6. KAPITEL

Pierre blieb eine Weile fassungslos auf der Brücke stehen. Dann machte er sich auf den Rückweg zum Hotel. Beth hatte ihn erneut zurückgewiesen. Würde er denn niemals dazulernen?

Er war doch bei klarem Verstand gewesen. Warum hatte er sie dann geküsst?

Weil sie so bezaubernd aussah? Weil sie diese faszinierende Mischung aus Verletzbarkeit und Tatkraft ausstrahlte? Jedenfalls hatte er sich nicht mehr zurückhalten können, sobald er sie in den Armen hielt, weil ihn die Erinnerung an ihre früheren Liebesnächte überwältigt hatte.

Keine Sekunde zweifelte er daran, dass sie ebenso empfand wie er. Dass auch in ihr die frühere Leidenschaft wieder erwacht war. Sie hatte seinen Kuss willkommen geheißen und ihn hingebungsvoll erwidert.

Er verstand noch immer nicht, warum sie ihn dann plötzlich von sich gestoßen hatte. Wie sollte er sich diese Frau jetzt aus dem Herzen reißen, wenn es ihm zehn Jahre lang nicht gelungen war?

Nun gut. Noch einmal würde ihm das nicht passieren. Wohin sollte das auch führen? Er gehörte nach Frankreich, nicht nach Australien. Er gehörte zu Philippe. Sein Sohn war alles, was ihm noch geblieben war. Er würde seine Zelte hier so schnell wie möglich abbrechen.

Am nächsten Morgen wagte Beth kaum einen Blick in den Spiegel. Verquollen sah sie aus. Von Schlaf und von Tränen. Scheußlich! Und mit diesem entstellten Gesicht musste sie neben Pierre nach Hause zurückfahren. Eingesperrt in ein Auto. Entweder in bedrücktem Schweigen oder mit gezwungenen Gesprächen die Zeit totschlagend. Ihr graute davor.

Wenigstens hatte sie für die Rückfahrt leichte Baumwollhosen und ein T-Shirt mitgenommen. Der Tee munterte sie ein wenig auf. Doch von dem Toastbrot, das sie sich aufs Zimmer bestellt hatte, bekam sie nur ein paar Bissen hinunter.

Im Fahrstuhl fragte sie sich, wie peinlich das Wiedersehen mit Pierre wohl ausfallen würde. Trotzdem konnte sie es kaum erwarten, bei ihm zu sein.

In der Hotelhalle entdeckte sie ihn sofort. Er saß in einem Sessel und las Zeitung. Die französische Le Monde, wie sie beim Näherkommen feststellte. Er musste also schon früh aufgestanden sein und sie sich am Bahnhof besorgt haben.

Las er wirklich so vertieft oder ignorierte er sie? Jedenfalls machte er keine Anstalten, sie zu begrüßen. Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung. Er sah aus wie ein Geschäftsmann, der sich über das Weltgeschehen informierte. Ihr Magen krampfte sich zusammen.

Vielleicht sollte sie so tun, als wäre nichts geschehen. Dann konnten sie wenigstens höflich miteinander umgehen.

„Wartest du schon lange?“, fragte sie.

Er ließ das Blatt sinken und stand auf. „Eine halbe Stunde.“

„Wollen wir los?“

Er faltete die Zeitung zusammen, klemmte sie sich unter den Arm und griff nach seiner Reisetasche. Ohne Beth dabei anzuschauen.

Während sie wie Fremde nebeneinander zu Tür gingen, folgten ihm die Blicke der Frauen. So war es gestern auch gewesen. Doch er machte nicht nur allein mit seinem Aussehen Eindruck, es war auch seine Ausstrahlung. Nur Beth schenkte ihm keine Aufmerksamkeit. Sie hatte sich Immunität gegen sein Charisma verschrieben.

„Gib mir bitte die Wagenschlüssel“, sagte sie und streckte die Hand aus.

Er gab sie ihr. „Wenn du möchtest, löse ich dich gern zwischendurch ab.“

„Danke, das wird nicht nötig sein.“ Sie freute sich auf das Fahren, es würde sie ablenken.

