10. KAPITEL

Pierres Nähe, sein Duft und seine Stärke beruhigten Beth. Langsam legten sich Trauer und Schmerz. Sie hob den Kopf, um ihm in die Augen zu schauen, und las darin, was er fühlte.

Als er sich über sie beugte, kam sie ihm entgegen. Zart und tastend berührten sich ihre Lippen, dann begannen sie ein zärtliches Spiel. Sie verziehen einander, an der Liebe des anderen gezweifelt zu haben.

Nur langsam sickerte in Beths Bewusstsein ein, dass es trotz allem keine Zukunft für sie geben konnte.

Ihre Lippen zitterten, als er sie freigab. Sie schwiegen und schauten sich an. In Pierre schienen die unterschiedlichsten Gefühle zu kämpfen. Dann beugte er sich wieder über sie. Diesmal war sein Kuss von geradezu verzweifeltem Verlangen. Und auch sie konnte die jahrelang unterdrückte Leidenschaft nicht länger zügeln.

Sie verzehrte sich danach, dass er sie streichelte. Ihren Rücken, ihre Taille, ihre Hüften. Es heizte ihr Blut auf. Als er seine Hand in ihr Dekolleté schob und ihre nackte Haut berührte, glaubte sie zu explodieren.

So lebendig hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Ihr Körper blühte auf und sehnte sich nach Erfüllung. Mit klopfendem Herzen und weichen Knien gab sie sich seinen Zärtlichkeiten hin. Doch als er sie unter dem Spitzen-BH berührte, schrie sie unwillkürlich auf.

Sofort gab er sie frei und sah sie schuldbewusst an. „Dieu, das habe ich nicht gewollt. Entschuldige!“

Sie kreuzte die Arme vor der Brust. „Du musst dich nicht entschuldigen, Pierre. Ich wollte, dass du mich streichelst. Ich habe es so lange vermisst.“

Er streckte die Hände nach ihr aus, doch sie entzog sich ihm, so schwer es ihr auch fiel.

„Ich kann das nicht. Noch nicht. Das geht mir alles viel zu schnell.“

Beths Stimme versagte. Stumm bat sie ihn um Verständnis. Sie brauchte Zeit, um sich zu fassen. Sie brauchte Ruhe zum Nachdenken.

„Ich will dich nicht drängen.“ Er schob die Hände in die Hosentaschen. „Ich bin zehn Jahre älter geworden und kann mich besser beherrschen als damals. Wenn wir uns lieben, dann möchte ich sicher sein, dass du es nie wieder bereust.“

Es fiel ihr schwer, ihre Gefühle zu ignorieren und vernünftig zu sein. „Falls das überhaupt geschieht.“

Tasha war mit Kunden beschäftigt, als Beth am späten Nachmittag nach dem Rechten sah. Also setzte sie sich auf einen Barhocker und wartete. Ihre Freundin beriet zwei kaufwillige Paare. Sie machte ihre Sache gut. Wenn sie Fragen über Weine beantworten konnte, fühlte sie sich in ihrem Element.

Schließlich ließ sie die Kunden allein, damit sie sich untereinander beraten konnten, und kam zu Beth.

„Hallo! Wo bist du so lange gewesen?“

„Unterwegs.“

Tasha verzog das Gesicht. „Danke. Dann ist das Geheimnis ja gelüftet.“

„Entschuldige. Ich dachte, du fragst nur so. Ich habe Pierre den alten Hof gezeigt. Er wollte die Gebäude sehen, die wir bald restaurieren. Tasha …“, sie legte die Hand auf den Arm der Freundin. „Ich muss dir etwas sagen.“

„Etwas Aufregendes, hoffentlich. Bin gleich wieder zurück.“ Sie ging zu den Kunden, gratulierte ihnen zu der Wahl und begleitete sie zur Tür.

Ein paar Minuten später stellte sie zwei Becher Kaffee auf den Tresen und nahm Beth gegenüber Platz. „Okay, schieß los!“

„Na ja …“ Beth wand sich.

Tasha machte ein besorgtes Gesicht. „Du bist doch nicht etwa krank?“

„Nein, nein. Das ist es nicht.“

„Also los, raus damit!“

Beth atmete tief ein. „Du weißt doch, dass ich Pierre in Frankreich kennengelernt habe.“

Tasha nickte.

