„Hallo, Aaron“, begrüßte Luke seinen Bruder. „Dasselbe könnte ich dich fragen.“
„Hast du meine SMS nicht bekommen? Ich bin hier, um dich zu retten.“
„Das ist nicht nötig. Still jetzt, sie fängt an.“
Die Augen zornig zusammengekniffen, schwieg Aaron. Aurelie sang ihr neues Lied, und Luke lauschte ihrer weichen Stimme ebenso gebannt wie das übrige Publikum – nur Aaron bildete eine Ausnahme. Sobald der letzte Ton verklungen war, packte er Luke am Arm.
„Sie muss verschwinden.“
„Was meinst du damit?“, fragte Luke verständnislos.
„Das Letzte, was Bryant’s braucht, ist jemand mit ihrem Ruf …“
„Aurelie tut unserem Image gut.“
In diesem Moment kam Aurelie von der Bühne und direkt auf sie beide zu. Um ein Gespräch zwischen ihr und Aaron zu verhindern, bat Luke sie: „Nur noch eine Minute.“
Da sie seine Anspannung bemerkte, nickte sie und ging mit der Gitarre in der Hand in ihre Garderobe.
„Suchen wir uns einen ungestörten Platz“, schlug Luke seinem Bruder vor. „Was Bryant’s absolut nicht braucht, ist, dass wir uns vor allen Gästen streiten.“
„Wegen einer Frau geraten wir uns doch nicht in die Haare, oder hast du gar nichts von unserem Vater gelernt?“
„Vergleiche Aurelie nicht mit seinen Geliebten.“ Abrupt wandte Luke sich ab und eilte ihm mit schnellen Schritten voraus ins Büro der Geschäftsleitung.
Aaron folgte ihm und schloss die Tür. „Egal, wie gut sie im Bett ist, sie geht!“
Das war zu viel für Luke. Er sah rot, holte aus und verpasste seinem Bruder einen Kinnhaken. Ein stechender Schmerz fuhr ihm in die Fingerknöchel.
Aaron klappte zusammen. Auf den Schreibtisch gestützt, richtete er sich wieder auf und rieb sich das anschwellende Kinn. „Verdammt, was ist in dich gefahren?“
„Das hätte ich schon vor Jahren tun sollen. Du hältst dich da raus, Aaron, aus meinem Privatleben und meinen Kaufhäusern.“
„Die gehören zu …“
„Bryant Enterprises, ich weiß. Der Konzern ist so groß, dass du nicht überall mitmischen musst. Er bietet genug Platz für uns beide, sogar für Chase.“
„Dad hat ihn enterbt.“
„In einem Wutanfall. Du könntest es rückgängig machen.“
„Ich habe nicht die Absicht, seinen letzten Willen zu missachten.“
„Hör auf. Deine Brüder sind dir doch egal.“ Erschöpft wandte Luke sich ab.
„Du hast überhaupt keine Ahnung“, sagte Aaron nach kurzer Pause seltsam ausdruckslos.
„Nein?“
„Tatsache ist, dass ich dein Boss bin. Ich sage, sie geht.“
Der autoritäre Tonfall brachte Luke erneut zur Weißglut. „Hast du die positiven Kritiken in den Zeitungen nicht gelesen?“
„Leider wird auch jeder ihrer Skandale wieder aufgewärmt. Die Fotos …“
Mit einer Geste gebot Luke ihm Einhalt. „Ich will nichts davon hören. Lass uns das Thema wechseln, sonst schlage ich noch einmal zu.“
„Diesmal bin ich darauf gefasst. Schlaf mit ihr, wenn du willst, aber …“
„Still. Kein Wort mehr“, warnte Luke ihn leise. „Seit fünfzehn Jahren bin ich Geschäftsführer von Bryant’s. Ich mache meinen Job ausgezeichnet, trotzdem mischst du dich ständig ein. Du vertraust mir nicht.“
„Ich traue niemandem.“
„Weißt du, wie hart ich geschuftet habe …?“
„Mit deinem Einsatz zielst du nur darauf ab, Lob und Anerkennung zu erringen. Dad hat dir beides verweigert. Du versuchst ständig, dich zu beweisen, aber es wird dir nie gelingen.“
Luke war wie vor den Kopf geschlagen. Ganz allmählich begriff er, dass die Worte seines Bruders ein Körnchen Wahrheit enthielten. Er hatte sich sein Leben lang bemüht, das Vertrauen anderer zu gewinnen, um wettzumachen, dass er das seines Vaters unwiderruflich verloren hatte.
