„Wie …?“ Aurelie blinzelte. „Ich bestimme heute?“
Luke musste lächeln, obwohl es ihm ernst war. „Mir ist klar geworden, dass ich alles falsch angepackt habe …“
„Alles? Das halte ich für übertrieben.“
„Zumindest habe ich darauf beharrt, den Ton anzugeben und das Tempo zu bestimmen. Das war falsch.“
Skeptisch verschränkte sie die Arme vor der Brust. Sie wusste immer noch nicht, worauf er abzielte. „Wieso?“
„Inzwischen weiß ich, wie viel es dir bedeutet, die Kontrolle zu behalten.“
Alles in ihr schrie danach, in Deckung zu gehen, aber sie zwang sich, sich zu entspannen. „Wer wollte das nicht?“
Luke nickte zustimmend. „In deinem Fall kommt erschwerend hinzu, dass du dein Leben lang nichts entscheiden durftest: wo du lebst, zur Schule gehst oder wie berühmt du wirst.“
„Komm mir nicht wieder mit Mitleid!“
„Dass du darauf beharrst, aus freiem Willen gehandelt zu haben, ist auch eine Form der Kontrolle. So stehst du nicht als Opfer da – das erträgst du nicht.“
Luke sprach aus, was sie nie in Worte gefasst hatte. Er verstand sie viel zu gut.
Mühsam rang sie sich ein Lächeln ab. „Von jetzt an habe ich das Sagen?“
„Sobald die Kleider fallen, tanze ich nach deiner Pfeife.“
Sie lachte. „Versprochen?“
„Ehrenwort.“ Er machte einen Schritt auf sie zu und umfasste ihre Hände. „Das mit Pete Myers war keine echte Beziehung, glaub mir.“
„Für mich hat es sich so angefühlt.“
„Du hattest keinerlei Vergleichsmöglichkeiten.“
Wieder bat er um ihr Vertrauen. Aurelie zwang sich, ihm die Hände nicht zu entziehen. „Als was würdest du es denn bezeichnen?“
„Als Missbrauch.“
„Nein!“ Diesmal entriss sie ihm die Hände, wandte sich ab und schlang die Arme um sich, als wäre ihr bitterkalt. Und sie fror tatsächlich – innerlich.
„Wie alt war er, als er dich das erste Mal geküsst hat?“
„Was hat der Altersunterschied damit zu tun? Viele Paare …“
„Fünfzig?“
„Neunundvierzig“, erwiderte sie schnippisch. „Aber darauf kommt es nicht an.“
„Nicht immer“, stimmte Luke ihr gelassen zu. „Du warst jung, von ihm abhängig und leicht zu beeinflussen. Er muss gewusst haben, dass du eine Art Vaterfigur in ihm siehst. Trotzdem hat er dich schamlos ausgenutzt.“
„Es war kein Missbrauch.“
„Lass uns nicht wieder über Begriffe streiten. Ich wollte dir lediglich klarmachen, dass ihr keine gleichberechtigte Beziehung geführt habt. Er hat dir die Kontrolle geraubt. Du hattest keine Chance, ihn zurückzuweisen. Die Situation war alles andere als normal oder fair.“
Aurelie fehlten die Worte, sie bebte am ganzen Körper. Was Luke sagte, traf sie zutiefst. Er hatte recht, man hatte sie benutzt und zum Opfer gemacht.
„Was dir zugestoßen ist, tut mir entsetzlich leid“, sagte er leise.
Energisch drängte sie die Tränen zurück. „Zu meinen Bedingungen, sagst du?“
Luke zögerte. „Glaubst du, jetzt ist ein günstiger Moment …?“
„Ich habe das Sagen“, schnitt sie ihm das Wort ab. „Also widersprich mir nicht.“
„Einverstanden.“
Sie machte einen Schritt auf ihn zu. Innerlich kochte sie noch vor Zorn – allerdings nicht auf Luke oder sich selbst. „Gut. Dann mach dich frei.“
„Ich soll mich ausziehen?“
Aurelie nickte. Als er zögerte, dachte sie schon, er würde sich weigern. Sie stemmte die Hände in die Hüften und runzelte ärgerlich die Stirn. Ihr Atem ging schnell und stoßweise.
„Okay“, meinte Luke gelassen und knöpfte sein Hemd auf.
