„Was hältst du von meiner Idee, die alten Hofgebäude zu vermieten?“, fragte Beth Pierre auf der Fahrt zum Olivenhain. Es fiel ihr heute Morgen gar nicht leicht, über Geschäftliches zu sprechen, wenn er so dicht neben ihr saß.
In seinen Mundwinkeln zuckte es. „Ich habe eine Risikoeinschätzung für das Projekt vorgenommen. Die werde ich dir später zeigen.“
Er klang ernst. Das beunruhigte sie. „Spann mich nicht auf die Folter! Zu welchem Ergebnis bist du gekommen?“
Er rieb sich das Kinn.
„Pierre, bitte“, flehte sie.
Da brach das Lachen aus ihm heraus. „Babette, du bist eine ausgezeichnete Geschäftsfrau. Herzlichen Glückwunsch!“
Tränen der Erleichterung schossen ihr in die Augen. Für einen Moment sah sie nichts mehr und hielt an.
„Hey, was ist los?“
Sie kramte in den Taschen ihrer Shorts nach einem Tempo. „Vielleicht hast du es ein bisschen zu spannend gemacht.“ Sie putzte sich Augen und Nase. „Nun muss ich vor Glück heulen.“
Er legte den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. „Und ich dachte, du wärst dir ganz sicher gewesen.“
„Ja, war ich mir eigentlich auch … Ach, ich weiß nicht.“ Sie weinte eine Weile an seiner Schulter. Dann richtete sie sich wieder auf und setzte sich gerade hin.
„Jedenfalls beruhigt es mich, dass du keine Bedenken hast.“ Sie seufzte. „Schade, dass mein Vater das nicht mehr erlebt.“
Pierre küsste sie auf die Stirn. „Ich bin sicher, er wusste, was in dir steckt.“
„Hoffentlich.“
„Hör auf, so zu denken! Dein Vater war ein kluger Mann. Er kannte dich gut und wird dich richtig eingeschätzt haben.“
„Aber ich habe ihm nie gesagt, wie sehr ich ihn schätze und dass mir Lowland Wines so viel bedeutet, weil er es aufgebaut hat.“
Wieder zog Pierre sie an sich, weil sie schon wieder weinen musste. Nach dem Tod ihres Vaters hatte sie kaum eine Träne vergossen, doch kaum tauchte Pierre auf, wurde sie zu einer richtigen Heulsuse.
„Möchtest du, dass ich fahre?“
„Nein, wir sind ja gleich da. Und ich habe aufgehört zu weinen.“ Sie ließ den Motor wieder an. „Pierre?“ Sie warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. „Nachdem du festgestellt hast, wie geschäftstüchtig ich bin, wirst du dich dem Vorstand gegenüber doch positiv über meine Vorhaben äußern, oder?“
„Ich sehe nichts, was dagegen spräche.“
„Das heißt, du unterstützt mich?“
„Auf jeden Fall!“
Lachend fuhr Beth los. Sie würde die Geschäftsführung von Lowland Wines behalten. Nun fehlte nur noch eines zu ihrem Glück: Pierre. Aber auf ihn musste sie verzichten. Es hieß, alles im Leben hätte seinen Preis. Sie hasste diesen Spruch.
Sie blieben nur kurz im Olivenhain und fuhren dann durch die Weinberge zurück zur Kellerei. Beth war mit japanischen Touristen verabredet, die in einem Bus durchs Land tourten und an der Weingewinnung interessiert waren.
„Passiert das oft?“, wollte Pierre wissen.