„Damit ist es vorbei“, sagte er ruhig. „Wenn du Bryant’s nicht verlässt, mache ich es.“
„Drohst du mir etwa mit Kündigung?“
„Das ist keine Drohung.“
„Weißt du, welchen Wirbel das auslösen würde?“
„Ja.“
„Du hast immer für Bryant’s gearbeitet. Willst du wirklich alles hinwerfen?“
Aaron versuchte, ihn auf die Probe zu stellen, aber Luke war sich seiner Sache sicher. Er würde keine Schwäche zeigen. „Wenn ich mich weiterhin vor dir rechtfertigen muss, ja.“
„Sieh mal an! Gut, ich denke darüber nach.“
„Vergiss es. Ich kündige.“
„Das ist kein Grund, gleich zu überreagieren.“
„Ich kann nicht mehr für dich arbeiten, in welcher Funktion auch immer. Keine Sorge, Aaron, du findest bestimmt schnell einen neuen Strohmann.“
„Daran ist diese Frau schuld.“
„Ja, das ist sie. Sie glaubt an mich und vertraut mir. Auf deine Anerkennung bin ich nicht länger angewiesen.“ Luke wandte sich ab und stürmte aus dem Büro.
Nervös ließ Aurelie den Blick über die Menschenmenge schweifen. Weder Luke war zu sehen noch der andere Mann – sein Bruder Aaron, wie sie vermutete. Sie hatte die Spannung zwischen den beiden wahrgenommen und fürchtete, dass es bei der Meinungsverschiedenheit um sie ging. War Aaron mit ihren Auftritten nicht einverstanden? Und wie stand Luke dazu?
Unvermittelt wurde ihr klar, dass sie keine Antwort darauf wusste. Sosehr sie die letzten, herrlichen Tage genossen hatte, mit der Realität hatten diese wenig zu tun. Fernab der Wirklichkeit war es leicht, sich zu verlieben. Was würde Luke tun, wenn sich der Reiz des Neuen verlor?
„Ich sollte Ihnen gratulieren.“ Aurelie zuckte erschrocken zusammen. Langsam wandte sie sich zu Aaron Bryant um, der sie abfällig von Kopf bis Fuß musterte.
„Es ist Ihnen gelungen, meinen Bruder zu umgarnen – zumindest für den Moment.“
Da ihr eben ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen waren, fiel ihr keine schlagfertige Erwiderung ein. „Das habe ich nicht.“
„Dann handelt es sich vermutlich um wahre Liebe.“ Ganz offensichtlich machte er sich über sie lustig.
Sie schwieg, um ihm keinen weiteren Angriffspunkt zu bieten. Ob Luke sie liebte, wusste sie nicht. Gesagt hatte er es ihr jedenfalls nicht.
„Seien Sie gnädig, wenn Sie ihn abservieren“, fuhr Aaron zu ihrer Überraschung fort.
Dass er sich um die Gefühle seines Bruders sorgte, erstaunte sie. „Ich habe nicht vor, ihn zu verlassen.“
„Nein? Dann nimmt er vielleicht Vernunft an und macht Schluss.“ Nach einem letzten, herablassenden Blick ließ er sie stehen.