Er gehorchte ihr tatsächlich! Fasziniert verfolgte sie, wie er das Hemd abstreifte, bis er mit bloßem Oberkörper vor ihr stand.
„Jetzt den Gürtel und die Hose“, befahl sie.
Gehorsam öffnete er den Gürtel und schlüpfte aus der Hose. „Auch die Socken?“, fragte er, und sie musste sich das Lachen verkneifen.
Schließlich stand er in Boxershorts vor ihr und sah sie fragend an.
Aurelie zögerte, sie wusste nicht recht weiter.
„Leg dich aufs Bett.“ Sie hörte selbst, wie ihre Stimme bebte, weil sie so durcheinander war. Anfangs hatte ihre Wut ihr Kraft verliehen, inzwischen war sie den Tränen gefährlich nahe.
Aurelie folgte Luke ins Schlafzimmer und beobachtete, wie er sich aufs Bett legte, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. „Du wirkst völlig unbefangen.“
„Ich bin auch ganz entspannt. Was hättest du jetzt gern?“, erkundigte er sich.
In diesem Moment begriff sie, dass er tun würde, was sie von ihm verlangte. Er gab sich ganz und gar in ihre Hände, er vertraute ihr – und sie wollte ihm vertrauen.
„Halt mich einfach fest“, bat sie leise und schmiegte sich an ihn.
Zärtlich zog er sie an sich. Sie genoss seine Wärme. Als er ihr übers Haar strich, tat sie, was sie sich zuvor nicht gestattet hatte – sie weinte.
Für eine Weile schluchzte sie in seinen Armen, und er hielt sie fest, bis sie sich wieder beruhigte.
„Ich sehe bestimmt zum Fürchten aus.“
„Du bist wunderschön.“
Aurelie lachte leise. „Das kann nicht dein Ernst sein.“
„Ich lüge nie.“
„Womit habe ich dich nur verdient?“
„Dasselbe frage ich mich auch.“
„Wieso das?“, fragte sie überrascht.
Zärtlich strich Luke ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Du verkaufst dich oft unter Wert. Dabei bist du eine tolle Frau, bringst mich zum Lachen, forderst mich heraus, überraschst mich mit deinem Mut und Talent. Glaub mir, ich bin deiner nicht würdig.“
Ehe sie widersprechen konnte, küsste er sie zärtlich auf die Augenlider, die Nase und den Mund. „Es stimmt“, flüsterte er, und, ohne nachzudenken, erwiderte Aurelie seinen Kuss. Endlich hatte sie die Gelegenheit – und die Macht – ihn so ausgiebig zu küssen, wie sie wollte. Sie erforschte ihn, wie sie es nie zuvor getan oder auch nur zu träumen gewagt hatte.
Mutig drehte sie ihn zurück auf den Rücken, stützte sich auf die Ellbogen und erkundete mit den Lippen, was immer ihr einfiel: seine Lippen, die Augenlider, den Hals und das Kinn. Allmählich wagte sie sich tiefer vor. Als er erregt stöhnte, empfand sie nicht etwa ein Gefühl der Macht, sondern Vergnügen, Vertrauen und Liebe.
Seine leidenschaftliche Reaktion verstärkte ihr Verlangen. Aurelie legte sich auf ihn, und Luke umfasste ihre Hüften. Unwillkürlich durchzuckte sie heißes Begehren und löschte jeden klaren Gedanken aus. „Berühre mich“, forderte sie ihn heiser auf.
„Wo?“
Allein die Frage ließ sie lustvoll erschauern. Beherzt umfasste Aurelie seine Hand und legte sie sich auf die Brust. „Hier“.
Luke kam ihrem Wunsch bereitwillig nach, und sie stöhnte unter seinen zärtlichen Liebkosungen.
„Und hier.“ Sie führte seine andere Hand zaghaft tiefer und erschauerte, als er sie unter ihr Kleid schob und ihr den Slip abstreifte. „Ja …“ Sehnsüchtig bog sie sich ihm entgegen und genoss seine intimen Berührungen. Nie hätte sie gedacht, dass ein Mann ihr solches Vergnügen bereiten, dass sie sich dabei so frei und wunderbar fühlen könnte.