„Bisher noch nicht, aber ab heute bieten wir regelmäßig Führungen an. Die ersten werde ich selbst machen. Später übernimmt das John McGills Tochter. Sie muss sich noch mit den Prozessen und Fakten vertraut machen. Solange hospitiert sie bei mir und übersetzt für mich. Sie hat in Japan studiert und spricht fließend Japanisch.“
„Von Besichtigungen hab ich in deinem Businessplan gar nichts gelesen.“
„Das muss ich nachtragen. Sie sind recht einträglich. Die japanische Reisegesellschaft zahlt gut, und Mary arbeitet auf Honorarbasis für uns, sodass sich die Kosten in Grenzen halten. Außerdem gibt es nach jeder Führung eine Weinprobe. Das ist Tashas Metier. Ich rechne jedenfalls mit zusätzlichen Bestellungen. Wir liefern überall hin.“
„Exzellente Idee!“
„So, dann sind wir jetzt sämtliche Posten in meinem Businessplan durchgegangen. Bis auf einen, die Website. Die kannst du dir allein anschauen.“
„Hab ich schon. Sie gefällt mir. Auch weil sie wirklich aktuell über euer Weinsortiment informiert. Und das Abonnement, zu einer selbstgesetzten Summe regelmäßig Wein ins Haus geliefert zu bekommen, finde ich sehr clever.“
„Freut mich!“
Seit er nicht mehr ihr Gegner war, genoss Beth es, sich mit Pierre über geschäftliche Dinge auszutauschen, ihm von ihren Ideen zu erzählen und sein Urteil zu hören. Er war ein kompetenter Gesprächspartner. Das hatte sie oft vermisst, wenn sie sich allein über die Zukunft von Lowland Wines den Kopf zerbrechen musste.
„Was machst du während meiner Führung?“
„Ich werde mich an meinen Bericht setzen. Und bevor du wieder fragst: Er wird positiv ausfallen.“
„Das beruhigt mich.“
Beth ließ den Blick über die Weinstöcke schweifen. Die Zweige hingen voller Beeren und warteten auf die Ernte. Sie würde sie miterleben – die nächste und noch viele danach. Lowland Wines würde auch in Zukunft im Sinne ihres Vaters weitergeführt werden. Das versprach sie ihm und sich.
„Hast du etwas dagegen, wenn ich in deinem Büro arbeite?“
„Nein, kein Problem. Wir treffen uns dann heute Abend zum Essen bei mir.“
Beth kam als Erste nach Hause und hatte noch Zeit, zu duschen und sich umzuziehen, bevor Pierre an die Haustür klopfte. Mit feuchtem Haar, in einem kurzen Baumwollkleid ging sie ihm entgegen. Er musterte sie von oben bis unten. Offenbar gefiel sie ihm.
„Du siehst so frisch aus“, sagte er. „Draußen ist es noch immer sehr heiß. Meinst du, ich könnte vor dem Essen kurz duschen?“
„Natürlich.“
Er verschwand in seinem Zimmer. Sie ging in die Küche und begann, Salat und Gemüse zu waschen.
In nur wenigen Tagen hatte sich so viel verändert. Aus ihrer Furcht, die Geschäftsleitung von Lowland Wines zu verlieren, war Zuversicht geworden. Aus ihrem Ärger auf Pierre die Gewissheit, dass er sie unterstützte.
Beth schaute aus dem Fenster und entdeckte ein graues Känguru, das auf der Wiese äste. Es trug ein Junges in seinem Beutel. Wie schade, dass Pierre diesen Anblick verpasste!
Sie zögerte, dann lief sie los und hämmerte gegen die Badezimmertür. Sofort öffnete er. Tropfnass und nackt bis auf das Handtuch, das er sich um die Hüften geschlungen hatte. Wie gebannt sah sie ihn an.
So sah er also unter seiner Kleidung aus – durchtrainiert und männlich. Der Anblick überwältigte sie.
„Babette? Ist etwas passiert? Brauchst du Hilfe?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, nein“, stotterte sie. „Ich wollte dir nur etwas zeigen. Komm schnell!“
Sie lief zurück in die Küche, er barfuß hinterher.
„Was ist es denn?“
„Pst, nicht so laut. Sonst vertreibst du sie.“ Sie zeigte durchs Fenster. Das Junge hatte die Vorderbeine aus dem Beutel der Mutter gestreckt und schnupperte mit seiner niedlichen Schnute in die Luft. „Sieh mal, wie groß die Füße des Kleinen sind.“ Lächelnd sah sie zu Pierre auf.
Er lächelte zurück, und beide beobachteten eine Weile Mutter- und Jungtier.