Aurelie blieb allein zurück. Eisige Schauer jagten ihr über den Rücken. Mit seinen Bemerkungen hatte Aaron sie verletzen und aus der Fassung bringen wollen, und es war ihm gelungen. Die altvertraute Panik stieg in ihr hoch, die Angst, sich erneut zu verlieren, sollte Luke sie verlassen. Mit seiner Hilfe hatte sie sich in vielerlei Hinsicht verändert, aber in einer nicht: Sie fürchtete nach wie vor, nach einer neuerlichen Zurückweisung in einen tiefen Abgrund zu fallen – aus dem sie sich nie wieder retten konnte.
Es wäre besser, für immer auf die Liebe zu verzichten, sagte sie sich. Dafür war sie nicht geschaffen.
Irgendwie gelang es ihr trotz ihres innerlichen Aufruhrs, weiterhin zu lächeln und freundlich mit den Gästen zu plaudern, während sie gleichzeitig verzweifelt nach Luke Ausschau hielt. Schließlich entdeckte sie ihn, in ein Gespräch vertieft. Eine Weile beobachtete sie ihn, dann fasste sie einen Entschluss.
Schnell lief sie in ihre Garderobe und raffte ihre Sachen zusammen. Zwar sollte sie erst am nächsten Tag nach New York fliegen, aber vielleicht ließ sich der Flug umbuchen. Notfalls kann ich einen Privatjet mieten, ging es ihr durch den Kopf. Sie musste mit sich ins Reine kommen, an einem sicheren Ort – in ihrem Haus in Vermont.
Durch die Hintertür stahl sie sich aus dem Kaufhaus und nahm ein Taxi ins Hotel. Sie reagierte kopflos auf eine beängstigende Situation, wie sie es auch schon vor Jahren getan hatte. Die innere Stimme, die ihr riet, innezuhalten und nachzudenken, wurde von den schrillen Alarmglocken in ihrem Kopf übertönt.
Innerhalb von Minuten packte Aurelie ihre Koffer, doch ehe sie die Suite verlassen konnte, wurde die Tür geöffnet. Luke stand vor ihr, müde und zerzaust.
„Es hieß, du wärst schon gegangen …“ Verblüfft deutete er auf ihre Koffer. „Was soll das?“
Sie schluckte nervös. „Ich reise früher ab als geplant.“
„Wolltest du dich noch von mir verabschieden, oder hattest du gehofft, weg zu sein, ehe ich von der Party zurückkehre?“
„Ich … ich weiß nicht.“
„Was ist passiert? Hast du mit Aaron gesprochen?“, hakte er nach, einen unergründlichen Ausdruck in den Augen.
„Ja, aber es ist nicht seine Schuld. Ich brauche … meinen Freiraum. Zeit. Ich bin nicht sicher …“ Ihr versagte die Stimme, und Aurelie atmete tief durch. „Ich weiß nicht, ob ich das durchziehen kann.“
„Das? Wir hatten noch nicht einmal darüber gesprochen, wie es mit uns weitergehen sollte.“
Sollte, nicht soll, dachte sie. Offenbar hatte Luke tatsächlich beabsichtigt, sie zu verlassen. Das eigentliche Problem lag jedoch bei ihr.
„Findest du nicht, du hättest mit mir darüber reden sollen, statt einfach wegzulaufen?“, fuhr er fort.
„Ich sage es dir jetzt.“
„Nur weil ich rechtzeitig zurückgekommen bin.“ Seine Stimme klang lauter und zornig, und Aurelie wich erschrocken einen Schritt zurück. „Verdammt, ich habe dir vertraut und dachte, du vertraust mir!“
„Darum geht es nicht.“
„Worum sonst?“
„Um mich – nur um mich.“
„Leider fühlt es sich an, als würde es auch mich betreffen.“
„Das tut mir leid.“ Verzweifelt bemühte sie sich, die Tränen zurückzuhalten. „Ich … ich wage es nicht, das Risiko noch einmal einzugehen, mich dir zu öffnen, nur um …“
„Um misshandelt und missbraucht zu werden, wie Myers es mit dir getan hat?“
„Ja“, gestand sie leise.