„Zieh mich aus“, bat sie. Er öffnete den Reißverschluss ihres Kleids und streifte es ihr ab. BH und Slip folgten rasch. Dann befreite sie Luke von seinen Boxershorts.
„Und jetzt?“, fragte er lächelnd.
Dass er sich nach ihren Wünschen erkundigte, gefiel ihr ungemein. „Lass mich nachdenken.“ Langsam streichelte Aurelie seine Wange, ließ die Hand tiefer gleiten, bis zu seiner Hüfte und noch weiter, bis sie ihn ganz umfasste. „Mach weiter, wo du aufgehört hast“, raunte sie ihm ins Ohr.
Weitere Anweisungen oder gar ihre Erlaubnis brauchte sie ihm nicht zu geben. Beim Sex sollte es immer nur um Liebe gehen, schoss es Aurelie irgendwann durch den Kopf, während Luke und sie sich in völligem Gleichklang bewegten, Hände, Lippen und Körper, als wären sie eins. Sie fühlte sich so vollkommen wie nie zuvor in ihrem Leben.
Plötzlich füllten ihre Augen sich mit Tränen. „Ich bin so glücklich“, stieß Aurelie hervor, und Luke küsste sie auf den Mund.
„Ich auch.“
Das Licht der Morgensonne, die durch die Panoramafenster ins Zimmer fiel, verlieh Aurelies Haut einen goldenen Schimmer. Luke streckte die Hand nach ihr aus und streichelte sie. Er liebte es, sie zu berühren, sie zu kosten. Ich liebe sie, gestand er sich ein.
Seltsamerweise jagte ihm diese Vorstellung keine Angst ein. Im Gegenteil, sie erfüllte ihn mit Freude und Dankbarkeit, umso mehr, als er davon überzeugt war, dass Aurelie seine Gefühle erwiderte. Er hatte sich ihr Vertrauen verdient und ihre Liebe gewonnen. Diesmal hatte er es richtig angepackt.
In diesem Moment schlug sie die Augen auf. Schlaftrunken lächelte sie ihm zu und streckte so selbstverständlich die Hand nach ihm aus, dass ihm warm ums Herz wurde. Wer hätte gedacht, dass es zwischen uns so einfach sein kann – und so wunderbar?
Später – viel später – duschten sie, zogen sich an und frühstückten gemeinsam.
„Sieh dir das an.“ Luke reichte Aurelie seinen Tablet-Computer, auf dem er die Tageszeitung las. Aurelie ist zurück – besser denn je, lautete die Schlagzeile.
Er lächelte. „Ich wusste, dass dein Song gut ankommt.“
„Das ist nur eine einzelne Meinung. Warten wir die anderen Kritiken ab.“
„Hast du Angst davor?“
Sie gab ihm das Gerät zurück. „Nicht allzu sehr. Früher habe ich mich über die Meinung anderer definiert. Heute gibt es jemanden, der weiß, wer ich wirklich bin.“
„Darüber bin ich sehr froh.“
„Im Grunde wünsche ich mir gar kein Comeback. Dass ich öffentlich aufgetreten bin, habe ich weniger für das Publikum getan als für mich. Ich wollte mich vor mir selbst rechtfertigen. Die öffentliche Aurelie – in welcher Form auch immer – will ich nie wieder sein. Vom Ruhm habe ich endgültig die Nase voll.“
Luke umfasste ihre Hand. „Was ist, wenn diese Auftritte dich zurück ins Rampenlicht befördern?“
„Wenn ich keine weiteren Konzerte gebe oder neue Skandale provoziere, verblasst es rasch.“
„Willst du das wirklich?“
„Ja. Kommst du damit klar?“ Aurelie sah ihn besorgt an.
„Wieso nicht? Für mich wäre es schwierig, dir von einem Auftritt zum anderen zu folgen, aber ich würde es tun, wenn es dein Wunsch wäre.“
„Was wünschst du dir denn?“
„Ich habe alles, was ich mir nur denken kann.“ Er lächelte und drückte ihr die Hand. „Nach deinem Auftritt heute Nachmittag haben wir zwei Tage frei, ehe es nach Tokio weitergeht. Was hältst du davon, wenn wir irgendwohin fahren, wo wir allein sind?“
Luke entführte Aurelie in eine exklusive Ferienanlage auf einer winzigen Insel bei Hongkong, wohin keine Paparazzi gelangten und wo er sie nach Herzenslust verwöhnen konnte. Sie verbrachten faule Tage am Strand und lange, heiße Nächte im Bett, im Whirlpool oder ebenfalls am Strand.
