deine Mutter“, erwiderte sie kaum hörbar. „Das mit der Ehrlichkeit sollte auf Gegenseitigkeit beruhen, wie du selbst gesagt hast.“

„Jeden Tag.“ Aber er wollte nicht über seine Mutter sprechen. Stattdessen berührte Luke mit dem Zeigefinger Aurelies Kinn. „Wusstest du, dass ich an deinem Kinn erkenne, ob du die Wahrheit sagst?“

„Wie das?“

„Es bebt, wenn du aufgewühlt bist.“

„Das hat mir noch niemand gesagt.“

„Vielleicht hat niemand es gemerkt. Er senkte den Kopf und küsste sie aufs Kinn. „Mir gefällt es.“

„Gut.“

Langsam ließ er die Hand über ihren schlanken Hals gleiten. Aurelie atmete scharf ein und wand sich unter seiner Berührung. Sein Verlangen erwachte mit neuer Macht, aber er hatte versprochen, ihr Zeit zu lassen. „Schon bei unserer ersten Begegnung ist mir deine zarte Haut aufgefallen, und ich war dir von dem Moment an verfallen, als du die Augen aufgeschlagen hast. Deswegen habe ich mich dir gegenüber so abweisend verhalten.“

„Ich dachte, du wärst sauer, weil ich in Ohnmacht gefallen war und mich verspätet hatte.“

„Das solltest du auch glauben.“ Zärtlich ließ er die Finger zu ihren Brüsten gleiten.

Errötend schloss sie die Augen und atmete erschauernd ein. Ihre Reaktion bewies ihm, dass Aurelie ihn begehrte. Als er ihr die Hand erneut auf den Hals legte, blickte sie ihn an.

„Wenn du so weitermachst, brauchen wir die ganze Nacht.“

Luke lachte. „Hoffentlich nicht, das würde mich umbringen.“ Erneut streichelte er ihre Brüste. Für einen Moment verspannte sie sich, ehe sie sich unter der Berührung entspannte.

Er wollte alles richtig machen, doch es fiel ihm schwer, ihr die Zeit zu geben, die sie benötigte. Behutsam umkreiste er mit den Daumen ihre Brustspitze. Er hörte, wie Aurelie den Atem anhielt, ehe sie aufseufzte. Zufrieden ließ er die Hand tiefer gleiten, über ihren straffen Bauch.

„Wie geduldig du bist!“, staunte sie.

„Es ist die Mühe wert.“

„Woher willst du das wissen?“

„Ich weiß es eben.“ Inzwischen hatte er ihr Knie erreicht, hielt dort inne und begann dann, ihr Bein zu streicheln.

Wieder seufzte sie leise. „Du folterst mich!“

„Findest du?“ Mit der anderen Hand liebkoste er ihre Wange, ihre vollen Lippen, das Kinn, ihren Hals. Ihr Blick verschleierte sich vor Verlangen. Aurelie streckte die Hände nach ihm aus, schob sie in sein Haar und zog ihn an sich.

„Küss mich“, bat sie heiser, und Luke kam ihrem Wunsch gern nach.

Erst streifte er ihre Lippen nur zart, dann begann er, lockend ihre Zunge zu umspielen.

„Zieh dich aus“, murmelte sie, bevor sie hastig sein Hemd aufknöpfte und es ihm abstreifte.

„Was ist mit deinem Kleid?“, fragte er.

Als sie nur nickte, schob er ihr die schmalen Träger von den Schultern, zog den Reißverschluss im Rücken auf und streifte es ihr ab. Für einen Moment betrachtete er sie fasziniert.

Auf seine Hose deutend, meinte Aurelie: „Und was ist damit?“

„Möchtest du dich darum kümmern?“

Lächelnd öffnete sie erst seinen Gürtel, dann den Reißverschluss. Ihre Berührungen ließen ihn vor Verlangen aufstöhnen. Kurz darauf lagen sie in Unterwäsche nebeneinander. Genüsslich streichelte Luke sie von den Schultern bis zur Hüfte. Ihre Haut fühlte sich herrlich zart und glatt an. Aurelie erschauerte unter seinen Berührungen, und als er schließlich ihre Brüste umfasste, bog sie sich ihm entgegen.

Wieder küsste er sie, und leidenschaftlich erwiderte sie das Spiel seiner Zunge, zog ihn an sich und schlang ein Bein um ihn. Behutsam ließ er eine Hand tiefer gleiten und wartete, bis sie sich ihm öffnete und Zugang zu dem winzigen Stoffdreieck zwischen ihren Schenkeln gewährte. Für einen Moment verkrampfte sie sich, entspannte sich aber gleich darauf. Selbstvergessen hob sie ihm die Hüften entgegen und gab sich seinen Liebkosungen genussvoll hin.

Erneut küsste er sie. Er war bereit für mehr und glaubte, ihr würde es ebenso gehen.