„Es sind die ersten Kängurus, die ich außerhalb eines Zoos sehe“, flüsterte er an ihrem Ohr.
Sein Atem kitzelte sie, und sie bekam eine Gänsehaut. „Das dachte ich mir. Nun hast du Philippe etwas zu erzählen, wenn du ihn wiedersiehst.“
„Bestimmt wird er mich um dieses Erlebnis beneiden.“
Während Pierre weiter hinausschaute, wagte Beth heimliche Blicke auf seine muskulösen langen Beine.
„Danke, dass du mich gerufen hast“, murmelte er.
Seine Stimme klang rau und sexy. Sie trieb ihr das Blut in die Wangen. Dann legten sich seine kühlen Hände auf ihre Schultern und drehten sie um.
„Aber weißt du, dich schaue ich an“, flüsterte er und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. „Wie schön du bist!“
Sie schloss die Augen. Ihr Körper brannte vor Sehnsucht, und sie hoffte, dass er sie küsste. Doch das tat er nicht. Durch halbgeschlossene Lider sah sie, dass er sie betrachtete, als ob er sich jedes Detail ihres Gesichts für immer einprägen wollte. Dabei glühten seine Augen vor Begehren.
Worauf wartete er?
„Babette …“ Er stockte. „Du weißt, dass ich nicht bei dir bleiben kann.“
„Ja“, erwiderte sie kaum hörbar. „Und du weißt, dass ich nicht mit dir gehen kann.“
Er nickte und küsste sie auf die Stirn. „Trotzdem brauche ich dich.“
Sie schloss wieder die Augen. „Ich dich auch. Und ich will jetzt nicht an die Zukunft denken.“
Er stöhnte auf und tat endlich das, wonach sie sich so sehnte. Er küsste sie. Erst zärtlich und verspielt, dann fordernd und leidenschaftlich. Dieser Kuss war ein Anfang und ein Versprechen – die Ouvertüre zu dem, wonach jede Faser ihres Körpers verlangte und was sie sich von ganzem Herzen wünschte.
Sie streichelte ihn, seine Erregung steigerte ihr Verlangen noch. Er fasste ihre Hände und küsste die Innenseiten, bevor er ihre Schultern und ihren Hals liebkoste. Dann schob er die Träger des Kleids beiseite und ließ die Hand zu ihren Brüsten gleiten.
„Pierre“, stöhnte Beth auf. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. „Ich habe dich so schrecklich vermisst!“
„Sch, sch. Du musst nicht weinen.“ Er küsste ihre Kehle, ihr Schlüsselbein, den Ansatz ihrer Brust.
Sie schluchzte auf.
Er hob den Kopf und fasste nach ihren Schultern. „Babette, vielleicht sollten wir besser damit aufhören wenn es dir zu viel ist.“
„Nein.“ Sie lächelte unter Tränen. „Wir haben schon zu lange damit gewartet. Lass uns die Zeit auskosten. Ich bitte dich darum. Ich will es.“
„Bist du sicher?“
„Ja, absolut sicher.“
„Ich weiß, dass ich es nicht bereuen werde.“
Da hob er sie hoch und trug sie aus dem Zimmer.
Als Beth die Augen aufschlug, war es stockfinster. Sie brauchte eine Weile, um sich zu orientieren und zu sammeln. Dann verspürte sie Glück. Innere Ruhe. Zufriedenheit. Es fehlte ihr an nichts. Sie hielt den Atem an und ertastete vorsichtig die andere Seite des Bettes, bis sie an einen warmen Körper stieß.
„Ich bin noch da“, flüsterte Pierre und schaltete die Nachttischlampe an.
Erleichtert drehte sie sich zur Seite und blinzelte. „Das ist gut.“
Er sah verschlafen aus. Aber seine dunklen Augen verrieten, dass er nicht vergessen hatte, was geschehen war. Sie hatten einander geliebt. Es war mehr gewesen als wilder Sex.
„Du bist schön.“ Er streichelte ihr Gesicht.