Luke lachte bitter. „Also geht es doch um Vertrauen. Aaron meinte, ich versuche ständig, mich zu beweisen und das Vertrauen anderer zu gewinnen. Er hat recht, zumindest was dich betrifft.“
„Mein Vertrauen hast du dir jedenfalls verdient.“
„Nicht wenn du jetzt wegläufst. Lass mich dir etwas erklären.“ Er atmete tief durch. „Ich habe dir erzählt, dass meine Mutter an Brustkrebs gestorben ist. Das stimmt nicht, sie hat sich umgebracht.“
„Sie hat Selbstmord begangen?“, wiederholte Aurelie entsetzt.
„Ich war allein mit ihr zu Hause. Chase und Aaron waren beim Sport, mein Vater auf Geschäftsreise. Offenbar hatte sie gerade von einer neuen Affäre meines Vaters erfahren, einer von vielen. Sie erlitt einen hysterischen Anfall. Als sie sich wieder gefasst hatte, verfrachtete sie mich ins Wohnzimmer und sagte mir, dass sie mich lieben würde. Wir hatten uns immer sehr nahegestanden. Sie meinte, es täte ihr leid, sie könnte nicht mit ihrer Krankheit weiterleben, während Dad sich in aller Öffentlichkeit mit seinen Geliebten zeigt. Zunächst verstand ich nicht, was sie damit sagen wollte. Als mir endlich klar wurde, dass sie im Begriff war, sich umzubringen, lief ich nach oben. Die Tür zu ihrem Zimmer war verschlossen.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich flehte sie an aufzumachen, schrie, weinte, aber sie gab mir keine Antwort. Dann versuchte ich, die Tür aufzubrechen, schaffte es allerdings nicht.“ Ihm versagte die Stimme, und Aurelie spürte, wie etwas in ihr zerbrach.
„Es dauerte lange, bis ich auf die Idee kam, einen Notarzt zu rufen. Als er eintraf, war sie bereits ins Koma gefallen. Einen Tag später starb sie an einer Überdosis eines Antidepressivums.“
In diesem Moment wurde ihr einiges klar. Tief durchatmend rieb sie sich die Augen. „Es tut mir so leid.“
„Mir auch. Am meisten bedaure ich, dass ich mich jahrelang von diesem schrecklichen Vorfall beherrschen ließ. Mein Vater hat mir die Schuld am Tod meiner Mutter gegeben, also tat ich es auch. Er hat mir unterstellt, dass ich sie hätte retten können, und ich habe ihm geglaubt. Jahrelang habe ich mich bemüht, sein Vertrauen zurückzugewinnen, seinen Respekt, seine Liebe. Bis zu seinem Tod ist es mir nicht gelungen.“
Luke atmete tief durch und sah sie an. „Ich hätte dir das alles schon früher erzählen sollen. Es erschien mir nicht nötig, weil ich glaubte, darüber hinweg zu sein. Dabei habe ich dasselbe mit dir versucht. Ich wollte dein Vertrauen gewinnen und dich retten. Das ist mir nicht gelungen.“
„Ich will nicht, dass du mich rettest“, flüsterte sie kaum hörbar.
„Was willst du dann? Ich mag mich nicht mehr beweisen. Entweder du liebst mich oder nicht.“
Liebe. Bei dem Wort wurde ihr Mund ganz trocken. „Luke …“
„Ich liebe dich. Und du?“
Ich dich auch, hätte Aurelie am liebsten gesagt, brachte die Worte jedoch nicht über die Lippen. Sie hatte zu viel Angst davor, die Kontrolle zu verlieren, für immer abzugleiten …
„Ich verstehe“, sagte Luke traurig.
„So einfach ist das nicht“, hauchte sie, aber er sah sie nur schweigend an, unnachgiebig und traurig.
„Doch, das ist es.“ Ohne ein weiteres Wort verließ er die Suite.
