7. KAPITEL

Am nächsten Morgen wählte Beth ihre Kleidung besonders sorgfältig aus. Sie zog einen schwarzen Kostümrock und eine weiße Leinenbluse an. Beim Zuknöpfen merkte sie, wie sehr ihre Hände zitterten.

Etwas vollmundig hatte sie Pierre verkündet, dass die Vorstandsmitglieder sie unterstützen würden. Doch dessen war sie sich keineswegs sicher. Zwar wussten sie, wie hart sie arbeitete und was ihr die Kellerei bedeutete. Auch kannten sie ihren Vater und sein Vertrauen in Beths Geschäftstüchtigkeit. Trotzdem hatten sie mehrheitlich für die Übernahme von L’Alliance gestimmt. Nur Beth und ihr Cousin Simon waren dagegen gewesen.

Wenn ihre Argumente sie damals nicht überzeugt hatten, warum sollten sie sich heute auf ihre Seite stellen? Die Chance war mehr als gering. Aber sie fühlte sich verpflichtet, es wenigstens zu versuchen. Sie war es ihrem Vater schuldig, den Kampf mit L’Alliance aufzunehmen. Zumindest wollte sie es Pierre und seinem Boss nicht leicht machen. Deshalb musste sie vor ihren australischen Partnern sicher und professionell auftreten, durfte keine Emotionen zeigen, keine unsachlichen Bemerkungen machen und schon gar nicht in Tränen ausbrechen. Falls sie doch untergehen sollte, dann wenigstens mit Würde.

„Wo bist du?“ Das war Tasha.

„Hier.“

Tasha betrat das Zimmer. „Gut, dass ich dich noch erwische. Könntest du mir in Adelaide etwas besorgen? Einen hübschen Strampelanzug oder ein Jäckchen für Laura Elizabeth?“

„Wie bitte?“ Daran hatte Beth gar nicht mehr gedacht. „Ja, natürlich. Wenn ich Zeit dafür habe.“ Sie zog die Kostümjacke an.

Tasha betrachtete sie und schüttelte den Kopf. „Es ist doch nur eine Vorstandssitzung.“

„Ich weiß.“ Dass es die wichtigste Sitzung ihres Lebens war, brauchte ihre Freundin ja nicht zu wissen.

„Dann verstehe ich nicht, warum du so zitterst. Komm, sag mir, was los ist.“

„Gar nichts ist los.“

„Du warst noch nie so nervös vor so einem Termin.“

Beth mied Tashas Blick und bückte sich nach ihren Schuhen. „Na ja. Diesmal sind wir nicht nur unter uns. Pierre wird als Vertreter von L’Alliance auch dabei sein. Es gibt ein paar Dinge zu besprechen …“

„Ist sein Bericht schon fertig?“

„Hm, ich glaube schon.“ Sie sah auf die Uhr. „Ich muss jetzt los.“

Tasha drückte ihr einen Geldschein in die Hand. „Das müsste reichen. Und mach dir keine Sorgen wegen des Berichts. Ist doch reine Routine. Was sollte er denn an deiner Geschäftsführung zu beanstanden haben?“

Nachdem Pierre auf der Vorstandssitzung zu Ende gesprochen hatte, hielt Beth den Atem an, sah in die Runde und versuchte, sich darauf zu konzentrieren, was die anderen sagten. Sein Bericht war sehr beeindruckend gewesen. Das musste sie leider zugeben. Deshalb wunderten sie die positiven Reaktionen auch nicht.

Nun war es an ihr, das Steuer herumzureißen. Sie erhob sich und ging nach vorn, wo Pierre eben noch gestanden hatte. Der Duft seines Aftershave lag noch in der Luft. Mit dem Rücken zum Publikum schloss sie ihren Laptop an den Beamer an und bereitete alles für ihre Präsentation vor.

Bis in die Nacht hatte sie daran gearbeitet. Was das Formale anging, war sie mindestens so gut wie Pierre. Damit würde sie Eindruck machen. Doch viel mehr kam es auf den Inhalt an. Der musste die anderen überzeugen.

Endlich war sie bereit. Sie schickte eine stumme Bitte um Hilfe an ihren Vater, strich ihren Rock glatt, setzte ein freundliches Lächeln auf und drehte sich um.