„Immer noch? Ich bin zehn Jahre älter geworden.“
„Du bist wie der allerbeste Lowland-Wein. Je älter er wird, desto mehr schätzt ihn der Kenner.“
Sie lachte. „Weil er so rund ist?“
„Mm, gerade rund genug.“ Er zog sie näher. „Eine gewisse Komplexität lässt sich bereits herausschmecken.“ Er küsste sie.
Sie seufzte. „Wenn wir schon über Geschmack sprechen – ist dir da auch so flau wie mir? Ich habe schrecklichen Hunger.“
„Ich auch.“
Sie küsste ihn auf die Wange und sprang aus dem Bett. Dann sammelte sie ihre Sachen vom Boden auf und zog sich an. Pierre wickelte sich wieder das Handtuch um die Hüften, und sie gingen eng umschlungen in die Küche.
Eigentlich fühlte er sich noch so an wie früher. Bis auf die Narbe auf dem Rücken. Sie hätte schwören können, dass sie vor zehn Jahren noch nicht dagewesen war.
„Was ist denn da passiert?“, fragte sie und streichelte die Stelle.
Er sah sie ausdruckslos an, antwortete nicht, sondern stellte sich ans Fenster.
„Diese Narbe, Pierre. Die hattest du früher noch nicht.“
„Ach so.“ Er zuckte die Schultern. „Das ist ein Souvenir von Arlette.“
„Wie bitte?“
„In den ersten Ehejahren war sie sehr eifersüchtig.“
„Du hast von einer Vernunftehe gesprochen.“
„Für mich war sie das auch. Aber Arlette wollte Liebe. Obwohl ich ihr in dieser Hinsicht nie etwas vorgemacht habe, rastete sie regelmäßig aus, wenn ich beruflich nach Australien fliegen musste.“
„Meinetwegen?“
Er nickte. „Sie wusste, dass ich dich nicht vergessen konnte. Vor der Hochzeit hatte sie das nicht gestört. Aber danach haben wir uns deshalb oft gestritten. Nachdem Philippe auf der Welt war, fast ständig.“
Das war schrecklich, und doch spürte Beth eine Art von Genugtuung. Aber die ganze Wahrheit kannte sie wohl noch nicht.
„Und wie bist du zu der Narbe gekommen?“
„Mit jedem Streit wurde sie aggressiver. Schließlich begann sie, auf mich loszugehen. Und bei unserer letzten Auseinandersetzung griff sie zum Messer …“
„Sie hat versucht, dich zu erstechen?“, fragte Beth entsetzt.
Er zuckte die Schultern. „Wie ernst sie es gemeint hat, weiß ich nicht. Die Wunde war nicht sehr tief. Auch nicht lebensgefährlich. Aber nach dem Vorfall war uns beiden klar, dass wir nicht länger zusammenleben konnten.“
Jetzt verstand sie, warum er um das Sorgerecht kämpfte.
„Wenn Arlette zu Gewalttätigkeit neigt, muss dir das Gericht Philippe zusprechen. Man kann ihn dieser Gefahr doch nicht aussetzen.“
„Soweit ich weiß, hat sie noch nie die Hand gegen ihn erhoben. Andererseits ist sie eben keine gute Mutter. Das Kind läuft nebenher. Viel Aufmerksamkeit schenkt sie ihm nicht. Das macht mir solche Sorgen.“
Er strich Beth über den Arm. „Ich ziehe mir etwas über.“
Sie blieb allein in der Küche zurück und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Philippe brauchte seinen Vater mehr, als sie geahnt hatte. Wenn sie bisher noch einen Funken Hoffnung gehabt hätte, dass Pierre bei ihr bleiben würde, war er jetzt erloschen. Sie durfte es sich nicht einmal mehr heimlich wünschen. Das Glück eines Kindes hatte Vorrang. War das nicht auch das Motto ihres Vaters gewesen? Er hatte sie ziehen lassen, damit sie eigene Erfahrungen sammeln konnte und sie mit seinen Sorgen und Krankheitsnöten nicht belastet …
Als Pierre in Jeans und T-Shirt wieder zurückkam, setzte er sich zu ihr an den Küchentisch.