Widerspruchslos nahm Pierre auf dem Beifahrersitz Platz und machte glücklicherweise keine Anstalten, ihr zu helfen, als sie zweimal vergeblich versuchte, den Sicherheitsgurt einrasten zu lassen.

„Für das, was gestern auf der Brücke passiert ist, möchte ich mich bei dir entschuldigen“, sagte er, nachdem sie den Motor angelassen hatte. „Es war … ich war … na ja … ziemlich unprofessionell.“

„Lass uns nicht darüber sprechen. Ich möchte es einfach vergessen.“

„Ich auch.“

„Dann ist ja alles in Ordnung.“

Sobald Beth sich in den Verkehr eingefädelt hatte, machte Pierre es sich auf seinem Sitz bequem. Sie hoffte, dass er bald einschlafen würde, denn sie wusste nicht, worüber sie noch mit ihm sprechen sollte.

Als Beth den Wagen vor ihrem Haus parkte, öffnete Pierre die Augen. Sie hatte den Verdacht, dass er sich nur schlafend gestellt hatte. Dann stieg er aus und wartete darauf, dass sie den Kofferraum aufschließen würde.

„Hallo, ihr beiden! Wie ist es gelaufen?“, rief Tasha und kam auf sie zu.

„Gut, danke. Was macht deine Migräne?“

„Weg.“ Tasha hakte sich bei Pierre ein und lächelte ihn an. „Wie hat Ihnen das Essen gefallen?“

„Sehr gut.“ Er wirkte verlegen.

„Sehr gut?“ Tasha zupfte ihn am Ärmel. „Ist das alles? Finden Sie nicht, dass Beth das wunderbar macht?“

Er gab einen undefinierbaren Laut von sich.

„Ich habe meinen Laptop in deinem Büro stehen lassen“, sagte er dann zu Beth. „Hast du etwas dagegen, wenn ich dort weiterarbeite?“

„Nein, gar nicht. Ich habe selbst noch zu tun. Lass mich nur schnell meine Reisetasche ins Haus bringen, dann schließe ich dir auf.“

„Gut, ich gehe schon einmal vor. Bis gleich.“

Als Beth wieder nach draußen kam, wartete Tasha auf sie.

„Was hast du denn mit Pierre angestellt?“

Sie stellte sich dumm. „Wieso? Hat er sich über mich beschwert?“

„Nein. Aber irgendetwas stimmt nicht.“ Tasha sah sie skeptisch an. „Als ich zwischen euch stand, wurde mir plötzlich ganz kalt.“

„Unsinn! Wir sind nur etwas abgespannt. Das ist alles.“

Tasha schnaubte ungläubig. „Gut, du willst nicht darüber reden. Das ist dein gutes Recht. Aber ich dachte, wir wären befreundet.“

Beth sah sich gezwungen einzulenken. „Das sind wir auch. Du bist meine beste Freundin. Es ist nur so … Pierre und ich haben verschiedene Auffassungen, was das Management angeht.“ Sie seufzte.

„Ich möchte ihn einladen. Zum Abendessen bei mir. Hast du etwas dagegen?“

„Nein, warum sollte ich?“

„Nun, ich habe mich gefragt, ob nach dem Essen irgendetwas passiert ist … Zwischen euch, meine ich.“

Pierre wartete schon vor der Tür.

„Nein, gar nichts.“ Beth eilte voraus, um aufzuschließen. Um nichts in der Welt wollte sie Tasha von dem Vorfall erzählen. Ohne Pierre eines Blickes zu würdigen, ließ sie ihn hinein.

Kurz darauf betrat Tasha den Raum. „Ich möchte Sie heute zum Abendessen einladen“, sagte sie fröhlich.

„Hm. Ich weiß nicht …“

Er sah sich hilfesuchend nach Beth um. Doch sie behielt weiterhin Tasha im Blick und ließ ihn zappeln.

„Na gut“, sagte er schließlich.

