Auf dem Rückweg legte sich Beths Aufregung nur langsam, obwohl sie fand, dass sie das Schlimmste überstanden hatte. Alles andere würde sie auch bald hinter sich gebracht haben, denn Pierre hatte ja vor, ihren Fall schnell abzuwickeln.
Er war geradezu gelassen gewesen, während ihr das Herz beim Wiedersehen bis zum Hals geschlagen hatte.
Leider war er noch attraktiver geworden. Aber abgesehen davon erkannte sie ihn kaum noch wieder. Aus dem schüchternen, musisch begabten jungen Mann war ein pragmatischer Geschäftsführer geworden, von dem sie nichts Gutes zu erwarten hatte.
Mit festen Schritten nahm sie den kürzesten Weg über die Wiese und steuerte das eine der beiden neunzig Jahre alten Landhäuser an, in dem sich inzwischen der Außerhausverkauf und der Ausschank der Weinproben befanden.
Die rustikalen Tische und Bänke, die davor im Schutz von Sonnenschirmen auf dem Rasen standen, waren alle noch unbesetzt. Beth öffnete die Glastür und ging hinein. Auch drinnen waren keine Gäste, nur Tasha bei der Arbeit.
„Ach, du bist es nur“, sagte sie und sah von der Weinkarte auf.
„Nette Begrüßung“, murmelte Beth, nahm auf einem der Barhocker Platz und stützte die Ellbogen auf den Tresen. „Aber die kannst du wiedergutmachen, indem du heute zum Abendessen zu mir kommst. Wehe, du hast keine Zeit!“
Tasha stützte sich auch auf den Tresen auf. „Und warum, wenn ich fragen darf?“
„Weil ich Pierre zum Essen einladen musste und auch Maurice dazu bitten möchte. Ich brauche dich als weibliche Unterstützung.“
„Aha. Auf einmal geht es doch nicht ohne mich.“
Beth sah sie schuldbewusst an. „Tut mir leid, dass ich dich vorhin herauskomplimentiert habe. Verzeihst du mir?“
„Hm. Je ne sais pas“, erwiderte Tasha schnippisch.
„Komm, sei nicht so. Es gibt auch dein Lieblingsdessert.“
Sofort ließ Tasha sich erweichen. „Soll ich den Wein mitbringen?“
„Ja, bitte. Aber such gute Tropfen aus.“
„Mach ich. Aber nur, wenn du mir erklärst, warum du mir verschwiegen hast, dass Pierre Laroche kein Unbekannter für dich ist.“
Beth seufzte. „Weil es so lange her ist. Sein Vater, Thierry, war mit meinem Vater befreundet. Dad hat mich zu ihm geschickt, damit ich den französischen Weinanbau kennenlerne.“
„Ich weiß, dass du deshalb in Frankreich warst, aber Pierre hast du nie erwähnt.“
„Es gab und gibt nichts zu erzählen.“
Tasha sah sie nachdenklich an. „Okay“, sagte sie endlich. „Und Maurice willst du auch einladen?“ Sie rollte vielsagend mit den Augen.
„Ich bitte dich um mehr Respekt gegenüber dem Mann, mit dem ich ausgehe, meine Liebe.“
Tasha seufzte. „Nichts gegen Maurice, aber ihr passt einfach nicht zusammen. Du solltest endlich reinen Tisch machen.“
„Wieso? Glaubst du, es schadet jemandem, wenn wir uns hin und wieder treffen?“
„Nein. Ach, ich weiß nicht und will mich eigentlich auch nicht einmischen. Und wie ist es mit Pierre? Bist du noch immer an ihm interessiert?“
„Nein. Wie kommst du denn darauf?“
„Nun, ich hätte Lust, ein bisschen mit ihm zu flirten. Wenn du keine Ansprüche auf ihn erhebst, könnte ich heute Abend gleich damit anfangen. Oder?“
Beth sah auf ihre Hände und rang sich ein Lächeln ab. Es machte ihr etwas aus. Leider. Es machte ihr sogar viel aus. Aber das durfte sie nicht zugeben. Also machte sie gute Miene zum bösen Spiel. „Was du in deiner Freizeit tust, geht mich nichts an“, sagte sie so nonchalant wie möglich. „Aber bitte keine Flirts während der Arbeitszeit.“
„Versprochen!“ Tasha strahlte sie an.
Auf dem Weg zu ihrem Büro dachte Beth über ihre Beziehung zu Maurice nach. Es war nicht das erste Mal, dass Tasha sie daraufhin angesprochen hatte. Nach der Enttäuschung mit Pierre war Maurices Zuneigung Balsam für ihre Seele und ihr verletztes Selbstbewusstsein gewesen. Bis heute empfand sie es als angenehm, ja auch als praktisch, ihn jederzeit anrufen zu können, wenn sie einen Begleiter brauchte. Sie empfand Sympathie und eine gewisse Dankbarkeit für ihn. Aber das reichte natürlich nicht für eine Beziehung.