„Mag Philippe Fisch?“, fragte sie ihn.
Er zuckte die Schultern. „Keine Ahnung.“
„Dann hoffen wir es. Ich zeige dir jetzt, wie man ein wirklich einfaches, aber schmackhaftes Essen zubereitet. Und gesund ist es außerdem. Also pass auf!“
Er sah Beth dabei zu, wie sie zwei große Kartoffeln schälte und dann in kaltes gesalzenes Wasser gab. „Wenn sie kochen, stellst du die Temperatur runter und lässt sie drin, bis sie gar sind.“
„Wie erkenne ich das?“
„Indem du mit einem spitzen Messer hineinstichst. Nach etwa zwanzig bis dreißig Minuten sind sie weich. Kommt auf die Größe der Knollen an.“
„Das schreib ich mir lieber auf.“
Sie schob ihm Papier und Bleistift hin. „Wenn du fertig bist, kannst du die Kräuter hacken.“
Beth holte Petersilie, Basilikum und Rosmarin aus dem Kühlschrank, legte sie auf ein Brett und drückte Pierre ein großes Messer in die Hand. „Der Kochkurs beginnt.“
Während sie den Salat zubereitete, beobachtete sie, wie ihm nach einer Weile auffiel, dass es sinnvoller war, die Kräuter zu hacken als zu schneiden. Schließlich schien ihm die Arbeit sogar Spaß zu machen.
Nach Beths Anweisungen goss er die Kartoffeln ab, schnitt sie in Scheiben und packte sie in eine Auflaufform. Er streute die Kräuter darüber und schüttete den Inhalt einer Dose gestückelter Tomaten mit dazu. Dann zerkleinerte er den Fisch und legte ihn obenauf.
„Nun fehlt nur noch die Zutat, nach der das Gericht benannt worden ist.“ Sie ging an den Kühlschrank, holte einen geöffneten trockenen Weißwein heraus und hielt die Flasche triumphierend in die Höhe.
Er lachte. „Hätte ich mir denken können.“
„Ein Glas, mehr nicht.“ Sie beträufelte damit die anderen Zutaten. „Jetzt kommt das Ganze fünfzehn bis zwanzig Minuten in den Backofen. Ich habe ihn schon vorgeheizt. Geht doch einfach und schnell, oder?“
Pierre nickte, sah aber nicht ganz überzeugt aus.
„Wenn du für Philippe kochst, kannst du den Wein durch ein Glas mit verdünntem Zitronensaft oder verdünntem weißen Balsamico ersetzen.“
Jetzt lächelte er. „Gute Idee. Das mach ich.“
Während er den Tisch deckte, setzte sich Beth.
„Bist du mit deinem Bericht fertig geworden?“, fragte sie.
„Ja. Ich habe ihn auch schon an Frank Asper gemailt. Wenn ich mit ihm darüber gesprochen habe, bekommen ihn die anderen Vorstandsmitglieder.“
„Dann ist deine Aufgabe hier also so gut wie erledigt.“
„Ja.“
„Hast du morgen Zeit für ein bisschen Entspannung?“
Er setzte sich zu ihr und nahm ihre Hand. „Denkst du an etwas Bestimmtes?“
Sie lächelte. „Nein, noch nicht. Aber mir wird schon etwas einfallen.“
Pierre schlief noch, als Beth aufstand, um ins Bad zu gehen. Nachdem sie sich fertig gemacht hatte, setzte sie sich zu ihm auf die Bettkante und betrachtete ihn. Liebe und Zärtlichkeit für diesen Mann durchströmten sie. Ob er wohl auch so glücklich war in diesem Moment? Als hätte er ihre Frage vernommen, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Er drehte sich auf den Rücken, wachte aber nicht auf. Sein Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig. Schade, dass sie ihn wecken musste.
Sie beugte sich über ihn und küsste ihn.
„Mm.“ Er blinzelte. „Der Tag fängt gut an.“ Dann rieb er sich die Augen. „Wie spät ist es?“
„Ist doch egal. Du hast Ferien.“
„Du auch?“
„Ich muss ins Büro und ein paar Rechnungen online begleichen. In ein paar Stunden bin ich wieder zurück. Dann können wir alles machen, wozu wir Lust haben.“
„Alles?“ Er zog sie zu sich herunter.