„Freut mich, dass Sie kommen“, sagte Tasha. „Es wird bestimmt ein netter Abend. Ich kann Sie gleich nach der Arbeit mitnehmen. Sie haben ja keinen Wagen zur Verfügung.“

Er nickte resigniert. „Danke.“

Beth fiel ein, dass sie Tasha hätte bitten können, Pierre für ihre Zwecke einzuspannen und zu becircen. Bestimmt hätte sie mit Begeisterung die femme fatale gespielt. Aber nein. Zu solchen Mitteln griff vielleicht L’Alliance, aber nicht sie.

Ohne weiter von Pierre Notiz zu nehmen, setzte Beth sich an den Computer und machte sich an die längst überfälligen Bestellungen.

Nach fast einer Stunde räusperte er sich und fragte sie nach den Erträgen der einzelnen Weinberge.

„Von welchem Jahr?“, fragte Beth nervös. Das waren die einzigen Daten aus der Zeit ihres Vaters, die sie noch nicht in den Computer übertragen hatte.

„Dem letzten und ein paar Vergleichsjahren zuvor.“

Mit dem Rücken zu ihm, suchte sie nach den entsprechenden Ordnern im Regal. Es nahm sie eine Zeit lang in Anspruch. Aber immer noch besser, als schweigend so dicht neben ihm zu sitzen.

Schließlich legte sie einen Stapel Akten auf den Tisch. „Mit welcher Rebsorte willst du anfangen?“

„Das ist mir egal.“

Sie schlug den obersten Ordner auf. „Okay. Shiraz. Der Ertrag im letzten Jahr: Eine halbe Tonne pro Morgen …“

„Das ist sehr wenig.“

Sie sah auf, direkt in seine Augen. „Ja, aber aus den Trauben machen wir unseren besten Wein. Der Century Hill ist ein Qualitätstropfen, keine Massenware. Trocken gewachsen.“

Er wirkte nachdenklich, machte sich eine Notiz. „Weiter.“

Beth nannte ihm die Erträge aller Rebsorten, setzte sich dann wieder hin und schaute ihm beim Schreiben zu. Wie ein gewissenloser Geschäftsmann sah er dabei nicht aus, eher eifrig und versunken. Wie damals als junger Mann. Wieder so ein verbotener Gedanke!

„Beth? Alles in Ordnung mit dir?“

Was für eine absurde Frage! Sie fühlte sich, als hätte man sie zerrissen und falsch wieder zusammengesetzt. „Ja, natürlich. Warum fragst du?“

„Weil du so abwesend warst. Ich habe dich ein paarmal etwas gefragt, und du hast nicht geantwortet.“

„Wirklich? Entschuldige, ich habe tatsächlich geträumt.“ Sie gab sich einen Ruck. „Was willst du denn wissen?“

Er sah sie noch immer prüfend an. „Wie macht ihr das mit dem Wasser?“

„Ach so. Mit Ausnahme des Shiraz, der nicht bewässert wird, messen wir für die anderen Sorten die Feuchtigkeit in verschiedenen Erdschichten …“ Sie erklärte ihm das Bewässerungssystem in allen Einzelheiten. „War das ausführlich genug?“, fragte sie schließlich.

Er nickte, klappte den Laptop zu und begann, seine Unterlagen zusammenzusammeln. „Den Rest des Tages arbeite ich in der Scheune weiter.“

„Ich sage Tasha Bescheid, wo sie dich findet.“

„Danke. Morgen kann ich dir sagen, welche Veränderungen ich in meinem Bericht an die Aktionäre vorschlagen werde.“

Beth zuckte zusammen. „So weit bist du schon?“

Er schaute sie an. Zu kurz, um in seinen Augen lesen zu können. „Ja, ich bin bald damit fertig. Und dann reise ich ab.“

Pierre trat von einem Bein aufs andere. Er stand vor Beths verschlossenem Büro und wurde allmählich ungeduldig, weil er die Besprechung so rasch wie möglich hinter sich bringen wollte.

Wo blieb sie nur? Glaubte sie, etwas zu gewinnen, wenn sie ihn warten ließ?