Als sie die Tür zu ihrem Büro aufstieß, wäre sie fast mit dem Kellermeister zusammengeprallt. „John, hast du mir einen Schrecken eingejagt! Was machst du denn hier?“
Er entschuldigte sich. „Ich wollte dich fragen, wie viele Bestellungen vorliegen.“
„Da muss ich nachsehen.“ Und schon war sie – endlich – wieder in ihrem Element. Maurice und Pierre spielten keine Rolle mehr.
Als Pierre aufwachte, griff er sofort zur Uhr auf dem Nachttisch. So spät schon? Er hatte stundenlang tief und fest geschlafen. Vielleicht hätte er sich nicht ins Bett, sondern auf eines der Sofas legen sollen. Nun musste er sich beeilen, um halbwegs pünktlich bei Beth zum Abendessen zu erscheinen.
Eigentlich war es nicht seine Art, Verabredungen zu verschlafen. Vielleicht lag es daran, dass er auch die Nächte vor dem Flug meist wach gelegen und gegrübelt hatte. Seit Frank ihm den Auftrag erteilt und ihn hergeschickt hatte, war er innerlich nicht mehr zur Ruhe gekommen.
Er sprang unter die Dusche, rasierte sich, holte frische Wäsche, Jeans und ein Poloshirt aus dem Koffer. Seine Gastgeberin hatte sich schließlich gewünscht, dass er in Freizeitkleidung erschien.
Auf dem Weg hatte er zum ersten Mal Augen für die Gegend, in der Beth lebte. Erstaunlich, wie sehr diese Landschaft ihn an seine Heimat erinnerte. Dabei gab es hier ganz andere Bäume, vor allem Eukalyptus. Aber wie im Rhônetal wuchsen auch im Barossa Valley Weinstöcke an den Hängen.
Nachdem er an den modernisierten Kellereigebäuden vorbeigegangen war, fand er Beths Haus sofort und folgte dem unbefestigten Weg, der bis vor die Eingangstür führte. So alt wie die Scheune wirkte das Haus zwar nicht, aber es war auch nicht neu. Dafür war es nur einstöckig, umgeben von Verandas und beschattet von hohen Gummibäumen. An der Eingangstür gab es keine Klingel. Also klopfte er, um sich bemerkbar zu machen.
Doch drinnen rührte sich nichts. Er klopfte noch einmal. Lauter. Endlich hörte er Schritte. Dann wurde die Tür aufgerissen. Beths herzliches Lächeln erstarb, als sie ihn sah. Offenbar hatte sie jemand anderen erwartet. Ihre höfliche Miene versetzte ihm einen Stich.
„Oh, du schon?“
Er verstand nicht. „Ich dachte, ich wäre zu spät.“
„Nein. Es ist erst halb sieben. Egal. Komm doch herein!“
„Gleich nach der Landung habe ich meine Uhr umgestellt“, sagte er, während er ihr ins Haus folgte. „Und darauf ist es jetzt genau fünf Minuten nach sieben.“
„Das gilt für Sydney. In Südaustralien ist es eine halbe Stunde früher.“
„Oh, dann entschuldige bitte.“
„Kein Problem. Du kannst dich zu mir setzen oder draußen auf die Veranda. Ganz wie du willst. Ich bin noch mit dem Salat beschäftigt.“
Pierre betrat die große, helle Küche. In der Mitte befand sich ein großer Esstisch. Er zog einen Stuhl hervor und setzte sich. Beth ging an die Arbeitsplatte und schnitt Zutaten klein.
„Kann ich dir helfen?“, fragte er. „Vielleicht Weinflaschen öffnen?“
„Danke. Die bringt Tasha mit.“
„Hast du in deinem Haus keinen Weinvorrat?“
„Doch, natürlich. Aber wir wollen dich den Premium und noch ein paar andere Sorten probieren lassen, damit du weißt, für welche Weine wir bekannt sind. Du musst dich gedulden, bis Tasha kommt.“
Er nickte. Die Arbeit würde also schon heute Abend beginnen. Das war gut. Je eher er den Betrieb und die Qualität der Produkte kennenlernte, desto besser. Er verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte sich zurück und sah sich um. Wohnlich, aber ganz und gar nicht ländlich wirkte hier alles. Er betrachtete die farbenfrohen abstrakten Bilder an den Wänden. Hatte Beth sie gemalt?
