2. KAPITEL

Er wollte keine Scheidung?

Chessie war wie erstarrt. Sie hatte immer gewusst, dass sie Rocco eines Tages wieder unter die Augen treten musste und eine Auseinandersetzung unausweichlich wäre. Doch sie war davon ausgegangen, dass er problemlos in die Scheidung einwilligen würde. Ihm lag nichts an ihr, wie er bei der Hochzeit ausreichend bewiesen hatte, die Firma gehörte ihm, und ihr Vater war tot. Weshalb also sollte er mit ihr verheiratet bleiben?

„Wir können eine schnelle, diskrete Scheidung erwirken“, drängte sie. „Ich will kein Geld und werde dir keine Schwierigkeiten machen.“

„Vergiss es.“ Sein Blick war eisig. „Kommt nicht infrage. Falls dein Liebhaber in den Startlöchern steht, um dich zu heiraten, kann er lange warten.“

Sie öffnete den Mund, um die Sache mit Carlo richtigzustellen, doch dann kam ihr eine bessere Idee. Wenn sie Rocco davon überzeugen konnte, dass sie wirklich eine Affäre mit einem anderen Mann hatte, willigte er vielleicht doch noch in die Scheidung ein. Es war eine riskante Strategie, aber einen Versuch wert.

„Carlo und ich legen keinen Wert aufs Heiraten“, erwiderte sie, gespannt auf seine Reaktion. „Hauptsache, wir sind zusammen.“

Zorn blitzte in seinen Augen auf, doch seine Stimme blieb ruhig. „Dann mach dich auf eine Enttäuschung gefasst. Ich betrachte die Ehe als einen Bund fürs Leben.“

„Warum klingt das aus deinem Mund nur so unromantisch?“ Sie lachte bitter. „Ich bekomme lebenslänglich, und du amüsierst dich! So einen Bund fürs Leben hatte mein Vater auch mit meiner Mutter geschlossen. Ich weiß, was ein Sizilianer darunter versteht! Mach dir keine Illusionen, Rocco. Wenn wir je eine Chance hatten, dann hast du sie zerstört. Nicht einmal an deinem Hochzeitstag konntest du treu sein!“

„Du musst mir gerade eine Moralpredigt halten“, erwiderte er spöttisch, und Francesca merkte, dass sie in ihre eigene Falle getappt war. Jetzt konnte sie nur noch an seinen verletzten Stolz appellieren.

„Ich bin keine Jungfrau mehr, Rocco. Ich hatte Sex! Willst du eine Frau, die ständig an einen anderen Mann denkt?“

Im ersten Moment wirkte er starr vor Wut, doch dann erwiderte er scheinbar gelassen: „Das ist Schnee von gestern. Wenn du erst in meinem Bett liegst, wirst du keinen Gedanken mehr an andere Männer verschwenden. Der Einzige, nach dem du dann rufen wirst, bin ich.“

Als er sie erröten sah, fügte er triumphierend hinzu: „Entscheide dich, cara mia. Erst protzt du mit deinem Liebhaber, dann spielst du die Unschuld vom Lande. Was bist du wirklich – Jungfrau oder Vamp?“

Jungfrau, dachte sie verzweifelt, doch dieses Bekenntnis hätte ihr nicht weitergeholfen. „Du kannst mich nicht zwingen zu bleiben“, sagte sie verzweifelt. „Ich kam her, um meine Mutter zu sehen. Wenn sie nicht da ist, reise ich ab.“

„Das wirst du nicht tun. Du bist meine Frau, und das werde ich dir in Erinnerung rufen, sobald wir in meiner Villa sind.“

Chessies Herz schlug heftig. Sie war es nicht gewohnt, raffinierte Spielchen zu spielen, schon gar nicht mit Männern wie Rocco. Er war ihr haushoch überlegen. Plötzlich bereute sie die leichtfertige Lüge, zu der sie sich hatte hinreißen lassen.

„Du willst deine Besitzansprüche geltend machen, aber das ist nicht nötig“, erklärte sie. „Ich hatte keine Affäre mit Carlo, ich kenne ihn kaum. Ich wollte nur, dass du in die Scheidung einwilligst.“

„Was ich nicht tun werde. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass du dir alle drei Minuten eine neue Geschichte ausdenkst.“ Er sah sie scharf an. „In Zukunft will ich seinen Namen nicht mehr hören. Nur eine Frage noch – du bist mit ihm davongerannt und behauptest, du hättest keine Affäre mit ihm?“

„Er hat mich gefahren, das ist alles. Er hat mich gerettet.“

„Gerettet wovor, tesoro?“, fragte er sarkastisch. „Vor einem bequemen Luxusleben, Geld im Überfluss und einer Schar von Bediensteten, die dir jeden Wunsch von den Augen ablesen?“

Ernüchtert sah sie ihn an. Rocco war genau wie ihr Vater. „Darauf lege ich keinen Wert“, sagte sie. Wie gern hätte sie ihm erzählt, was sie sich wirklich wünschte: Freiheit. Doch das würde ein Mann wie Rocco Castellani nie verstehen.