„Danke für die Präsentation, Pierre. Ich bin sicher, du hast alle mit deinen Kenntnissen über den internationalen Weinmarkt beeindruckt.“ Sie wartete, bis das zustimmende Gemurmel verstummte.

„Doch deine Rückschlüsse auf Lowland Wines sind unzutreffend. Ja, geradezu falsch.“ Dabei sah sie ihm fest in die Augen.

„Ich weiß, dass jeder hier die relevanten Zahlen von Lowland Wines kennt. Trotzdem habe ich sie noch einmal für alle kopiert.“ Sie legte den Stapel in die Mitte des Tisches.

„Mir scheint, die Geschäftsleitung von L’Alliance hat einiges, wenn nicht gar das Wichtigste, außer Acht gelassen.“ Sie lächelte, statt ihren Ärger darüber zu zeigen.

Dann ging sie zu ihrem Laptop zurück, schaltete den Beamer ein und zeigte die erste Grafik.

„Pierres Ausführungen zufolge gibt es nur eine Möglichkeit, mehr Gewinn zu machen. Und zwar durch Produktionssteigerung. Alle drei Strategien, die er vorgestellt hat, verfolgen dieses Ziel.“ Sie schaute in die Runde und sah jedem ihrer Zuhörer in die Augen. Nur einen ließ sie dabei aus. „Meine Herren, ich werde Ihnen nun zeigen, wie wir eine ähnliche Gewinnsteigerung erzielen können, ohne das zu zerstören, wofür Lowland Wines in aller Welt geschätzt wird: Die Qualität unserer Weine.“

Sie machte eine kleine Pause und stellte sich dann vor die Leinwand. „Hier sehen Sie die Gewinne, die auf der Basis von Pierres Vorschlägen zu erwarten sind. Und hier sehen Sie die Gewinnerwartung meines aktuellen Businessplans.“

Mindestens einer der Anwesenden gab einen Laut des Erstaunens von sich. Beth sah in die Runde. „Einige von Ihnen scheinen überrascht zu sein, dass ich bereits mit einer Gewinnsteigerung rechne, ohne die Produktion zu erhöhen.“

Sie bemerkte, dass Simon ihr zuzwinkerte, verzog aber selbst keine Miene.

Brian King, der an der Stirnseite des Tisches saß, räusperte sich. „Ich gebe zu, dass ich schon lange nicht mehr in Ihren Businessplan geschaut habe, Beth. Könnten Sie uns bitte erläutern, wie Sie den Gewinn steigern wollen?“

„Gern, Brian. Mit Vergnügen.“ Sie blieb ernst und klickte auf die nächste Grafik.

Beth hatte ihre Jacke ausgezogen und die beiden oberen Knöpfe ihrer Bluse geöffnet, doch sie schwitzte noch immer. Der Sitzungsraum war inzwischen leer. Sie hatte sich unter den Ventilator gestellt und ließ sich den Wind in den Nacken blasen. Doch es nützte nicht viel. Sie begann, ihre Sachen zusammenzu­packen.

„Wir müssen uns unterhalten.“

Pierre stand in der Tür. Trotz der Hitze sah er makellos frisch aus. Sie seufzte verärgert. „Das erwartet der Vorstand ja schließlich auch von uns.“

„So ist es.“ Er schloss die Tür hinter sich und trat näher.

„Bitte, lass die Tür offen“, sagte sie. „Ich komme um vor Hitze.“

„Sofort.“ Er ließ sich auf einem Stuhl nieder. „Zuerst möchte ich mich bei dir entschuldigen.“

Sie sah ihn fragend an.

„Ich meine es ernst.“

Beth traute ihren Ohren nicht, stützte sich auf den Rand des Tisches und beugte sich vor. „Wofür, wenn ich fragen darf?“

„Weil ich dich unterschätzt habe. Es tut mir leid.“

Sie reckte das Kinn. „Vor allem dürfte dir doch leid tun, dass keiner deiner Vorschläge angenommen wurde, oder?“

Der Hieb saß, doch er nahm ihn gelassen hin. „Ich versuche, mich bei dir zu entschuldigen. Offenbar finde ich nicht die richtigen Worte. Vielleicht ist mein Englisch zu schlecht dafür.“

Sie rollte mit den Augen. „Hör auf. Dein Englisch ist perfekt, das weißt du. Ich verstehe einfach nicht, wofür du dich entschuldigst.“

Er zögerte. „Weil ich dich behandelt habe, als verstündest du nichts vom Weingeschäft.“

Sie legte den Kopf schief und wusste nicht, was sie davon halten sollte.