Er hatte die Kostenentwicklung ermittelt, Grafiken erstellt und Alternativen entwickelt. Nun musste er Beth nur noch von seinen Vorschlägen überzeugen.

Nein, das musste er ganz und gar nicht. Es gehörte nicht zu seinen Aufgaben, sie von weiteren Fehlern abzuhalten und zu verhindern, dass man ihr das Management entzog. Es war ihm ein persönliches Bedürfnis, ihr seinen Standpunkt verständlich zu machen, damit ihr die Demütigung einer Entlassung erspart blieb. Um der alten Zeiten willen wollte er es versuchen. Für sich selbst versprach er sich gar nichts davon, im Gegenteil. Sie würde sich mit Händen und Füßen gegen seine Ideen ­sträuben und ihm eher die Augen auskratzen, als sie aufzugreifen.

Aber wenigstens eine der von ihm entwickelten Alternativen zu ihrer bisherigen Vorgehensweise musste sie umsetzen. Damit akzeptierte sie zwar auch die Richtlinienkompetenz von L’Alliance, hätte aber noch genügend Spielraum für eigene Entscheidungen. Das war doch besser als nichts. Ob er sie davon überzeugen konnte?

Wieder sah er auf die Uhr. Wollte sie etwa kneifen? Oder war sie etwa krank geworden? Vielleicht sollte er nach ihr schauen.

In diesem Moment bog ihr Wagen um die Ecke. Sie hatte sich also nur verspätet. Ärgerlich, aber immerhin konnte es jetzt losgehen. Es war ihm wichtig, mit ihr zu sprechen, bevor er den Bericht dem Vorstand präsentierte.

Beth parkte den Wagen, sprang heraus und wirkte dabei sehr gelöst. Erst als sie Pierre sah, wurde sie ernst und kühl. Woher kam sie so früh am Morgen, und warum war sie so glücklich? Dafür gab es nur eine Erklärung: Sie hatte die Nacht mit einem Mann verbracht. Der Gedanke war niederschmetternd.

Während er ihr ins Büro folgte, versuchte er, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

„Tut mir leid, dass du warten musstest“, sagte sie über die Schulter hinweg. „Ich habe eine unglaubliche Nacht hinter mir.“

Musste sie ihm das so deutlich auf die Nase binden? Er hätte gern darauf verzichtet. Gebannt sah er ihr dabei zu, wie sie schwungvoll ihre Jacke ablegte und schaute rasch weg, als dabei ihr T-Shirt hochrutschte und ein schmaler Streifen gebräunter Haut zu sehen war. Dann fiel sein Blick wieder auf ihre schlanken Beine unter dem Rock mit dem Blumenmuster. Wie sollte er sich da auf Zahlen und Fakten konzentrieren? Er stöpselte seinen Laptop ein und wartete, dass der Rechner hochfuhr.

Beth setzte sich und lächelte. Hinter ihm knarrte die Tür. Nein, jetzt bitte keine Störung! Tasha trat ein. Auch das noch! Der nette Abend gestern war peinlich zu Ende gegangen. Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen hatte er einer Frau deutlich machen müssen, dass er nicht interessiert war. Bei Tegan war es ihm leicht gefallen. Er mochte sie nicht. Tasha hingegen fand er sympathisch. Aber auch sie war nichts für ihn. Der Grund lag auf der Hand: Sie war die Freundin der Frau, die er nicht vergessen konnte.

Tasha nickte ihm zu und nahm gegenüber von Beth Platz. „Es ist also endlich passiert?“

„Ja.“ Beth strahlte übers ganze Gesicht. „In der Nacht. Es war ein wunderbares Erlebnis.“

Pierre sah von einer zur anderen. Von der Offenherzigkeit der Australier hatte er zwar gehört, doch das hier ging ihm entschieden zu weit. Hatten die beiden Frauen seine Anwesenheit vergessen? Noch ehe er wusste, wie er sie dezent auf sich aufmerksam machen sollte, redeten sie weiter.

„Meinen herzlichen Glückwunsch!“, sagte Tasha. „Ich bin total neugierig. Erzähl!“

Pierre rutschte tiefer in seinen Sessel. Unglaublich!