Früher war sie sehr an Kunst interessiert gewesen. Eine von vielen gemeinsamen Vorlieben. Aber immerhin war diese der Auslöser für den Beginn ihrer Beziehung gewesen. Sie hatten zusammen den Louvre in Paris besucht und dafür drei Tage veranschlagt. Übernachtet hatten sie zwei Mal brav voneinander getrennt in einem Hostel und wollten am Abend des dritten Tages mit dem Zug zurückfahren.
Dann aber hatten sie den Zug verpasst, weil sie im Museum die Zeit vergaßen. Das Hostel war für diese Nacht ausgebucht, ihr Reisebudget arg zusammengeschmolzen. Also sahen sie sich gezwungen, ein Einzelzimmer in einem schäbigen Hotel zu mieten. Darin stand ein schmales französisches Bett mit einer Kuhle in der Mitte … Anfänglich hatten sie darüber gelacht, als sie dort immer wieder hineinkullerten. Aber dann …
Weiter durfte er jetzt nicht denken.
„Gefallen sie dir nicht?“, fragte Beth.
„Wie bitte?“
„Du siehst dir die Bilder an und schüttelst den Kopf. Ich weiß, dass du abstrakte Kunst nicht magst. Aber findest du sie wirklich so unmöglich?“
„Nein, ich meine …“ Er versuchte, sich wieder auf die Gemälde zu konzentrieren. „Ich finde sie interessant“, sagte er schließlich. „Sind sie von dir?“
„Ja.“
„Das dachte ich mir. Sie haben deine Ausstrahlung.“
Beth zuckte zusammen.
Am liebsten hätte er sich für diese Bemerkung geohrfeigt. Wenn sie sich an früher auch nur halb so gut erinnerte wie er, dann bestimmt auch an seine Hymnen auf ihre Ausstrahlung. Wie sehr hatte er ihre Lebensfreude, ihr Lachen, ihre Abenteuerlust geschätzt und versucht, seine Bewunderung mit Worten auszudrücken. Die Intensität, mit der sie lebte, war überwältigend gewesen. Er hatte sich Hals über Kopf in Beth verliebt …
„Ich glaube, ich warte draußen auf der Veranda“, sagte er und stand auf.
Es war ein Fehler gewesen, nach Australien zu kommen. Er hatte sich nicht im Griff. Er vergaß zeitweilig, warum er hier war. Damit würde er Probleme heraufbeschwören. Er hatte hier zwar keine besonders schwierige Aufgabe zu erledigen, aber Ablenkung konnte er sich trotzdem nicht leisten. Deshalb musste er jetzt allein sein.
Beth sah Pierre nach, wie er über die Terrasse hinaus auf die Wiese ging, und atmete erleichtert aus.
Sein vom Duschen noch feuchtes dunkles Haar lockte sich jungenhaft. Ausgeschlafen und rasiert wirkte er viel umgänglicher. Sein Aftershave, das immer noch in der Luft hing, betörte sie geradezu. Auch fand sie, dass ihm Jeans und Polohemd noch besser standen als der Anzug. Als sie sich kennenlernten, hatte er ebenfalls Freizeitkleidung getragen.
Damals hatte sie sich in ihn verliebt und sich in seiner Anwesenheit wie im siebten Himmel gefühlt. Vielleicht, weil er offen zeigte, wie sehr er ihre Nähe genoss. Wie sehr er ihre Eigenarten schätzte. Was andere als Ruhelosigkeit bezeichneten, empfand er als Lebenskraft. Ihre Versponnenheit als Fantasie und Kreativität. Sie hatte sich von ihm geliebt gefühlt. Zumindest hatte sie sich das eingebildet.
Pierre hatte ihr zu neuem Selbstvertrauen verholfen. Doch kaum hatte sie sich so akzeptiert, wie sie war, hatte er sie zurückgestoßen. Weil sie ihm jedes Wort geglaubt hatte, war der Schmerz danach auch so überwältigend gewesen.
Sie griff wieder zum Messer und schnitt die Karotten in kleine Würfel. Die Beziehung zu Pierre gehörte der Vergangenheit an. Daran durfte sie keinen Gedanken mehr verschwenden. Jetzt war er als Vertreter des Hauptbesitzers ihrer Kellerei hier. Sie musste ihm mit Höflichkeit und Respekt begegnen und den richtigen Ton für eine gute Zusammenarbeit finden.
Ihre Gefühle musste sie für sich behalten und verdrängen. Sie konnte es sich nicht leisten, die berufliche Beziehung zu Pierre zu belasten. Wenn ihr das nicht gelang, setzte sie nicht nur das Lebenswerk ihres Vaters aufs Spiel, sondern auch den eigenen Seelenfrieden.
Nachdem der Salat fertig war, stellte sie die Schüssel in den Kühlschrank und ging nach draußen, um nach dem Grillfleisch zu sehen. Als sie den Deckel vom Kessel nahm, stieg ihr der Duft von Knoblauch und Rosmarin in die Nase. Das Fleisch konnte noch eine Weile auf dem Feuer bleiben.