„Ich habe dir nicht alles gesagt. Wir waren damals ein Liebespaar.“

Tasha verschluckte sich am Kaffee, sprang auf und rang nach Luft. „Ach du meine Güte“, stieß sie hervor. „Das erklärt ja einiges. Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?“

„Ich hatte gehofft, dass die Sache vorbei wäre.“

„Das verstehe ich nicht. Warum hast du dann zugelassen, dass ich ihn zu mir einlade? Warum hast du mir vorgemacht, es wäre nichts zwischen euch?“

„Bitte verzeih mir, ich wollte es einfach ignorieren. Die Beziehung ist sehr schmerzvoll zu Ende gegangen. Ich habe versucht, ihn zu vergessen.“

Tasha putzte sich die Nase. „Ja, aber warum erzählst du mir jetzt davon? Ist inzwischen etwas geschehen?“

Beth nickte. „Heute haben wir zum ersten Mal über die Vergangenheit gesprochen. Dabei hat sich herausgestellt, dass wir uns den ganzen Schmerz hätten sparen können, wenn wir uns die Wahrheit gesagt hätten.“

„Das gibt’s doch nicht!“

„Doch. Zehn Jahre lang hab ich mich gequält.“

„Und er … wie er dich manchmal angesehen hat …“

„Wie denn?“

„Traurig und zärtlich zugleich.“

„Wirklich?“

Tasha schlug wütend mit der flachen Hand auf den Tisch. „Ich hätte es erkennen müssen! Es hätte mich davon abhalten müssen …“

„Tasha, bitte“, fiel Beth ihr ins Wort. „Selbstvorwürfe nützen gar nichts.“

„Stimmt. Vergessen wir meinen Fauxpas.“ Sie versuchte zu lächeln. „Jetzt zieht Pierre also zu dir nach Australien?“

„Nein. Deshalb will ich ja mit dir reden. Kannst du dich erinnern, dass er von seinem Sohn gesprochen hat? Er kämpft um das Sorgerecht.“

„Das könnte schlecht für ihn ausgehen. Ohne einen triftigen Grund nimmt kein Gericht einer Mutter das Kind weg.“

„Er muss sich in Frankreich niederlassen, das ist die Voraussetzung dafür“, sagte Beth bitter.

Tasha drückte mitfühlend ihre Hand. „Und du hast nicht vor, Lowland Wines zu verlassen?“

Beth schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht. Ich habe Dad versprochen, mich hier um alles zu kümmern. Dieses Versprechen muss ich halten.“

Tasha kniff die Lippen zusammen und schwieg.

„Sag, was du denkst, bitte!“

Ihre Freundin seufzte. „Ich wundere mich seit Jahren, warum du keinen Mann an dich heranlässt. Jetzt kenne ich den Grund. Ich möchte dir so gern helfen! Wenigstens kann ich dich trösten, wenn Pierre abreisen muss. Weißt du schon, wann er fliegt?“

„Nein, aber bestimmt bald. Viel hat er hier nicht mehr zu tun.“

Tasha drückte wieder ihre Hand. Beth hätte sie gern noch um Rat gefragt. Ob sie ihrem Verlangen nachgeben und mit Pierre trotz der bevorstehenden Trennung schlafen sollte. Aber die Freundin konnte ihr die Entscheidung nicht abnehmen. Außerdem ging das nur Pierre und sie etwas an.

„Ich muss jetzt gehen“, sagte sie seufzend. „Pierre sitzt noch über den Zahlen. Vielleicht hat er Fragen an mich.“

„Geschäftlich läuft es gut zwischen euch?“

Beth nickte. Wenigstens das entwickelte sich zu ihrer Zufriedenheit. Sie rechnete nicht mehr mit großen Schwierigkeiten und hoffte, die Geschäftsführung von Lowland Wines behalten zu können.

Die Tür zum Büro stand offen. Pierre hatte Beth nicht kommen hören. Sie blieb in der Tür stehen und betrachtete ihn. Er war versunken in die Arbeit. Sein Blick wanderte zwischen zwei Blättern hin und her. Er verglich Zahlen. Sein Anblick erfüllte sie mit Freude und Dankbarkeit. Er war bei ihr, sie kannten einander jetzt besser als früher. Ihr Herz lief fast über vor Liebe.

Diesen Moment wollte sie sich für immer einprägen. Sein konzentriertes Gesicht mit der Falte zwischen den Brauen, dem dunklen Bartschatten auf dem Kinn. Die Art, wie er den Kopf neigte. An dieses Bild wollte sie sich erinnern, wenn sie sich nach ihm sehnte, und sich von ihm trösten lassen.

Plötzlich kannte sie die Antwort auf ihre Frage. Die gemeinsame Zeit mit Pierre war begrenzt und würde bald zu Ende gehen. Sie wollte sie genießen und die Liebe auskosten.

Sie räusperte sich und trat näher.

Pierre sah von den Papieren auf, entdeckte sie und lächelte. „Du hast gründliche Arbeit geleistet, Beth.“

„Bitte nenn mich so, wie du mich früher genannt hast“, sagte sie und legte ihm die Hand auf die Schulter.

„Babette? Darf ich dich wieder Babette nennen?“ Er richtete sich auf.