Aurelie erlebte die Reise zurück nach New York und weiter nach Vermont wie durch einen Schleier. Vierundzwanzig Stunden nach dem Abflug von Tokio erreichte sie das Haus ihrer Großmutter. Luke und ihr Herz blieben in Japan zurück.
Sie ließ ihre Koffer im Flur stehen und wanderte wie eine Schlafwandlerin durch die Räume. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, seit sie das Haus verlassen hatte, dabei waren erst zwei Wochen vergangen. Immer noch war sie allein, hoffnungslos und unfähig, sich zu ändern.
Wann immer sie an Lukes Frage dachte, ob sie ihn liebte, kamen ihr die Tränen. Zu feige, ihm die Wahrheit zu gestehen, hatte sie ihn im Stich gelassen und sich dazu. Sie hatte ihr Handeln von Angst bestimmen lassen, statt von Vertrauen und Liebe.
Es ist besser so, für Luke und für mich, versuchte sie sich immer wieder zu trösten. Eines Tages würde er eine Frau finden, die besser zu ihm passte, die sich im seelischen Gleichgewicht befand, statt wie sie den emotionalen Ballast eines Lebens mit sich herumzutragen.
Doch wenn sie nachts aufwachte, allein in ihrem Bett, wenn sie die Gitarre oder das Klavier betrachtete, ohne sich zum Spielen aufraffen zu können, wenn sie die Farben um sich her nur noch als graues Einerlei wahrnahm, zweifelte Aurelie an ihrer Entscheidung. In solchen Momenten hätte sie alles getan, um Luke zurückzugewinnen. Sie würde ihm ihre Liebe gestehen und sämtliche Risiken auf sich nehmen, die eine Beziehung mit sich brachte.
Zwei Wochen nach ihrer Rückkehr klingelte es an der Haustür. Als sie öffnete, stand vor der Tür eine vertraute Gestalt.
„Luke …“
„Tut mir leid, Sie zu enttäuschen.“ Der Mann war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten und hatte dieselbe Figur wie Luke. Lediglich Augen und Haare waren eine Nuance heller.
„Ich bin Chase Bryant“, stellte er sich vor und reichte ihr die Hand.
„Sie kochen gern“ war das Erste, was Aurelie in ihrer Überraschung einfiel.
„Meine Spezialität sind Currys. Hat Luke von mir gesprochen?“
„Gelegentlich.“
„Darf ich eintreten?“, bat er, wie auch Luke sie immer um Erlaubnis gebeten hatte. Prompt füllten ihre Augen sich mit Tränen. Sie nickte stumm und trat beiseite. „Darf ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee oder Tee?“
„Nein danke. Sicher fragen Sie sich, was ich hier suche.“
„Ich wundere mich, woher Sie überhaupt von mir wissen.“
Chase lächelte. „Ihr Ruhm eilt Ihnen voraus.“
„Ah, ja.“
„Ich habe Luke getroffen. Er sah schrecklich aus.“
Obwohl sie sich dafür schämte, verbesserte diese Information sofort ihre Stimmung.
„Als ich ihn darauf angesprochen habe, hat er mir von Ihnen erzählt“, fuhr Chase fort.
„Was hat er gesagt?“
„Nicht viel, und das auch nicht freiwillig. Er ist es nicht gewohnt, über Gefühle zu sprechen.“
Diese Bemerkung entlockte Aurelie ein Lächeln, zum ersten Mal seit der Trennung von Luke. „Was hat er Ihnen erzählt?“
„Dass es zwischen Ihnen nicht funktioniert hat.“
„Das stimmt leider.“
„So viel ist mir auch klar geworden. Wissen Sie, ich habe vor einiger Zeit eine wunderbare Frau kennengelernt. Aus Angst hätte ich es mir beinah mit ihr verdorben. Liebe, Bindung – allein der Gedanke daran hat mich in Panik versetzt.“
Sie atmete hörbar aus. „Ja, das kann ich nachvollziehen.“
„Wovor fürchten Sie sich?“, fragte Chase freundlich.