„Riecht köstlich.“
Sie drehte sich schnell um. Pierre war hinter sie getreten. „Ist kinderleicht zuzubereiten“, sagte sie, und ihr Herz klopfte dabei wild. „Ich bin keine besonders raffinierte Köchin.“
Er zuckte die Schultern. „Bestimmt raffinierter als ich. Ich kann gar nicht kochen.“
Das wunderte sie nicht. Seine Mutter hatte niemanden in die Küche gelassen. Das war ihr Reich gewesen. Aber später hätte er es lernen können. Oder aß er nur noch in Restaurants, seitdem er bei seinen Eltern ausgezogen war?
„Kommst du in der Scheune zurecht? Meinst du, du kannst es dort aushalten?“, fragte sie und stieg schnell die Stufen zur Veranda wieder hinauf.
„Ja, danke. Nur habe ich bisher noch keinen Internetanschluss gefunden. Ich möchte meine Mails checken.“
„Oh, tut mir leid. Das geht in der Scheune nicht. Auf ausdrücklichen Wunsch der Gäste. Sie möchten sich erholen und nicht arbeiten. Aber in meinem Büro gibt es selbstverständlich eine Verbindung. Du kannst sie gern nutzen.“
„Heute muss es noch nicht sein. Aber vielleicht morgen früh?“
„Selbstverständlich. Gern.“
Eine Autotür klappte zu.
„Ich glaube, die anderen sind gekommen. Bevor sie da sind …“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ich habe niemandem verraten, weshalb du hier bist. Das heißt, sie denken, du stattest uns nur einen Routinebesuch ab. Aber die australischen Vorstandsmitglieder sind natürlich darüber informiert, dass mein Job … Na, ja, du weißt schon …“
„Verstehe … Und wahrscheinlich hast du auch niemandem erzählt, dass wir uns von früher her kennen.“
Beth hielt seinem forschenden Blick stand. „Doch. Sie wissen, dass ich mein Handwerk bei deinem Vater gelernt habe.“ Sie zeigte auf den mit einem weißen Tischtuch gedeckten Esstisch auf der Veranda. „Setz dich doch!“
In der Küche fand sie Tasha vor, die schon dabei war, Flaschen zu öffnen. Als diskret konnte man ihren kurzen Lederrock und das ausgeschnittene hautenge Top nicht gerade bezeichnen. Allerdings hatte sie die Figur dafür. Und Beth wusste auch, dass Tasha, die vor Jahren Witwe geworden war, inzwischen das Alleinsein satt hatte.
„Hallo, Kleine“, sagte Tasha. „Ist Pierre schon da?“
„Ja. Er kam zu früh, weil er seine Uhr auf Sydney-Zeit gestellt hatte.“
Tasha kicherte, und ihre Kreolen klingelten dabei. „Was ist mit Maurice?“
„Der kommt schon noch. Du weißt ja, wie er ist.“
„Rücksichtslos?“
„Nein, ich meinte beschäftigt.“
„Ja, ja.“ Tasha griff zu dem Tablett, auf den sie den Wein gestellt hatte.
Beth holte die Salatschüssel aus dem Kühlschrank und folgte ihr nach draußen. Dort sah sie gerade noch, wie Pierres Augen flackerten, als ihre Freundin das Tablett auf dem Esstisch absetzte. Obwohl er Tasha nur freundlich begrüßte, durchfuhr Beth glühende Eifersucht. Dieses Gefühl hatte sie seit vielen Jahren nicht mehr verspürt.
Gut, dass in diesem Moment eine Tür zuschlug und sie Grund hatte, zurück ins Haus zu eilen.
„Hallo, Beth. Danke für die Einladung“, rief Maurice ihr entgegen. „Bin gespannt auf das hohe Tier aus Frankreich.“
„Pst. Nicht so laut! Ich möchte nicht, dass er dich so sprechen hört.“
„Ich wusste ja nicht, dass er so gut Englisch versteht.“ Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Beth griff nach einer zweiten Schüssel, ging damit vor und machte draußen die beiden Männer miteinander bekannt.
„Sie sind also der Mann, der aus Beth eine Bilderbuchmanagerin machen will“, sagte Maurice und streckte die Hand aus.
Pierre warf ihr einen fragenden Blick zu. „Ich bin nur zu einem Routinebesuch hier“, sagte er dann.
„Verstehe. Bei Beth ist nämlich Hopfen und Malz verloren.“ Maurice lachte auf. „Keine knallharte Managerin empfängt Geschäftspartner in einer solchen Aufmachung.“
Beth sah beschämt an ihrem indischen Baumwollkleid hinunter.