„Deine Präsentation war hervorragend.“

„Das klingt ein bisschen gönnerhaft.“

Er streckte hilflos die Hände aus. „Siehst du, mir fehlen die richtigen Worte.“

Sie packte weiter zusammen. „Wofür willst du mich eigentlich loben? Für die Form oder den Inhalt?“

„Beides.“

Sie sahen sich einen Moment in die Augen. Dann warf sie sich mit einem Schwung die Laptoptasche über die Schulter. „Danke schön.“

„Warum hast du mich eigentlich nicht in deinen Plan, die alten Gebäude anders zu nutzen, eingeweiht? Und mir nichts von den anderen Projekten erzählt, die du in der Mache hast?“

„Dazu hättest du nur meinen Businessplan lesen müssen.“

„Das war ein Versäumnis.“

Er stellte sich ans Fenster und sah hinaus. „Mir ging es nur um die aktuellen Zahlen und die der letzten Jahre. Dass du eine Kalkulation für die Zukunft gemacht hast, hätte ich nicht gedacht. Nun komme ich mir fast wie ein Idiot vor.“

„Nur fast?“ Sie lächelte. „Dein Boss und du, ihr wolltet mir keine Chance geben.“ Sie zuckte die Schultern. „Und ihr wart nicht die Einzigen.“

„Nun stehen die Vorstandsmitglieder hinter dir.“ Er setzte sich wieder.

„Mal sehen, wie weit und für wie lange.“

Nach ihrer Präsentation hatte der Vorstand die Abstimmung verschoben und schien geneigt, sie zu unterstützen. Doch man hatte Pierre gebeten, ihre Vorschläge zu prüfen und ihre Gewinnerwartungen nachzurechnen.

Ganz wollten sie sich also doch nicht auf ihre Qualifikation und Erfahrung verlassen. Beth hätte das als Schlag ins Gesicht empfinden können, aber sie verstand, warum der Vorstand sich doppelt absichern wollte.

Nachdem sie sich eine Weile schweigend angesehen hatten, legte sie die Tasche wieder ab, setzte sich und stützte die Ellbogen auf den Konferenztisch.

„Dad war eine Legende. Jeder im Tal respektierte ihn. Jeder in der australischen Weinindustrie kannte seinen Namen. Er hatte Einfluss, die Leute hörten auf ihn, seine Ansichten zählten. Als er starb …“ Sie betrachtete ihre Hände, „… war da nur seine Tochter. Ein unbeschriebenes Blatt. Eine junge Frau. Inzwischen wundert es mich nicht mehr, dass man mir nicht zugetraut hat, seinen Platz einzunehmen.“

Pierre sah sie unverwandt an und hörte ihr zu. „Erzähl weiter.“

Sie seufzte. „Das ist schnell getan. Jahrelang waren die Vorstandsmitglieder es gewohnt gewesen, Laurence Lowes Geschäfte abzunicken, und waren gut damit gefahren. Weil sie mich für eine blutige Anfängerin hielten, begannen sie, alles zu hinterfragen, was ich vorschlug und tat. Seit ich das Unternehmen führe, stehe ich unter Dauerbeschuss und muss immer wieder neu um ihr Vertrauen kämpfen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir das Übernahmeangebot von L’Alliance nicht akzeptiert. Mein Vater hätte es auch nicht getan, das weiß ich. Der Unterschied ist nur, dass er den Vorstand überzeugt hätte. Mir haben sie nicht geglaubt.“

„So, wie ich dich heute erlebt habe, wirst du es schaffen“, sagte Pierre. „Du bist eine sehr kompetente Managerin.“

Beth rang sich ein Lächeln ab.

„Auf mich wirkst du überzeugend, obwohl ich, wie du weißt, deinen Prinzipien kritisch gegenüber stehe. Aber ich beginne, einiges anders zu sehen.“

„Was willst du mir damit sagen? Dass du mir helfen willst?“

„Mir scheint, die Miteigentümer wollen von dir den Beweis, dass du die Tochter deines Vaters bist.“ Er beugte sich vor und sah sie beschwörend an. „Jetzt hast du die Chance zu zeigen, dass er dich zu Recht als seine Nachfolgerin bestimmt hat.“

Beth fiel das Atmen schwer. Was sagte er da? Sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte, dass er auf einmal so freundlich zu ihr war. Sie hatte eher mit Widerstand gerechnet.