Sie lachte und strich ihm über die nackte Brust. Pierre reagierte sofort. „Darüber verhandeln wir später“, flüsterte sie. „Ich muss jetzt los.“
Er sah sie enttäuscht an. „Na gut, dann sei doch so nett und bring mir meinen Laptop mit. Er liegt auf deinem Schreibtisch.“
„Mache ich.“ Sie erhob sich. Wenn ihr schon eine kurze Trennung so schwerfiel, wie würde es ihr beim endgültigen Abschied wohl ergehen?
„Komm bald wieder“, sagte er.
Sie warf ihm eine Kusshand zu und verließ den Raum.
Zwei Stunden später schaltete Beth den Computer aus und ließ die Schultern kreisen, um die Verspannung loszuwerden. Dabei lächelte sie, weil sie sich auf Pierre freute. Der Tag lag verheißungsvoll vor ihr. Vielleicht waren es sogar drei oder vier Tage, wenn er noch über das Wochenende blieb.
Sie bückte sich, um das Kabel von Pierres Computer aus dem Stecker zu ziehen. Dabei fiel ihr Blick auf den vollen Papierkorb. Oben schauten Blätter heraus, auf denen sie Pierres Handschrift wiedererkannte. Die schwungvollen Buchstaben weckten schöne Erinnerungen. In Frankreich hatte er ihr auch manchmal Briefe geschrieben. Diese romantischen Liebesbriefe hatte sie gesammelt und nach Australien mitgenommen. Sie verwahrte sie wie einen Schatz in ihrem Schlafzimmerschrank auf, hatte sie aber nie wieder gelesen, aus Angst, von Schmerz und Enttäuschung überwältigt zu werden.
Würde es leichter sein, sich ohne Enttäuschung und Missverständnisse zu trennen? Oder vielleicht sogar schwerer?
Wie selbstverständlich griff sie nach einem der Blätter und überflog es. Pierre hatte sich darauf Notizen für den Abschlussbericht gemacht. Dann erlag sie der Versuchung und las sie noch einmal gründlich. Wenn sein Bericht entsprechend ausgefallen war, müsste der Vorstand ihrem Businessplan eigentlich zustimmen. Pierre war schließlich Experte, und seine Einschätzung war eindeutig positiv.
Ihr wurde warm ums Herz, sobald sie an ihn dachte. Sie vermisste ihn, obwohl sie ihn erst vor Kurzem gesehen hatte. Mit seinem Laptop unter dem Arm verließ sie das Büro.
Auf dem Weg nach Hause klopfte ihr Herz vor Freude über das Wiedersehen mit Pierre. Als sie die Haustür öffnete, empfing sie der Duft von Kaffee. Wollte er sie mit einem zweiten Frühstück überraschen? Sie legte den Laptop an der Garderobe ab und machte sich auf Weg in die Küche. Die Tür zu seinem Zimmer stand offen, und sie warf einen Blick hinein.
Pierre beugte sich über seinen Koffer und packte.
Er packte?
Beth wurde von Panik ergriffen. Es war, als täte sich unter ihr der Boden auf und sie würde in einen Abgrund stürzen. Sie lehnte sich an den Türpfosten und versuchte, sich zu fangen.
„Was hast du vor?“, fragte sie mit zitternder Stimme.
Er hielt inne und sah auf. „Babette, ich …“ Er ließ den Stapel Hemden in den Koffer fallen und ging mit schnellen Schritten auf sie zu.
Sie wich zurück. „Was machst du da?“ Es klang schrill.
Er ließ die Arme fallen. „Ich muss abreisen.“
„Jetzt schon?“
„Ich habe mit meinem Anwalt gesprochen. Er hat versucht, mich zu erreichen. Aber weil mein Assistent Urlaub hat, habe ich seine Nachricht nicht erhalten. Ich muss sofort nach Frankreich fliegen. In ein paar Tagen beginnt die Anhörung des Sorgerechtsverfahrens.“
Beth atmete tief ein, um die Leere zu füllen, die sich in ihr breitmachte.
