Früh am nächsten Morgen, nach einer fast schlaflosen Nacht, versuchte Pierre, seine Gedanken abzuschalten und einfach nur zu laufen. Er hatte nicht übertrieben, als er Maurice erzählte, dass er täglich joggen ging. Nicht nur der Kondition wegen, sondern auch um Stress abzubauen.
Normalerweise gelang es ihm dabei, an nichts zu denken. Aber diesmal war es anders. Nach dem gemeinsamen Abend mit Babette … Beth korrigierte er sich sofort. Sie hatte darauf bestanden, dass er sie so nannte. Aber das war gar nicht so leicht für ihn. Auch in den Jahren der Trennung hatte er sie in Gedanken immer Babette genannt.
Wie gut, dass sie mit diesem Maurice Schluss gemacht hatte! Sie brauchte jemanden, der ihre Eigenarten schätzte. Der sie um ihrer selbst willen liebte. Jemanden, der sie nicht verändern wollte. Sie brauchte …
Pierre musste anhalten, weil er einen Wadenkrampf hatte. Er knetete die schmerzenden Muskeln und fragte sich wieder einmal, warum man ausgerechnet ihm diesen undankbaren Auftrag gegeben hatte.
Endlich gelang es ihm, die Fersen wieder auf den Boden zu drücken und die Muskeln zu dehnen. Warum machte er es sich nicht leicht? Suchte nach Belegen für Beths schlechtes Management, schrieb einen entsprechenden Bericht, der den Vorstand berechtigte, sie zu entlassen, und verschwand wieder. Stattdessen hatte er sich vorgenommen, gründlich mit ihr zu arbeiten. Ohne daran zu denken, dass die Vergangenheit sofort wieder lebendig wurde, sobald er sie nur ansah.
Er richtete sich auf und humpelte zurück. Wenn von diesem Auftrag nicht so viel abhängen würde, wäre Frank bei ihm auf Granit gestoßen. Da dies aber die Voraussetzung für seine Beförderung und seine Rückversetzung nach Frankreich war, hatte er nicht ablehnen können. Denn ohne die Rückkehr nach Frankreich konnte er den Prozess um das Sorgerecht nicht gewinnen.
Obwohl er lieber einen Anzug angezogen hätte, entschied er sich der Hitze wegen für leichte Baumwollhosen und ein weißes kurzärmliges Hemd. Mit dem Laptop in seiner Aktentasche ging er hinunter zum Büro und beobachtete dabei einen kleinen Traktor, der schließlich vor dem Eingang des Gebäudes anhielt.
Zu beiden Seiten des Feldwegs wuchsen knorrige Weinstöcke, deren Blattwerk von Drähten gehalten wurde, damit die Trauben von der Sonne beschienen wurden. Das waren die Shiraz-Reben, von denen Beth gesprochen hatte. Es war eine gute Geschäftsentscheidung ihres Vaters gewesen, sie zu erhalten. Unter Weinkennern hatte die Marke Century Hill einen guten Ruf. Seit gestern Abend, als Piere den Wein endlich probiert hatte, wusste er auch, warum dies so war.
Als er sich weiter umschaute, fiel ihm erneut auf, wie sehr diese Landschaft ihn an seine Kindheit erinnerte. Doch das war sinnlos. Sein Zuhause gab es nicht mehr. Selbst wenn er es gewollt hätte, konnte er dorthin nicht mehr zurückkehren.
Als er Beths Büro betreten wollte, hörte er von innen ihre klangvolle melodische Stimme. Dann ihr ansteckendes Lachen. Offenbar sprach sie mit jemandem, den sie mochte. Früher hatte sie in seiner Gegenwart so gelacht. Heute war sie ihm gegenüber höflich und zurückhaltend.
Er biss die Zähne zusammen, klopfte an und öffnete die Tür. Sofort hörte Beth auf zu sprechen und sah sich nach dem Eindringling um. Er hatte sie hinter dem Schreibtisch sitzend erwartet, doch sie saß darauf und ließ die Beine baumeln.
Erst auf den zweiten Blick nahm er ihre Kleidung wahr. Sie trug ein enges kurzes Oberteil, das ihre Taille freiließ und Shorts. Älter als achtzehn sah sie nicht aus, dabei war sie fast dreißig. Ohne es zu wollen, betrachtete er ihre langen gebräunten schlanken Beine bis hinunter zu den Füßen. Sie trug keine Schuhe. Typisch Babette!
Und dann … es verschlug ihm fast den Atem … entdeckte er an ihrem Fußgelenk das dünne Goldkettchen, das er in Paris gekauft und ihr später geschenkt hatte.