„Ich bin sicher, dass du das auch allein schaffst. Aber wenn wir zusammenarbeiten, geht es schneller.“

Das war richtig. Sie sollte einwilligen, solange sie in einer starken Position war und Pierre ihr zuhören wollte. Sie atmete aus und tief wieder ein. Dann nickte sie.

„Ja, da stimme ich dir zu.“ Sie schaute auf die Uhr. „Ich muss noch Besorgungen machen. Wollen wir uns in einer Stunde an meinem Auto treffen?“

Er schob den Stuhl zurück und stand auf. „Ich begleite dich.“

Sie lachte. „Ich glaube nicht, dass du Lust hast, mit mir Babysachen auszusuchen.“

„Für deine Patentochter?“

„Ja.“

„Doch. Helfen kann ich dir nicht, aber ich trage die Tüten. Danach gehen wir essen, reden darüber, wie unsere Zusammenarbeit aussehen könnte und wie du den Vorstand ganz auf deine Seite bringen kannst.“

Sie lächelte. „Dagegen lässt sich nichts sagen.“

Pierre zwang sich, Beth nicht anzustarren, während sie mit dem Lift nach unten fuhren. Er hatte nicht übertrieben, er war von ihrer Präsentation beeindruckt. Statt sich geschlagen zu geben, hatte sie sich freigekämpft. Es imponierte ihm, wie umsichtig und einfallsreich sie die Zukunft des Unternehmens geplant hatte und alles mit Zahlen und Fakten untermauern konnte.

Und er bedauerte, dass er ihr keine Gelegenheit gegeben hatte, ihm das schon vorher zu zeigen. Auch er hatte den Fehler begangen, sie zu unterschätzen, weil sie jung, hübsch und begehrenswert war. Was für ein lächerlich unsachliches Verhalten für einen Geschäftsmann, der gerade mal ein Jahr älter war als sie. Der wusste, dass sie ihr ganzes Leben auf einem Weingut verbracht hatte und hochqualifiziert war.

Er wollte dafür sorgen, dass ihr Plan wasserdicht wurde. Er musste alle Schwächen aufdecken, sie mit ihr diskutieren, ihr Sparringspartner sein, damit sie gemeinsam die optimale Lösung für die Kellerei fanden.

Leicht würde es nicht werden, so eng mit Beth zusammenzuarbeiten. Seine Gefühle standen ihm dabei im Weg. Alte Wunden konnten wieder aufreißen. Doch dieses Risiko musste er eingehen. Wenn er ehrlich war, freute er sich sogar darauf. Die Aussicht, in ihrer Nähe zu bleiben, reizte ihn mehr als die Grabesruhe der letzten Jahre.

Beth beobachtete Pierre, der unschlüssig zwischen einem großen Teddybären und einem Stapel von Bauklötzen stand. Dann wandte sie sich ab und stöberte weiter in der Babyabteilung. Sie verstand immer noch nicht, warum er sie unbedingt hatte begleiten wollten. Aber es war schön, dass er mitgekommen war. Maurice hätte es nie fertiggebracht, ein Kindergeschäft zu betreten. Selbst dann nicht, wenn er Vater geworden wäre. Mit ihm hätte sie niemals Kinder haben können.

Vielleicht fühlte Pierre sich hier nicht fremd, weil er bereits Vater war. Dass es eine andere Frau gab, die sein Kind geboren hatte, quälte sie. Denn eigentlich hätte sie diese Frau sein sollen. Doch es hatte nicht sollen sein, und die Vergangenheit ließ sich nicht ändern.

Wieder sah sie sich nach ihm um. Er schien sich nicht zu langweilen. Das war die zweite Überraschung an diesem Tag. Wie selbstverständlich er ihr zu ihrem Erfolg gratuliert hatte, obwohl er für ihn doch eine Niederlage bedeutete! Andere Männer wären gekränkt und beleidigt gewesen. Pierre hingegen besaß Nehmerqualitäten. Das imponierte Beth.

Mit einem Kuscheltier, zwei Strampelanzügen, Jäckchen und Kleidchen unter dem Arm ging sie zu Pierre. „So, jetzt hab ich alles beisammen.“

„Das ging aber schnell.“

Sie musterte ihn. „Machst du Witze?“

„Nein, das finde ich wirklich“, erwiderte er und lächelte.