„Vor allem.“
„Haben Sie Angst davor, dass Luke Sie verlassen oder verletzen könnte?“
„Sicher nicht absichtlich.“
„Trotzdem schließen Sie es nicht aus?“
Aurelie blickte ihn an, Tränen traten ihr in die Augen. „Am meisten fürchte ich mich vor meiner Unfähigkeit, mich zu ändern.“
„Wieso wollen Sie sich überhaupt ändern?“, fragte er, den Kopf nachdenklich zur Seite geneigt.
„Ich hatte schon mal eine feste Beziehung. Als sie zerbrach, war ich am Boden zerstört. Ich geriet damals völlig aus dem Gleichgewicht … Der Gedanke, mich erneut zu verlieren, ist mir unerträglich.“
„Wer hätte keine Angst davor, den geliebten Partner zu verlieren? Ich darf gar nicht daran denken, was mit mir geschehen würde, wenn meine Verlobte mich verlassen würde …“
„Wieso nehmen Sie das Risiko auf sich?“
„Weil sie jedes Wagnis wert ist“, stellte Chase schlicht fest. „Bis ich das begriffen habe, hat es allerdings eine Weile gedauert.“
Aurelie nickte nachdenklich. Sie kannte Luke gut genug, um zu wissen, dass er ganz anders war als Pete Myers. Wie sie das im entscheidenden Moment hatte vergessen können, war ihr im Nachhinein ein Rätsel.
Traurig sah sie Chase an. „Ich fürchte, es ist zu spät.“
„Glauben Sie mir, das ist es nicht.“
Zwei Tage später stand Aurelie vor der umgestalteten Lagerhalle in Manhattan, die Lukes neues Unternehmen beherbergte. Von Chase wusste sie, dass er mittlerweile bei Bryant’s gekündigt und eine Stiftung gegründet hatte.
Es dauerte eine Weile, bis sie sich ein Herz fasste, durchatmete, die schwere Eingangstür öffnete und eintrat. Sie fand sich in einem riesigen, mit Plastikfolie ausgelegten Raum wieder, in dem sich Klappstühle stapelten und Trittleitern an den Wänden standen. Eine junge Frau kam ihr entgegen. „Kann ich Ihnen helfen?“
„Ich suche Luke Bryant.“
In diesem Moment schien die Frau sie zu erkennen. „Sind Sie nicht …?“
„Ja. Wo finde ich ihn?“
Hilfsbereit deutete die Frau auf eine Tür. Aurelie öffnete sie und entdeckte Luke, der mit dem Rücken zu ihr einen Entwurf studierte. „Ist das Essen schon da?“, fragte er, ohne aufzusehen.
„Dass du Hunger hast, wusste ich nicht.“
Abrupt wandte er sich zu ihr um und erstarrte.
Aurelie rang sich ein Lächeln ab. „Hallo, Luke. Der Name deines Unternehmens gefällt mir“, sagte sie, weil ihr nichts Besseres einfiel. „Morpho-Stiftung. Das erinnert mich an einen wunderbaren Tag, als ein Morphofalter sich auf mein Haar gesetzt und ein umwerfender Mann mich geküsst hat.“
An seiner Wange zuckte ein Muskel. Verlegen wich Luke ihrem Blick aus. „Morpho ist das griechische Wort für Wandel. Darum geht es bei dieser Stiftung.“
„Veränderungen sind etwas Gutes.“
„Im Grunde geht es auch um den Schmetterling.“ Er sah sie wieder an, seine Mundwinkel zuckten verdächtig. „Und um den Kuss.“
Das genügte Aurelie als Ermunterung. „Du hast mir gefehlt, Luke. Ich bedaure unendlich, dass ich alles verdorben habe. Statt dir zu vertrauen, bin ich in Panik geraten und habe kopflos reagiert.“
„Es war auch meine Schuld. Ich hätte dir schon lange vorher von meiner Mutter erzählen müssen, damit du begreifst, was in mir vorgeht. Das wurde mir erst klar, als es zu spät war.“
„Ich war so in meinem Schmerz gefangen, dass ich mir über dich keine Gedanken gemacht habe. Dass auch du Probleme haben könntest, kam mir nicht in den Sinn. Das mit deiner Mom tut mir leid. Es muss schrecklich für dich gewesen sein.“
„Leicht war es nicht gerade.“
„Mir gefällt die Idee hinter deiner Stiftung.“ Im Internet hatte sie gelesen, dass er Kinder unterstützen wollte, deren Eltern eine Krise durchlitten, beispielsweise die Kinder krebskranker Mütter.