„Sie ist eben eine Individualistin“, sagte Tasha in scharfem Ton. „Daran ist wirklich nichts Falsches, Maurice.“
„Hallo, Tasha. Wie ich sehe, fährst du das Beste auf, was euer Keller zu bieten hat.“ Er lächelte, und sein Blick klebte an ihrem Ausschnitt.
Beth drehte sich um, froh, dass sie sich um das Fleisch kümmern musste. Als sie mit der Platte zurückkam, pfiff Maurice bewundernd. „Na, du hast dir heute aber Mühe gegeben!“
„Es ist nichts Besonderes.“
Tasha lenkte Maurice ab, indem sie ihm Wein einschenkte.
„Aber der Tropfen ist besonders. Sonst bekomme ich nie von dem berühmten Century Hill Shiraz angeboten.“
„Dieser trockene Rotwein hat eine Auszeichnung bekommen“, sagte Tasha, als sie Pierres Glas füllte. „Als Beths Vater ihn Anfang der achtziger Jahre herzustellen begann, konnte er nicht mit so einem Erfolg rechnen. Was anfänglich als Kopie der Rhôneweine galt, wird inzwischen wegen seiner eigenen Qualität geschätzt.“
Beth beobachtete Pierre, als er den ersten Schluck nahm und dann nachdenklich die Flüssigkeit im Glas betrachtete. Auf sein Urteil war sie wirklich gespannt. Er wusste praktisch alles über Weine. Schließlich war er auf einem Weingut in einem weltberühmten Anbaugebiet aufgewachsen und hatte sich ebenso für die Herstellung interessiert wie sie. Und er wusste die Qualität eines Weines herauszuschmecken.
Als sich zwischen seinen Brauen eine kleine Falte bildete, fühlte sie einen ziehenden Schmerz in der Brust. Dann hefteten sich seine dunklen Augen auf sie. Diesmal wich sie seinem Blick aus. Sie wollte nicht, dass er ihre Gefühle und Gedanken erriet. Sie gingen ihn schon lange nichts mehr an.
Weil allen das Essen schmeckte, entspannte Beth sich schließlich und überließ Tasha das Feld.
„Beim Kochen verwende ich nie Wasser, sondern nur Wein.“
Alle lachten. Unwillkürlich sah Beth zu Pierre. Auch er schaute sie an, und seine Augen lächelten. Zum ersten Mal, seit er hier war. Ihr lief ein heißer Schauer den Rücken hinunter.
Er griff nach der leeren Weinflasche und betrachtete sie. „Was verbirgt sich hinter dem Etikett?“ Die Frage war an Beth gerichtet.
„Century Hill?“ Sie lächelte, als sie die alte Geschichte zu erzählen begann. „Mein Vater hat das Land von Nachfahren der Winzer gekauft, die diese Gegend urbar gemacht haben und Shiraz mit Erfolg anbauten. Als er seinen ersten Wein von diesen Trauben probierte, wusste er sofort, dass er mit dem Weingut einen guten Griff getan hatte.“
Pierre hörte ihr aufmerksam zu. Seine dunklen Augen erschienen ihr wie ein Tunnel. Plötzlich fiel ihr nichts mehr ein, und sie verlor sich in den kleinen Fältchen in seinen Augenwinkeln.
„Aus dem Shiraz machen wir immer noch unsere meisten Weine“, half Tasha ihr auf die Sprünge. „Auch für den Century Hill wird die Traube verwendet.“ Sie schenkte nach. „Ich habe den Jahrgang 2002 ausgesucht, weil er als der beste gilt. Er stammt aus einer fabelhaften Ernte. Was sagen Sie dazu?“
Endlich gaben Pierres Augen sie frei. Beth nippte rasch an ihrem Glas und versuchte, ihrer Aufregung Herr zu werden. Sie durfte sich von ihm nicht hypnotisieren lassen wie ein Kaninchen von der Schlange. Für sie stand zu viel auf dem Spiel.
Tasha sah Pierre erwartungsvoll an und wartete auf Antwort. Er wirkte nachdenklich. Für ein paar Sekunden herrschte Schweigen am Tisch.
„Machen Sie eigentlich Krafttraining?“, platzte Maurice plötzlich heraus.
Beth hätte am liebsten losgeprustet, so absurd kam ihr der Themenwechsel vor.
„Ich bin geradezu süchtig danach“, fuhr Maurice fort. „Haben Sie Lust mitzukommen? Sie könnten als Gast in meinem Fitnessstudio trainieren.“
Pierre sah ihn an, als suchte er verzweifelt nach einer Antwort. Mit Maurices poltriger Art konnte er offenbar wenig anfangen. Freiwillig hätte er bestimmt nicht seine Gesellschaft gesucht.