Nachdem sie bezahlt hatte, nahm er Beth die Tüte ab. Dabei berührten sich ihre Hände kurz. Es durchfuhr sie wie ein Stromstoß. Sie lief vor, bis sie das Geschäft verlassen hatten.

Draußen empfingen sie grelles Licht und Hitze.

Mon Dieu. Drinnen war es angenehmer. Bist du sicher, dass du genügend Babysachen gekauft hast?“

Sie lachte. „Ganz sicher. Und noch sicherer, dass ich jetzt etwas essen muss. In einem kühlen Restaurant.“

„Wie wär’s mit dem auf der anderen Straßenseite?“

Kaum hatten sie es betreten, bereute Beth die Wahl. Das Lokal war klein und überfüllt. Der einzige freie Tisch stand in der Nähe der Tür und hatte nur zwei Stühle, sodass Pierre die Tüte auf die Erde stellen musste und für seine langen Beine kaum Platz fand. So kam es unter dem Tisch immer wieder zu Berührungen. Schon als ihr Kaffee serviert wurde, saß sie völlig verkrampft da, weil sie versuchte, Körperkontakt zu vermeiden.

Pierre schien es hingegen nichts auszumachen. „Erzähl mir, warum deine Patentochter nach dir und deinem Vater benannt worden ist.“

„Ich bin mit den Himmels befreundet. Schon unsere Eltern waren Freunde. Karl und ich haben als Kinder miteinander gespielt.“

„Und worin liegen dein Verdienst und der deines Vaters?“,

„Ich habe keinen. Nur mein Vater. Karls Vater wäre wahrscheinlich seine Ernte nicht mehr losgeworden, wenn mein Vater sich nicht selbstständig gemacht hätte. Das hat die Himmels und andere Weinbauern im Tal vor dem Ruin bewahrt.“

Pierre nippte an seinem Kaffee und beobachtete sie. „Aber das ist doch noch nicht alles.“

Beth wurde unwohl zumute. Wenn sie ihm die ganze Geschichte erzählte, würde er sie für zu weichherzig halten. „Tasha neigt zu Übertreibungen.“

„Hast du etwas zu verbergen?“

„Nein, natürlich nicht. Ich …“ Sie seufzte. Warum sollte sie es ihm eigentlich nicht erzählen? Sie brauchte sich schließlich nicht dafür zu schämen.

„Okay. Das letzte Jahr war wirklich sehr schwer für die Himmels. Daniel, ihr Sohn, wurde krank. Er musste operiert werden und brauchte eine spezielle Behandlung. Alles sehr teuer.“

„Hat das die Krankenkasse denn nicht bezahlt?“

„Nein, denn die hatten die Himmels gekündigt, als sie einmal knapp bei Kasse waren. Als Daniel dann krank wurde, musste Corinne ihren Job aufgeben, um ihn zu pflegen. Und ohne ihren Verdienst bekamen die Himmels keinen Kredit von der Bank.“ Sie schüttelte sich bei dem Gedanken. „Sie saßen wirklich in einer schrecklichen Klemme.“

„Aus der du ihnen herausgeholfen hast“, sagte er trocken. „Hast du ihnen das Geld gegeben?“

„Nein, ich … ich habe ihnen die Ernte im Voraus bezahlt.“ Das Geständnis fiel ihr nicht leicht.

Er sah sie ungläubig an.

„Nicht vom Geschäftskonto“, erklärte sie hastig. „Ich habe dafür einen Privatkredit aufgenommen.“

„Das war sehr großzügig von dir.“

„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Das war selbstverständlich.“

„Findest du?“ Er sah sie nachdenklich an. „Und wie geht es dem Jungen inzwischen?“

„Großartig.“ Beth strahlte. „Er hat alles gut überstanden und ist wieder kerngesund. Das ist schließlich die Hauptsache.“

„Gut. Aber kommen die Himmels über die Runden, wenn sie das Geld für die diesjährige Ernte bereits ausgegeben haben?“

„Ja, natürlich.“ Mehr wollte sie ihm nicht erzählen. Was sie mit ihren Freunden ausgehandelt hatte, ging ihn schließlich nichts an.