Am Abend vor ihrer Abreise nach Tokio lagen sie im Bett, die Schiebetüren zum Strand hin weit geöffnet. Eine zarte Brise vom Meer her bauschte die Vorhänge auf. Mondlicht fiel auf die zerwühlten Laken, auf ihre verschlungenen Beine.
Luke presste Aurelie die Lippen aufs Haar. „Woran denkst du gerade?“
„Ich bedaure, dass unser Urlaub zu Ende ist und wir ins wirkliche Leben zurückkehren müssen.“
„Was die Realität ist, weiß ich gar nicht mehr.“ Am liebsten hätte er ihr in diesem Moment seine Liebe gestanden, aber er ließ es bleiben. Er wusste nicht, wie sie es aufnehmen würde. Noch war ihre Beziehung neu, zerbrechlich. Auch wie es mit ihnen weitergehen sollte, konnten sie später entscheiden.
Auf dem Flug nach Tokio widmete Luke sich widerstrebend seiner Arbeit. In den vergangenen achtundvierzig Stunden hatte er kein einziges Mal an Bryant’s gedacht – ein neuer persönlicher Rekord. Aufstöhnend registrierte er die zweiundzwanzig Nachrichten, die ihn auf der Mailbox erwarteten. Die meisten war unwichtig – bis auf eine: „Erwarte mich in Tokio“.
Unbehaglich überlegte er, was seinen Bruder Aaron dazu bewog, nach Tokio zu kommen. Hatte er die Pressereaktionen auf Aurelies Auftritt gelesen und etwas dagegen einzuwenden? Würde er wie so oft wieder den Chef herauskehren?
„Was ist?“, erkundigte sich Aurelie.
Wie nahe wir uns in den vergangenen Tagen gekommen sind, dachte Luke. Sie spürte seine Stimmungen und kannte ihn ebenso gut wie er sie.
Beinah, schoss es ihm durch den Kopf. Während sie sich ihm vollständig geöffnet hatte, enthielt er ihr bedeutende Informationen vor – um sie nicht mit seinen schmerzlichen Geheimnissen zu belasten.
„Nur die Arbeit.“ Rasch steckte er sein Handy zurück in die Jackentasche.
Zwanzig Minuten später landeten sie in Tokio. Eine Limousine brachte sie ins Peninsula, ein Luxushotel mit Blick auf die Kaiserlichen Gärten. Es war kühler als auf ihren bisherigen Reiseetappen, der Herbst kündigte sich mit einer frischen Brise an.
„Ich habe deine Suite stornieren lassen. Hoffentlich stört dich das nicht“, sagte Luke beim Einchecken.
„Wieso sollte es?“
Ein Page geleitete sie zu ihrer riesigen Suite und führte sie durch sämtliche Räume. Als sie wieder allein waren, küssten sie sich stürmisch. Nach einer Weile löste Luke sich von Aurelie. „So gern ich auch weitermachen würde, du musst dich auf deinen Auftritt vorbereiten. Bist du nervös?“
„Seltsamerweise nicht. Das wundert mich umso mehr, als ich mich beim letzten Mal schrecklich gefürchtet habe.“
„Du hast dich verändert.“
„Das habe ich dir zu verdanken.“ Sie lächelte ihn liebevoll an. „Mir ist klar, dass ich nicht ständig gute Kritiken erhalten werde. Wer meinen Song nicht mag, wird es mich wissen lassen. Aber das macht mir inzwischen nichts mehr aus.“
„Wie schön.“ Luke gab ihr einen letzten Kuss, ehe sie sich zum Umkleiden zurückzog.
Zwei Stunden später beobachtete Luke von seinem Platz neben der Bühne aus, wie Aurelie in einem fließenden grünen Seidenkleid, das Haar zu einem losen Knoten hochgesteckt, die Bühne betrat. Sie sah wunderschön und natürlich aus, und das Herz ging ihm über vor Liebe.
„Was, zum Teufel, tut sie hier?“, fragte eine wütende Stimme hinter ihm. Als er sich umwandte, fand er sich seinem Bruder Aaron gegenüber.