„Ich muss Sie enttäuschen“, sagte er schließlich. „Training an Maschinen liegt mir überhaupt nicht. Aber ich jogge. Täglich, wenn es sich einrichten lässt. Und zwar so früh am Morgen, wie es nur geht.“
„Jeder nach seiner Fasson. Beth konnte ich auch nicht dazu überreden. Sie ist total auf Yoga fixiert.“ Maurice rollte mit den Augen.
„Na und? Was ist falsch daran?“, sagte Tasha. „Ich möchte es auch gern einmal ausprobieren. Beth meint, es wäre sehr entspannend.“
„Sport ist doch nicht zur Entspannung da!“ Maurice schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. „Er soll stark machen. Lass dich bloß nicht von Beth zu diesem Hippiekram verführen. Stell dir vor, jetzt will sie sogar noch meditieren lernen. Das ist doch auch wieder so ein esoterischer Quatsch.“
„Weder esoterisch noch Quatsch“, sagte Beth. „Sondern eine bewährte Methode, um den Kopf frei zu bekommen. Jedenfalls besser als herumzusitzen und nichts zu tun.“
Was für einen Unsinn redete sie da? Auf einmal brach das Lachen aus ihr heraus. Tasha stimmte mit ein, dann auch Pierre. Sie konnten gar nicht wieder aufhören zu lachen.
Maurice blieb ernst und schüttelte den Kopf. Für unfreiwillige Komik fehlte ihm der Humor.
Beth sprang auf. „Ich hole das Dessert.“
Kurz darauf stand sie vor dem geöffneten Kühlschrank und hatte vergessen, was sie hier eigentlich machen wollte. Stattdessen musste sie an Paris denken, wo Pierre und sie so vieles miteinander geteilt hatten. Das Lachen und das Bett.
„Alles in Ordnung?“ Tasha stellte das schmutzige Geschirr auf der Arbeitsplatte ab.
„Ja, natürlich. Warum?“
„Weil du plötzlich davonläufst, um dann in den Kühlschrank zu starren. Was ist los mit dir?“
„Gar nichts. Ich habe nur nachgedacht.“ Beth holte den Bienenstich heraus. Sie kannte eine Bäckerei, wo man diesen deutschen Kuchen kaufen konnte, auf den Tasha ganz versessen war.
„Oh, du hast tatsächlich noch welchen bekommen!“
„Hab ich dir doch versprochen.“
„Wenn ich zwischen Bienenstich und Pierre zum Nachtisch wählen müsste …“
„Hör auf!“ Bett griff zu einem großen Messer und schnitt den Kuchen auf. „Hände weg von Kunden und Geschäftspartnern.“
„Was spricht dagegen, dass man sich die Arbeit versüßt?“ Tasha kicherte, holte frische Gläser aus dem Schrank und ging wieder hinaus.
Beth hatte es nicht eilig, ihr zu folgen. Als sie zu den anderen stieß, schenkte Tasha gerade eine goldene Flüssigkeit ein.
„Das ist ein Santo-Dessertwein. Erfrischend und würzig. Zu Bienenstich einfach köstlich.“ Sie prostete Pierre zu. „Sie sollten zu unserem Winzeressen kommen. Es findet morgen Abend statt. Dann können Sie sich selbst davon überzeugen, wie sehr unsere Kunden die Weine schätzen. Sie glauben nicht, wie viele Bestellungen wir nach jedem Essen aufnehmen. Das war ein genialer Marketingeinfall von Beth.“
Beth reagierte nicht auf Tashas Lob, sondern tat jedem von dem Kuchen auf.
„Wein ist zum Trinken da. Gespräche darüber sind sterbenslangweilig“, brummte Maurice vor sich hin.
Beth schaute ihn kritisch an. Hatte er mehr getrunken als sie und die anderen? Manchmal schenkte er sich selbst nach, und dann konnte er aufsässig werden.
„Ich würde gerne kommen. Aber nur, wenn es Beth recht ist“, antwortete Pierre.
Tasha lachte. „Natürlich hat sie nichts dagegen.“
„Du bist selbstverständlich willkommen.“ Das hatte Beth sagen müssen, obwohl es ihr gar nicht gefiel, ihn auch noch abends um sich zu haben. Am liebsten hätte sie Tasha die Leviten gelesen.
„Sind Sie verheiratet?“ Diesmal stellte ihre Freundin eine unpassende Frage. Die Antwort sollte Beth eigentlich gar nicht interessieren. Doch als Pierre zögerte, war sie so aufgeregt, dass sie ihren Bissen nicht hinunterschluckte.
„Geschieden“, sagte er schließlich.
Dann klirrte es. Beth war die Kuchengabel aus der Hand auf den Teller gefallen. „Hast du etwa Arlette geheiratet?“, stieß sie mit noch vollem Mund hervor.
Er nickte.