„Ein Mädchen. Mit dichtem abstehendem schwarzem Haar. Eine Haut wie Sahne. Nicht krebsrot und fleckig wie bei anderen Neugeborenen.“

Sie sprachen über Babys? Nicht über …?

„Name! Gewicht! Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen, Beth!“

„Entschuldige. Ich bin noch ganz überwältigt. Sie soll Laura Elizabeth heißen. Laura nach Laurence, meinem Vater. Elisabeth nach mir. Ist das nett nicht nett von den Himmels?“

Tasha nickte. „Ja, und ein Zeichen ihrer Dankbarkeit für alles, was ihr für sie getan habt.“

„Ich bin jedenfalls schrecklich glücklich. Aber auch völlig fertig.“ Beth streckte sich.

Pierre sah weg und wünschte, sie ließe ihn so kalt wie er sie.

„Wann kommt deine Patentochter denn nach Hause?“, wollte Tasha wissen.

„Patentochter?“, wiederholte er.

Die beiden Frauen schauten ihn an.

„Du hast eine Patentochter?“, fragte er Beth.

„Ja, seit ein paar Stunden. Sie ist letzte Nacht auf die Welt gekommen. Ich war bei der Geburt dabei.“ Sie wandte sich wieder an Tasha. „Corinne und die Kleine werden heute noch aus dem Krankenhaus entlassen. Beiden geht es gut. Die Geburt hat zwar recht lange gedauert, aber alles ist normal verlaufen.“

„Ich werde sie besuchen, wenn sich das mit dem Stillen eingespielt hat“, sagte Tasha und erhob sich. „Jetzt gehe ich erst mal an die Arbeit. Bis später.“

Auch als Tasha gegangen war, blieb Beths Gesichtsausdruck weich und verträumt.

„Wann bist du für meine Analyse bereit?“, fragte er, um sie in die Realität zurückzuholen.

„Gleich. Lass mich nur schnell in meine Mailbox schauen.“

Pierre wartete. Nach ein paar Klicks strahlte Beth wieder über das ganze Gesicht.

„Willst du sie dir anschauen? Karl Himmel hat sein Versprechen gehalten und mir Fotos von seiner Tochter geschickt.“ Ohne seine Antwort abzuwarten, drehte sie den Monitor in seine Richtung. „Das ist mein Patenkind Laura Elizabeth“, sagte sie stolz.

Er konnte nicht viel von dem Baby erkennen, denn es war bis zur Nase in eine Decke gehüllt.

„Und wie findest du sie hier?“

Auf diesem Bild war auch Beth zu sehen. Sie saß auf dem Rand eines Krankenhausbettes, hielt das Baby im Arm und sah es voller Zärtlichkeit an. Ein heftiger Stich durchfuhr seine Brust. Er hatte sich so sehr ein Kind mit ihr gewünscht!

„Sieht sie nicht süß aus?“

Er nickte, weil er nicht sprechen konnte.

Mit einem Mal fühlte er sich hundsmiserabel. Kopf und Brust schmerzten, als wäre eine Grippe im Anzug. Alles nur Einbildung! Er musste seine Arbeit rasch beenden und das Land verlassen, ehe er wirklich krank wurde.

„Lass uns jetzt über das Geschäftliche sprechen“, ermahnte er sie.

Ihr Lächeln erstarb. Sie nickte. „Dann los!“

Er ging zur Tafel, die an der Wand hing, und schrieb drei Stichworte in Großbuchstaben auf. „Dein Ziel muss sein, die Produktion zu steigern. L’Alliance ist zufrieden mit dem momentanen Gewinn. Doch der Markanteil ist zu gering“, begann er.

„Warum?“ Beth hielt die Arme trotzig vor der Brust gekreuzt.

„Weil L’Alliance Lowland Wines mit Herstellern gleicher Größe in aller Welt vergleicht. Bei euch ist das Verhältnis von Produktionsmenge und Gewinn nicht optimal. Du hast drei Möglichkeiten, das zu ändern.“

Er fühlte sich von ihren Blicken geradezu durchbohrt. Pierre kehrte ihr den Rücken zu und unterstrich eines der Worte auf der Tafel. Dabei versuchte er, sich für das Kommende zu wappnen.