„Okay?“, fragte er. Als sie nickte, zog er ihr den Slip aus und wand sich aus seinen Boxershorts. Voller Verlangen nach ihr und in der Absicht, ihr unvergessliche Freuden zu bereiten, schob er sich zwischen ihre Schenkel.

Im selben Augenblick erstarrte sie. Wie bereits einmal zuvor lag sie mit geschlossenen Augen unter ihm.

Nur mit unglaublicher Willensanstrengung gelang es Luke, sich zurückzuhalten. Er stöhnte und rollte sich von ihr hinunter. Auf dem Rücken liegend, starrte er an die Decke. Sein Herz krampfte sich zusammen. Was habe ich jetzt schon wieder falsch gemacht? fragte er sich verzweifelt.

„Es tut mir leid“, hörte er Aurelie wispern.

„Das muss es nicht.“ Scham und Schuldgefühle drohten ihn zu überwältigen, gleichzeitig pochte es schmerzhaft in seinen Lenden. „Ich gehe kurz unter die Dusche“, entschuldigte er sich, stand auf und eilte ins Bad.

Aurelie lag im Bett, lauschte den Geräuschen aus dem Bad und kämpfte mit den Tränen. Was ist passiert? fragte sie sich traurig, fand aber beim besten Willen keine Antwort darauf. Im einen Moment hatte sie Lukes Zärtlichkeiten genossen und sich nach mehr gesehnt, im nächsten … Als sie sein Gewicht auf sich spürte, hatte sie sich schmerzlich an ihr erstes Mal mit Pete erinnert.

Energisch verdrängte sie die Erinnerung, denn sie wollte hier und jetzt nicht daran denken.

Nervös tastete sie nach ihren Sachen und zog sich rasch an. Was würde geschehen, wenn Luke aus dem Bad kam? War er wütend auf sie? Frustriert war er auf jeden Fall. Und so, wie sie ihn kannte, würde er Antworten verlangen – die sie ihm nicht geben wollte, weil sie sie in einem schlechten Licht dastehen lassen würden.

Mit gesenktem Kopf setzte Aurelie sich auf die Bettkante und wartete angespannt auf ihn.

Minuten später kam er ins Zimmer, ein Handtuch um die Hüften geschlungen. Der Anblick seiner muskulösen Brust ließ sie schlucken. Gern hätte sie sie berührt, aber die Gelegenheit war vorüber. Wieso war alles schiefgegangen? Übte ihre Vergangenheit immer noch Macht über sie aus?

Unbekümmert ließ Luke das Handtuch fallen und schlüpfte in T-Shirt und Boxershorts. Dann setzte er sich neben sie auf das Bett.

„Dir ist klar, dass wir reden müssen?“

Aurelie nickte nur, und er seufzte. „Was eben geschehen ist, tut mir leid.“

„Das muss es nicht. Es war nicht deine Schuld“, brachte sie mühsam hervor.

„Auch nicht deine.“ Er streckte die Hand aus, legte sie auf ihre und strich ihr mit dem Daumen zärtlich über die Finger. „Was ist dir zugestoßen?“

„Nichts.“ In die Opferrolle drängen lassen wollte sie sich nicht. Sämtliche Entscheidungen hatte sie freiwillig getroffen.

„Wieso bist du im kritischen Moment wieder förmlich zum Eisblock erstarrt? Vorher schien doch alles in Ordnung zu sein.“

„Ich weiß nicht. Ich …“ Nervös befeuchtete sie sich die Lippen. „Du bist der Erste, der es jemals gemerkt hat.“

„Dann waren deine bisherigen Liebhaber nicht besonders aufmerksam.“

„Nein.“

Seufzend drückte er ihr die Hand. „Offenbar vertraust du mir noch nicht so weit, dass du mir verrätst, woher deine Angst vor Sex stammt. Bis es der Fall ist, kann ich dir nicht helfen – und dich nicht lieben.“

„Lass es uns noch einmal versuchen.“

„Du hast keine Ahnung, was ich empfinde, wenn du unter mir erstarrst.“

Aurelie blinzelte die Tränen fort. Der Gedanke, dass Luke unter ihrer Reaktion leiden könnte, war ihr noch gar nicht gekommen. „Es tut mir so leid.“

„Statt einer Entschuldigung wäre mir Offenheit lieber. Aber ich kann warten.“

„Und was jetzt?“

„Lass uns schlafen.“

Für einen Moment keimte Hoffnung in ihr auf. „Hier? Zusammen?“

„Wenn du willst.“ Zärtlich nahm er sie in die Arme, bis ihre Wange an seiner muskulösen Brust ruhte. Sein gleichmäßiger Herzschlag übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus. „Ich habe Geduld.“

Aurelie schloss die Augen und lächelte, doch als sie sich kurz darauf unter der Bettdecke an ihn schmiegte, fragte sie sich, ob sie ebenso geduldig sein konnte. In den vergangenen Tagen hatte sie sich sehr verändert. Sie wollte mehr, wollte in jeder Hinsicht eine andere werden, besonders in dieser. Wie sie das zuwege bringen sollte, wusste sie allerdings nicht.