Das war doch … Maurices und Tashas Blicke brannten auf ihren Wangen. Sie wusste nicht, wohin sie schauen sollte. Wahrscheinlich konnten alle ihr den Schmerz ansehen, der sie förmlich zerriss. Arlette! Sie wandte den Kopf und schloss die Augen. Selbstverständlich hatte er Arlette geheiratet. Dieses Mädchen war wie geschaffen für ihn gewesen. Vornehm, elegant … französisch. Alles, was Beth nicht war. Aber warum hatte die Ehe nicht gehalten?
„Und haben Sie auch Kinder?“
Beth hielt den Atem an.
„Ja, einen Sohn.“
„Oh.“ Tashas Stimme klang mitfühlend. „Sehen Sie ihn oft?“
„Nicht so oft, wie ich gern würde.“
Beth wagte einen Blick. Pierre wirkte ernst, wenn nicht gar traurig. Die Situation musste ihn sehr belasten.
„Ich bin aus beruflichen Gründen viel unterwegs“, sagte er.
„Moment mal!“ Maurice hob die Hand. „Ich komme nicht mit. Bin ich begriffsstutzig oder habt ihr mir vergessen zu sagen, dass Beth und Pierre sich nicht erst heute kennengelernt haben?“ Er drohte mit dem Zeigefinger.
Beth nickte.
„Aber warum nicht? Wolltet ihr es mir verheimlichen?“
„Nein.“
„Es ist Schnee von gestern, Maurice.“ Tasha lächelte ihn an. „Du weißt doch, dass Beth ihren Beruf in Frankreich gelernt hat. Bei Pierres Vater.“
„Ach so. Stimmt.“ Er unterdrückte ein Gähnen. „Leute, ich bin schrecklich müde und muss morgen früh wieder hoch. Lasst euch nicht stören. Es war nett, Sie kennengelernt zu haben, Pierre.“
Auch Beth erhob sich. „Bitte, entschuldigt mich.“ Sie folgte Maurice ins Haus. „Du solltest jetzt nicht mehr fahren“, sagte sie, sobald sie die Küchentür hinter sich zugemacht hatte.
„Na, du hast Nerven! Erst lässt du einschenken, um deinen Gast zu beeindrucken, und dann unterstellst du mir, dass ich betrunken bin. Bin ich aber nicht. Genauso wenig wie Tasha. Willst du ihr auch verbieten, Auto zu fahren?“
„Das würde ich, wenn sie fahruntüchtig wäre. Aber sie hat von allen Weinen nur genippt. Sei doch vernünftig, Maurice. Du kannst im Gästezimmer übernachten. Morgen früh, wenn du wieder nüchtern …“
„Ich bin so gut wie nüchtern. Und morgen früh habe ich einen Kundentermin.“
„Warum müssen wir uns immer über dasselbe streiten?“, fragte sie müde.
„Weil du in dieser Einöde lebst und von mir erwartest, dass ich zu dir komme, wenn du nur mit dem Finger schnippst.“
„Du bist ungerecht.“
„Ungerecht? Ich kann dir sagen, was ungerecht ist, Beth …“
„Störe ich?“ Tasha war in die Küche gekommen.
„Auch das noch“, stöhnte Maurice und marschierte zur Haustür.
„Bleib hier!“, rief Beth ihm nach.
Er warf die Tür hinter sich ins Schloss.
„Du bist nicht seine Mutter“, sagte Tasha. „Hör auf, ihm zu sagen, was richtig für ihn ist.“
„Hör du auf, mir gute Ratschläge zu geben. Ich will nur verhindern, dass er sich umbringt.“ Beth schnappte nach Luft. „Sich oder andere.“ Dann rannte sie ihm nach.
Maurice war schon dabei, den Sicherheitsgurt anzulegen. Sie klopfte an das Seitenfenster. Er rollte genervt mit den Augen, ließ es aber hinunter. „Was denn noch?“
Sie beugte sich zu ihm. „Es ist mir ernst damit, Maurice. Bitte, bleib hier. Ich kann nicht mit jemandem zusammen sein, der betrunken Auto fährt.“
„Erstens bin ich nicht betrunken, und zweitens habe ich morgen früh Verpflichtungen. Also fahre ich.“
„Gut.“ Sie richtete sich auf. „Dann ist es wohl besser, wir sehen uns nicht mehr.“
„Von mir aus.“ Er ließ die Scheibe wieder hoch, gab Gas und fuhr davon.
Beth sah ihm nach und fühlte nichts als Erleichterung. Kopfschüttelnd ging sie ins Haus zurück.