Hatte sie das Schmuckstück all die Jahre getragen? Trug sie es nur aus Gewohnheit? Erinnerte sie sich noch daran, woher sie es hatte?
„Guten Morgen, Pierre.“ Sie sprang vom Schreibtisch herunter. „Ich möchte dich mit unserem Gutsverwalter Clive Bauer bekannt machen.“
Pierre wandte den Kopf. Ein Mann kam mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. Er war genauso groß wie er und auch etwa im selben Alter. Braun gebrannt und gut aussehend. Brennende Eifersucht durchfuhr ihn, weil Beth mit diesem Kerl so vertraut umging. So sah also der Mann aus, mit dem sie lachte.
Sie gaben sich die Hand.
„Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen gern die Weinberge“, sagte Clive Bauer. „Es sind insgesamt hundertfünfzig Hektar. Fünfundvierzig mit Shiraz, vierzig mit Semillon, fünfundzwanzig mit Merlot, zwanzig mit Sauvignon, sechzehn mit Riesling und zwei Hektar jeweils mit Mourverdre und Grenache.“ Er holte Luft: „Und dann gibt es natürlich noch die Winzer …“
„Clive hält die Verbindung zu den anderen Weinbauern“, erklärte Beth. „Wir arbeiten mit fünfundzwanzig Winzern zusammen, deren Weingüter über das ganze Barossa Valley verstreut liegen. Unsere Weine verdanken ihre Komplexität den unterschiedlichen Wachstumsbedingungen des Südens und des Nordens.“
Pierre nickte. „Bestimmt haben Sie viel zu tun“, sagte er zu Clive. „Ein anderes Mal komme ich gern auf Ihr Angebot zurück.“
Clive verstand den Hinweis und verabschiedete sich.
Kaum war er draußen, wurde Beth wieder ernst. „Brauchst du eine Internetverbindung?“
„Ja, bitte.“
Hatte er sie bei ihrem Rendezvous mit dem attraktiven Clive gestört?
Sie stellte einen zweiten Stuhl an die Stirnseite ihres großen Schreibtisches, zeigte ihm die Steckdose und setzte sich dann an ihren eigenen Computer.
Eine ganze Weile arbeiteten sie schweigend. Schließlich stand Beth auf und schenkte jedem ein Glas Wasser ein.
„Danke“, sagte Pierre und sah hoch. „Darf ich dich etwas fragen?“
„Natürlich.“
„Ich habe mir die Bilanzen der letzten beiden Jahre angeschaut …“
Sie bekam Angst. Jetzt war es also so weit. Jetzt begann der Kampf um ihr Unternehmen. Sie reckte das Kinn. „Ja, und?“
„Du gibst viel Geld für Trauben von lokalen Winzern aus.“
„Findest du?“
„Du könntest bestimmt eine Menge sparen, wenn du bessere Konditionen mit ihnen aushandeln würdest.“
„Aushandeln?“ Ihr Magen verkrampfte sich. „Du meinst doch eher, ich sollte sie zwingen, mir ihre gesamte Ernte für einen Hungerlohn zu überlassen, oder?“
„Beth, du betreibst ein Geschäft. Und wenn die Winzer ihre Ware nicht billiger abgeben, musst du eben anderswo kaufen.“
„Machst du Scherze?“ Sie lachte auf, obwohl ihr gar nicht danach zumute war.
„Nein. Für das, was du jetzt zahlst, könntest du viel mehr Trauben bekommen und damit die Weinproduktion steigern.“
Sie hob die Hand. „Das kommt nicht infrage. Wir brauchen darüber gar nicht weiter zu diskutieren.“ Sie setzte sich wieder an ihren Platz und trank Wasser, um ihre Nerven zu beruhigen. Pierre seufzte. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass er sie für begriffsstutzig hielt und ihr jeglichen Geschäftssinn absprach.
„Ich habe gedacht, dass wenigstens du mich verstehst“, sagte sie zornig.
„Was willst du damit sagen?“
„Du kommst doch aus einer Winzerfamilie! Es war dein Vater, von dem ich gelernt habe, wie wichtig die Gegend ist, die Erde und all die anderen spezifischen Bedingungen, unter denen Trauben wachsen und reifen.“
Er lehnte sich zurück und betrachtete sie. Doch sie konnte ihm nicht ansehen, was er dachte.