„Ich sterbe vor Hunger. Wo bleibt nur unser Essen?“

„Da kommt es.“ Er lachte auf. „Du bist wirklich eine außergewöhnliche Frau, Beth.“

Sie runzelte die Stirn. „Meinst du verrückt?“

„Nein. Ungewöhnlich. Bemerkenswert. Du verblüffst mich immer wieder.“

„Danke“, sagte sie zu dem Kellner und biss sofort in ihr Baguette, um Pierre nicht antworten zu müssen.

„Daniel ist neun“, sagte sie, nachdem sie hinuntergeschluckt hatte. „Dein Sohn ist doch im gleichen Alter, nicht wahr.“

Er nickte und wirkte plötzlich sehr traurig.

„Du hast gesagt, dass du ihn selten siehst. Wegen deiner Arbeit?“

„Ja. Ich bin sehr viel unterwegs. Außerdem hat seine Mutter das alleinige Sorgerecht.“

„Du wirst ihn doch sehen dürfen?“

Er verzog das Gesicht. „Ja, aber Arlette macht es mir schwer. Sie ist …“ Er sprach es nicht aus.

Beth wartete, bis der Kellner ihnen Kaffee nachgeschenkt hatte. „Wo leben sie denn?“

„In Paris. Philippe hasst die Stadt.“

„Warum?“ Sie kannte keine schönere.

„Er ist gern im Freien und tobt herum.“

Sie kicherte. „Er scheint ein normaler kleiner Junge zu sein.“

„Genau. Und deshalb gefällt es ihm nicht, in einem eleganten Pariser Apartment zu leben. Dort darf er weder laut sein noch toben. Auf der Straße spielen ist zu gefährlich. In den Park geht seine Mutter nur selten mit ihm. Und wenn, dann wundert sie sich, dass er nicht zu bändigen ist. Der Junge wird ständig gemaßregelt.“

„Das tut mir leid. Er scheint ein anderes Leben zu brauchen.“

Pierre legte sein Baguette beiseite. „Stimmt, deshalb habe ich das Sorgerecht beantragt. Das alleinige Sorgerecht. Wenn ich das nicht bekomme, dann zumindest das gemeinsame. Mein Anwalt hat alles in die Wege geleitet. Ich hätte es schon eher getan, aber mit einem Job, bei dem ich mal hier, mal dort bin, wären die Aussichten gleich Null gewesen. Kein Gericht spricht einem Vater das Kind zu, wenn er ständig im Ausland unterwegs ist. Und auch ich möchte Philippe ein solches Leben ersparen.“

„Du willst das ändern?“

Er nickte. „Sobald ich diesen Auftrag beendet habe, bekomme ich eine andere Position und kann mich in Frankreich niederlassen. Darauf warte ich schon lange. Nur wenn ich ständig dort bin, kann ich den Prozess gewinnen. Das bin ich meinem Sohn schuldig.“

„Du vermisst ihn wohl sehr?“, fragte Beth mitfühlend

„Ja, allerdings.“ Er sah sie forschend an. „Weißt du, er erinnert mich irgendwie an dich.“

Sie hielt die Luft an.

„Nicht äußerlich. Da ähnelt er eher mir als seiner Mutter. Ich meine, vom Wesen her. Er steckt so voller Begeisterung für das, was er tut.“

„Hältst du mich etwa für kindisch?“

„Nein. Oder …“ Er rieb sich das Kinn. „Nicht kindisch, aber kindlich in gewisser Weise. Ich empfinde das als positiv. Ich kenne keinen Erwachsenen außer dir, der so viel Lebensfreude verbreitet. Das macht einen großen Teil deiner Ausstrahlung aus.“

Seine Worte berührten Beth sehr, obwohl sie noch immer nicht wusste, was sie davon halten sollte.

„Heute bei der Sitzung hast du allerdings sehr reif gewirkt. Reif, ernst und sehr entschlossen.“

Das erleichterte sie. Sie lächelte. „Na, wenigstens etwas.“

Sie biss wieder herzhaft in ihr Baguette und war froh, eine Weile nicht reden zu müssen.

Wenn sein Sohn ihn an sie erinnerte, dann war sie ihm in den vergangenen Jahren ja doch nicht aus dem Sinn gegangen. Aber hatte er, nachdem seine Ehe gescheitert war, auch bereut, was er ihr angetan hatte? Sie hoffte es von ganzem Herzen.