Tasha hatte in der Küche auf sie gewartet. „Was ist passiert?“
„Wir haben Schluss gemacht.“
„Und wie geht es dir damit?“
Beth zuckte die Schultern. „Nicht schlecht. So leicht ist es mir noch nie gefallen.“
Sie sahen sich eine Weile schweigend an. Dann erinnerte Tasha sie an ihren Gast. „Er sieht ziemlich mitgenommen aus nach der langen Reise.“
Beth nickte und ging hinaus auf die Veranda. „Möchtest du noch einen Kaffee?“, fragte sie höflich.
„Gern, wenn es dir keine Mühe macht“, erwiderte Pierre.
„Überhaupt nicht. Währenddessen packe ich deinen Frühstückskorb.“
„Ich möchte keinen Kaffee mehr. Ich bin reif fürs Bett.“ Tasha schenkte Pierre ein vielsagendes Lächeln. Dann verschwand sie.
„Komm gut nach Hause“, rief Beth ihr nach und setzte den Kaffee auf. Ordentlich stark, wie sie ihn bei ihrem Aufenthalt in Frankreich zu schätzen gelernt hatte.
Während sie die Zutaten für Pieres Frühstück zusammenstellte, musste sie doch wieder an Maurice denken. Sollte sie ihn nachher anrufen, um sicher zu sein, dass er heil nach Hause gekommen war? Nein, lieber nicht. Schluss war Schluss.
„Soll ich die Teller in den Geschirrspüler räumen?“
Sie zuckte zusammen und fuhr herum. „Herrje, hab ich mich erschrocken.“
„Tut mir leid.“
Als sie ihn ansah, klopfte ihr Herz noch stärker. Alles kam ihr plötzlich so unwirklich vor. Dass er hier in ihrer Küche stand. Dass er so banale Fragen an sie richtete. „Der Kaffee ist fertig“, sagte sie beklommen und trug das Tablett nach draußen. Dort setzten sie sich einander gegenüber an den Tisch.
„Wie lange bist du schon mit Maurice zusammen?“, fragte er.
„Eine ganze Weile.“ Sie schaute in ihre Tasse.
„Es geht mich zwar nichts an, aber ich finde, er ist gar nicht dein Typ.“
Sie trank einen Schluck. „Nein, das stimmt … Wir haben Schluss gemacht.“
„Oh, tut mir leid.“
Sie setzte ihre Tasse ab. „Du musst mich nicht bedauern. Es war sowieso nichts Ernstes.“
Pierre nickte.
„Wie lange warst du eigentlich mit Arlette verheiratet?“
Seine Augen verdunkelten sich. „Drei Jahre“, antwortete er nach einer Weile.
„Das ist nicht sehr lang.“
„Lang genug.“
„Wie alt ist euer Sohn?
„Neun.“
Unwillkürlich rechnete sie. Er musste kurz nach ihrer Abreise geheiratet haben. Das Herz wurde ihr schwer.
„Dann bist du seit sieben Jahren wieder allein?“
Er nickte.
Sie schwiegen eine Weile. „Ich war sehr traurig, als ich vom Tod deiner Eltern erfuhr“, sagte Beth leise.
„Das liegt schon ein paar Jahre zurück.“
„Ich weiß.“ Sie hatte lange mit sich gehadert, ob sie Pierre ihr Beileid ausdrücken sollte. Kurz nachdem seine Eltern sich in Südfrankreich zur Ruhe gesetzt hatten, waren sie bei einem Autounfall ums Leben gekommen. „Es muss sehr schmerzhaft für dich gewesen sein.“
„Dominique hat mehr darunter gelitten.“ Er fuhr sich durchs Haar. „Ich musste ihr die schlechte Nachricht überbringen.“
Seine jüngere Schwester war damals noch ein Schulmädchen gewesen. Es war ihm bestimmt sehr schwer gefallen, ihr vom Tod der heißgeliebten Eltern zu erzählen.
„Erst nach dem Tod deiner Eltern habe ich erfahren, dass sie die Weinberge verkauft hatten. Das hat mir irgendwie weh getan“, sagte Beth nach einer Weile.
Pierre zuckte zusammen. Er schob seine Tasse zurück und erhob sich. „Es ist spät geworden.“
Verlegen sah sie zu ihm auf. „Entschuldige! Ich wusste nicht, dass der Tod deiner Eltern noch immer ein schwieriges Thema für dich ist. Sonst hätte ich …“
„Ich bin darüber hinweg.“
Verwirrt registrierte Beth, dass er seinen Kaffee nur halb ausgetrunken hatte. Hatte sie etwas Falsches gesagt? Hätte sie den Verkauf der Weinberge nicht erwähnen dürfen? War dieser Angelegenheit eine Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn vorangegangen? Bereute Pierre inzwischen, dass er die Arbeit des Vaters nicht hatte fortsetzen wollen? So wie sie inzwischen bereute, nicht nach Hause gekommen zu sein, als ihr Vater sie darum gebeten hatte? Oh, sie kannte dieses Gefühl der Reue nur allzu gut!