„Mag sein. Aber du betreibst ein Geschäft und kein Hobby. Du bist den Aktionären gegenüber verpflichtet, alles zu tun, um den Profit zu erhöhen.“
„Hör auf, mich zu bevormunden!“
Eindringlich sah er sie an. „Das war nicht meine Absicht. Ich wollte dir nur einen Verbesserungsvorschlag unterbreiten. Du kannst meinen Rat annehmen oder nicht.“
„Was du Ratschlag nennst, untergräbt die Unternehmensphilosophie dieser Kellerei. Du willst, dass ich sie ändere, um L’Alliance zufriedenzustellen. Wenn ich es ablehne, all das zu zerstören, wofür mein Vater sein Leben lang gearbeitet hat, werde ich gefeuert. Das stimmt doch, oder?“
Seine Kiefermuskeln zuckten. „Du weißt, warum ich hier bin.“
„Natürlich. L’Alliance möchte mich loswerden.“
Darauf erwiderte er nichts, sondern wandte sich wieder seinem Laptop zu. Was hätte er auch sagen sollen?
„Pierre“, sagte sie ruhig. „Du sollst wissen, dass ich das Vermächtnis meines Vaters respektiere und die Arbeit in seinem Sinne fortsetzen möchte. Wenn ich deiner Empfehlung folgen würde, würde Lowland Wines aufhören zu existieren.“
Er erhob sich und ging zum Fenster. „Beth, Geschäft und Gefühl sollte man trennen. Wenn du mehr Erfahrung hättest, würdest du das beherzigen.“
Sie riss sich zusammen. „Wenn das wahr wäre, hätte mein Vater niemals dieses Unternehmen aufgebaut.“
Er drehte sich um, verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie an.
„Ich kenne die Geschichte von Lowland Wines nicht“, sagte er. „Du müsstest sie mir schon erzählen.“
„Nun …“ Warum sollte sie sich eigentlich die Mühe machen? Das interessierte ihn doch gar nicht. Andererseits konnte es auch nicht schaden, wenn er etwas von den Anfängen des Unternehmens wusste. Vielleicht war es sogar hilfreich.
„Mein Vater war Chefwinzer bei Box Tree Wines, einem Familienbetrieb, der inzwischen von Wesley geschluckt wurde, einem internationalen Konzern wie L’Alliance.“
„Ich kenne Wesley natürlich.“
„Das Unternehmen war nur am Vertriebsnetz von Box Tree interessiert, um darüber seine Spirituosen in Australien zu vertreiben. Die Weinproduktion wollten sie aufgeben. Kurz vor der Lese erhielt mein Vater von ihnen die Anweisung, keine Trauben bei den lokalen Winzern mehr zu kaufen.“
Sie trank einen Schluck Wasser.
„Dad war entsetzt. Er hatte mit den Winzern aus der Gegend immer Geschäfte gemacht und wusste, dass davon die Existenz vieler Familien abhing, die er von Kindheit an kannte. Deshalb weigerte er sich, vertragsbrüchig zu werden.“
Was ihr Vater getan hatte, erfüllte Beth noch immer mit Stolz. Sie würde den von ihm eingeschlagenen Weg nicht verlassen und L’Alliance die Stirn bieten, wenn es sein musste.
„Er bemühte sich um finanzielle Rückendeckung von einem Unternehmen in Adelaide und kaufte die Ernte aus eigener Tasche auf. Danach baute er diese Kellerei in Rekordzeit auf, verarbeitete die Früchte, und Lowland Wines war geboren. Er schwor sich, immer nur lokale Trauben zu keltern, auch wenn sie teurer waren als die von anderen Gegenden. Das ganze Tal sollte von seiner Arbeit profitieren. Wenn es ihm nur ums Geld gegangen wäre, hätte er von Anfang an alles anders gemacht.“
Pierre zuckte unbeeindruckt die Schultern. „Jetzt verstehe ich, was du gemeint hast. Aber dein Vater würde dir bestimmt auch raten, seine Prinzipien zu ändern, wenn du dadurch die Geschäftsleitung behalten kannst.“
Beth dachte einen Moment darüber nach. „Nein, das glaube ich nicht. Er hat immer gewollt, dass ich das Richtige tue. Ein Geschäft zu leiten, hinter dem man nicht steht, ist nichts wert.“
Der junge Pierre von vor zehn Jahren hätte ihr sofort beigepflichtet. Aber den heutigen durfte sie nicht einmal daran erinnern. Wenn sie überhaupt eine Chance hatte, Einfluss auf seinen Bericht zu gewinnen, dann nur, wenn sie sachlich blieb. Sie öffnete eine Schublade in einem Aktenschrank, holte feste Schuhe daraus hervor und zog sie an.
„Ich werde eine Inspektionsrunde durch die Weinberge machen. Wenn du möchtest, kannst du mich gern begleiten.“