„Das ist die Chance, auf die ich lange gewartet habe …“ Er ging zurück zum Koffer, um weiter zu packen. „Ich kann sie nicht verstreichen lassen.“
„Natürlich, das verstehe ich.“ Wenigstens gehorchte ihr ihre Stimme wieder. „Hast du schon einen Flug gebucht?“ Sie wunderte sich selbst über die vernünftige Frage, denn in ihrem Inneren tobte ein schreckliches Chaos.
Er nickte und klappte den Koffer zu.
„Gut. Vergiss deinen Laptop nicht. Er liegt auf der Garderobe. Ich gehe jetzt. Wenn du abreist, will ich nicht dabei sein.“
„Babette!“ Er machte einen Schritt auf sie zu, sie trat zurück.
„Lass das, Pierre!“
„Du weißt doch …“ Er fuhr sich durchs Haar. „Wir wussten beide, was auf uns zukommt.“
„Ja.“ Sie biss sich auf die Lippe und kämpfte gegen die Enttäuschung. „Aber nicht so bald. Ich dachte, ich könnte mich darauf einstellen, mich vorbereiten.“
Er hob hilflos die Arme. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“
„Gar nichts. Ich gehe jetzt zurück in mein Büro und warte dort, bis du verschwunden bist.“
„Ich habe ein Taxi bestellt. Es müsste gleich hier sein.“
Beth zwang sich, regelmäßig zu atmen, und wagte nicht, ihn anzuschauen. „Dann leb wohl!“ Sie drehte sich um und ging zur Haustür zurück.
Pierre folgte ihr. „Ich rufe dich an.“
„Nein.“ Sie drehte sich um. „Bitte, mach nicht alles noch schwerer.“
„Wir bleiben in Kontakt. In den Ferien können wir …“
„Nein, Pierre, das möchte ich nicht. Ich will nicht mein ganzes Leben auf Anrufe warten und das ganze Jahr über von zwei gemeinsamen Wochen zehren.“ Sie öffnete die Tür. „Eine klare Trennung ist mir lieber“, sagte sie, ohne ihn noch einmal anzuschauen.
Dann eilte sie davon und versuchte, an nichts zu denken, bis sie ihr Büro erreicht hatte. Dort schloss sie die Tür hinter sich ab und stürzte gleich zum Fenster, besann sich dann aber eines Besseren. Sie schlug die Hände vors Gesicht. Nein, nein, nein! Das durfte sie nicht tun! Sie würde ihm nicht heimlich nachschauen, wenn er wegfuhr. Das Schicksal hatte ihr nur eine einzige Nacht mit ihm gegönnt.
Aber diese Nacht war wenigsten etwas, woran sie immer denken konnte. Sie sollte dankbar sein, dass sie mit Pierre diese kostbaren Stunden geteilt hatte. Seitdem wusste sie endlich, dass er sie liebte. Diese eine Nacht würde sie aufrechthalten und ihr Kraft geben.
Und diese Trennung war doch gar nicht so schlimm wie die vor zehn Jahren. Beim letzten Mal hatte sie sich von Pierre verraten gefühlt, nun hatte sie erfahren, dass er sie liebte. Damals hatte sie nicht verstanden, warum er nicht mit ihr kam. Diesmal akzeptierte sie die Gründe, warum er sie verlassen musste. Inzwischen waren sie erwachsen und mussten ihr persönliches Glück aus Verantwortungsgefühl zurückstellen.
Die Wärme wich aus ihrem Körper und sie ließ sich kraftlos auf einen Stuhl sinken. Vor ihr lagen freudlose Jahre ohne Liebe. Nach Pierre konnte sie keinen Mann mehr lieben, das wusste sie ganz genau. Wenn sie wenigstens noch die Gelegenheit gehabt hätte, ihm zu sagen, wie sehr sie ihn liebte. Nun stürzte ihre Hoffnung auf Glück in sich zusammen, und die Zukunft lag düster und beklemmend vor ihr.