„Die erste Möglichkeit, um die Produktion zu steigern, würde darin bestehen, dass du größere Mengen von Rohstoffen verarbeitest. Die Kosten dafür könntest du gering halten, in dem du billig einkaufst. Hier ist eine Grafik mit dem Kostenvergleich.“ Er ging zum Laptop, klickte sie an und zeigte sie Beth.

Sie beugte sich vor. „Mit den Rohstoffen meinst du wohl die Trauben. Das Herz und die Seele eines Weines.“

„Ja.“ Er wollte sich an nüchterne Zahlen halten und sich nicht mit ihr in ein Streitgespräch über das Herz und die Seele von Weinen verstricken. „Die Grafik zeigt, wie viele Reben du kaufen könntest. Sei es in Australien oder von Übersee.“

„Kommt nicht infrage!“

„Bitte, sieh es dir an und setz dich mit den Fakten auseinander. Deine Gefühle dürfen hier keine Rolle spielen.“

Beth presste die Lippen zusammen und ließ sich zurück in den Stuhl fallen.

Er zuckte die Schultern, ging wieder zur Tafel und unterstrich das nächste Wort. „Zweite Möglichkeit: Du sorgst dafür, dass die Weingüter im Barossa Valley mehr Trauben produzieren, gibst dafür aber nicht mehr aus als bisher.“

Sie sah auf. Ihre Augen verengten sich.

„Dazu müsstest du mit deinen Geschäftspartnern neu verhandeln. Und wenn sie nicht mitmachen, müsstest du dir andere suchen.“

Sie schnaubte. „Du glaubst doch nicht etwa, dass ich dazu bereit wäre?“

„Dann bleibt noch die dritte Möglichkeit. Du erhöhst die eigene Traubenproduktion durch bessere Anbaumethoden.“

„Wie bitte? Machst du Scherze?“

„Du könntest die Erträge steigern, indem du die trockenen Weinberge mehr bewässerst. Und auch dem Shiraz Wasser zukommen lässt.“

„Ich soll unseren besten Wein verderben? Den Century Hill? Es ist doch der Trockenwuchs, der das reichhaltige Aroma und die ölige Konsistenz bewirkt! Damit das ein für alle Mal klar ist, ich verkaufe kein Wasser als Wein!“

„Davon ist nicht die Rede. Es geht nur darum, die Produktion zu steigern.“

Sprachlos schaute sie ihn an.

Er wartete ab, bis sie sich wieder gefangen hatte.

„Ich kann nicht glauben, was du sagst, Pierre. Du weißt doch, dass das ein lächerlicher Vorschlag ist, dem ich nicht zustimmen kann.“

Er wischte die Tafel ab. „Ich habe dir drei Vorschläge unterbreitet. Das gehört zu meinem Job.“

„Was für ein mieser Job!“

Er zuckte zusammen. „Morgen Mittag setzt sich der Vorstand zusammen. Bis dahin hast du Zeit, dich für eine der drei Möglichkeiten zu entscheiden. Wenn du das nicht tust, werde ich dem Vorstand vorschlagen, dir die Leitung von Lowland Wines zu entziehen.“

Beths Wangen färbten sich rot.

„So viel Zeit brauche ich nicht. Ich kann dir sofort sagen, dass ich keinen deiner Vorschläge akzeptiere.“

Er versuchte, ruhig zu sprechen, obwohl sein Herz klopfte wie bei einem Marathon. „Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als dir viel Erfolg bei der Jobsuche zu wünschen.“

Sie sprang auf und stellte sich vor ihn. „So schnell gebe ich nicht auf“, sagte sie wütend. „Ich werde dem Vorstand ein eigenes Konzept vorlegen und die Mitglieder um Unterstützung bitten.“

Darauf erwiderte er nichts. Man würde sie durch die Mangel drehen und ausspucken. Sie hatte keine Chance.