„Auf diese Idee bin ich durch dich gekommen. Du hast in jungen Jahren ganz allein dagestanden. Ein verständiger Erwachsener hätte dich unterstützen und dir den Weg weisen können.“
„Stimmt.“ Wieder verfielen sie in Schweigen. Sosehr Aurelie es sich auch wünschte, Luke kam ihr keinen Schritt entgegen. Sie wollte endlich in seinen Armen liegen, er sollte ihr sagen, dass alles gut werden würde.
Ich will, dass er alles macht, schoss es ihr durch den Kopf. Aber diesmal musste nicht Luke sich beweisen oder sich ihr Vertrauen verdienen. Die Reihe war an ihr. Allzu schwer kann es nicht werden, sagte Aurelie sich. Sie vertraute ihm, liebte ihn.
„Bitte verzeih mir, dass ich dich in Tokio im Stich gelassen habe. Vermutlich hast du geglaubt, ich würde dir nicht vertrauen. In Wahrheit war ich mir meiner selbst nicht sicher. Ich habe mich davor gefürchtet, die Kontrolle zu verlieren, mich selbst.“
„Das wäre nur passiert, wenn ich dich verlassen hätte.“
„Ich dachte, das wolltest du. Du hast schrecklich angespannt und wütend gewirkt, als du mit Aaron gesprochen hast. Mir war klar, dass er dir rät, mich zu vergessen.“
„Hast du geglaubt, ich höre auf ihn?“
„Nicht wirklich, aber allein der Gedanke daran hat mich in Panik versetzt. Das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, war grässlich. Inzwischen beginne ich zu akzeptieren, dass Liebe einen gewissen Kontrollverlust mit sich bringt. Zwar habe ich, offen gestanden, immer noch große Angst und gerate leicht in Panik, aber ohne dich fühle ich mich elend. Ich will mit dir zusammen sein und für uns kämpfen … wenn du mich noch willst.“
Als Luke nichts erwiderte, fuhr Aurelie fort: „Ich werde weiterhin Fehler begehen und dich verletzen. Auch du wirst mir wehtun. Aber ich werde nie wieder weglaufen. Ich verspreche, weiterhin an mir zu arbeiten, doch das ist ein langwieriger Prozess.“ Sie deutete auf das Logo seiner Stiftung. „Eine Metamorphose braucht ihre Zeit.“
„Da hast du recht, und du bist nicht die Einzige, die sich ändern muss.“
„Ich liebe dich, Luke.“
Als er sie nur schweigend ansah, wurde ihr vor Aufregung übel. Oder lag es etwa an ihrem Blutzuckerspiegel? „Sag etwas, oder du musst mich wieder ins Waschbecken tauchen.“
Mit zwei großen Schritten war er bei ihr und nahm sie in die Arme. „Ich liebe dich auch, und es tut mir leid, dass ich weggegangen bin.“
„Mir nicht, obwohl die letzten Wochen die Hölle waren. Ich habe die Zeit gebraucht, um zu dir zu gelangen.“
„Jetzt bleiben wir für immer zusammen“, raunte er ihr ins Ohr. Dann küsste er sie so leidenschaftlich, dass ihr schwindlig wurde wie nie zuvor.
Schwindlig vor Glück.
– ende –