„Ja, bitte.“

„Meine süße Babette.“ Er zog sie auf den Schoß und streichelte ihre Wange. „Du siehst müde aus, chérie.“

„Das bin ich auch. Ich schlafe immer so schlecht.“

Er küsste ihre Nasenspitze. „Was nehmen wir uns als Nächstes vor?“

„Wir könnten ins Haus gehen und … schauen, was passiert.“

Er lächelte. „Ich habe eigentlich an unsere Arbeit gedacht. Macht aber nichts.“ Er zog sie enger an sich.

Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. „Ich könnte dir die Olivenhaine zeigen. Bald ist Ernte. Die Ölgewinnung spielt keine geringe …“

„Erzähl mir morgen davon“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Dein erster Vorschlag gefällt mir besser.“

Am nächsten Morgen erwachte Beth in ihrem Bett, erinnerte sich aber nicht, wie sie dort hingekommen war. Die Sonne schien in ihr Schlafzimmer. Sie sah auf die Uhr. Um diese Zeit wachte sie jeden Morgen auf. Heute war sie ausgeruht, wie schon lange nicht mehr.

Dann fiel ihr ein, wie erschöpft sie am Abend gewesen war. Nach dem Essen hatten sie sich im Wohnzimmer auf die Couch gesetzt. Da war sie an Pierres Brust wie ein Kind eingeschlafen.

Als es klopfte, setzte sie sich auf. Die Tür öffnete sich, und ­Pierre betrat mit einem Tablett in den Händen ihr Schlafzimmer.

„Frühstück!“ Er begrüßte sie mit einem Lächeln.

Nachdem sie sich bequem zurechtgerückt hatte, reichte er ihr das Tablett und setzte sich auf die Bettkante. „Es gibt Toast und Tee.“

„Perfekt.“

„Wie geht’s dir heute?“

„Fantastisch.“ Sie nahm sich einen Toast. „Wie bin ich eigentlich ins Bett gekommen?“

„Ich musste dich hierhertragen.“ Er zwinkerte ihr zu. „Mehr habe ich aber nicht gemacht.“

Sie verschluckte sich an einem Krümel, er schlug ihr auf den Rücken.

„Hier, trink!“ Er reichte ihr die Tasse. „Ist doch richtig, dass du morgens keinen Kaffee magst?“

Sogar eine solche Kleinigkeit hatte er nicht vergessen.

War es denn möglich, glücklich zu sein, auch wenn das Glück nicht andauern würde? Ja, denn jetzt war sie es. Rundum glücklich.

„Nun erklär mir bitte, weshalb du einen Teil des Lands für Olivenbäume und nicht für Weinstöcke nutzt?“

„Weil die Bäume nun einmal da sind.“ Sie trank den Tee aus. „Sie standen schon dort, als mein Vater das Land übernahm. Aber er hat sich nie um sie gekümmert. Also wuchsen sie wild weiter. Bis ich die Idee hatte, die Früchte zu ernten und zu pressen. Clive hat hart gearbeitet, um den Hain wieder zu kultivieren.“

Pierre schwieg eine Weile und sah zum Fenster hinaus. „Du scheinst Clive sehr zu mögen.“

„Oh ja. Ich mag jeden aus unserem Team. Jenny und Clive sind großartig. Du wirst sehen.“

„Dann will ich versuchen, nicht eifersüchtig zu sein.“

„Eifersüchtig?“ Sie kicherte. „Das ist ja sehr schmeichelhaft.“ Sie ließ sich zurück in die Kissen sinken und sah ihn an. „Warum solltest du eifersüchtig sein?“

„Weil Clive gut aussieht. Weil er hier lebt und oft in deiner Nähe ist.“

Sie wurde ernst. „Pierre, er ist verheiratet, und ich bin mit seiner Frau befreundet. Es wäre vollkommen abwegig …“ Sie brach ab.

„Warum?“

„Ich bin nicht an ihm interessiert. Es gibt nur einen Mann, den ich will.“

Sie sahen sich in die Augen. Plötzlich streckte Pierre die Hand aus und tastete nach ihrem linken Fuß, bis er das Fußkettchen erfühlte. Beide mussten an den Tag denken, an dem er es ihr umgelegt hatte.

„Du trägst es noch immer.“ Seine Stimme klang unendlich zärtlich.

„Ja“, sagte sie atemlos.

Er räusperte sich. „Das freut mich.“

Er streichelte jetzt auch den anderen Fuß. Beth merkte, dass ihr ganzer Körper zu glühen begann.

„Ich habe es schon an dem Tag entdeckt, als Clive in deinem Büro war.“

„Das Kettchen werde ich nie ablegen. Das wäre so, als würde ich mir ein Stück aus dem Herzen reißen.“

Er seufzte, zog die Hände weg und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. Dann erhob er sich und ging ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer.

Beth sah ihm nach und schloss die Augen. Ihre Gedanken überschlugen sich, und ihr Körper verzehrte sich nach ihm.