„Ich weiß, du hast dich lieber mit diesem Jüngelchen aus dem Staub gemacht. War es schön mit ihm, tesoro? Ich erinnere mich noch gut an unseren ersten Kuss. Wie du dich damals an mich geschmiegt hast …“

Ihre Wangen röteten sich. Er hatte also gespürt, wie sehr sie diesen Kuss genossen, welche Sehnsucht er in ihr geweckt hatte! Damals hatte sie geglaubt, Rocco finde sie attraktiv und schätze sie um ihrer selbst willen. Für ihn aber war es nur ein Geschäft gewesen. Wieso hatte sie das alles nicht früher durchschaut?

Noch kurz vor der Hochzeit schien für sie der Himmel voller Geigen zu hängen, und sie hatte Licht am Ende des Tunnels gesehen. Endlich würde sie ihrem Vater entkommen können und noch dazu ihren Traummann heiraten. Rocco Castellani war ein international tätiger Geschäftsmann. Zusammen würden sie die ganze Welt bereisen!

Die Aussicht auf ein neues Leben hatte ihr neuen Auftrieb gegeben. Vorbei war das einsame Leben als Mauerblümchen! Als Roccos Ehefrau würde man sie überall mit offenen Armen empfangen. All die spindeldürren Mädchen aus der Klosterschule, die sie ihrer Größe und ihrer üppigen Kurven wegen verspottet hatten, würden vor Neid erblassen, wenn sie erst mit dem begehrtesten Junggesellen der westlichen Welt verheiratet war.

Rocco Castellani hatte sich für sie entschieden. Er hatte über ihre Größe, ihre Rundungen und ihre Schüchternheit hinweggesehen und ihr wahres Ich erkannt. Das zumindest hatte sie geglaubt. Realisieren zu müssen, wie sehr sie sich getäuscht hatte, war die größte Demütigung ihres Lebens gewesen.

„Seien wir ehrlich, Rocco“, begann sie. „Du wolltest mich gar nicht heiraten. Wie viel hat dir mein Vater geboten?“

Er verzog keine Miene. „Ich habe keine Lust, über Geschäfte zu sprechen.“

Geschäfte? Es geht um unsere Heirat, Rocco! Um dein Eheversprechen!“

„Das habe ich abgelegt.“

Er sagte es so nüchtern, dass sie sich abwenden musste, um nicht zu zeigen, wie verletzt sie war. „Du hast bekommen, was du wolltest. Die Firma.“

„Ja, und ich war rund um die Uhr damit beschäftigt, das Chaos zu beseitigen, das dein Vater angerichtet hat“, erwiderte er grimmig. „Jetzt würde ich mich gern meiner Ehe widmen.“

Chessie blickte in seine unergründlich dunklen Augen. Ihr Herz schlug schneller, aber sie versuchte, sich einzureden, dass sie nichts für ihn empfand. Hastig wandte sie sich ab und sah aus dem Fenster.

„Zu Hause in meiner Villa sind wir ungestört, cara mia, und können uns in Ruhe besser kennenlernen“, versprach er.

Zornig fuhr sie zu ihm herum. „Ist deine Freundin gerade anderweitig beschäftigt?“

„Sei nicht albern.“

Der Wagen hielt an einem kleinen Jachthafen. „Wo sind wir?“, fragte Chessie.

„Das weißt du nicht?“ Er musterte sie erstaunt, nannte schulterzuckend den Namen des Ortes. „Meine Villa liegt eine kurze Bootsfahrt entfernt auf einer Insel. Du bist rundum von Wasser umgeben, nur für den Fall, dass du mit dem Gedanken spielst, zu deinem Liebhaber zurückzukehren.“

Chessie sank das Herz. Sie hatte ihn nie gefragt, wo er wohnte, wenn er auf Sizilien war. „Ich will nicht mehr auf einer Insel gefangen sein!“, protestierte sie. Auf einer Insel gab es keine Freiheit. Dort konnte sie niemals das Leben führen, das sie sich erträumte. „Ich will aufs Festland! Ich will etwas erleben, neue Erfahrungen sammeln!“

„Das kannst du auch in meinem Bett“, erwiderte er rau, und Chessie spürte glühende Hitze in sich aufsteigen.

„Du hast eine lächerlich hohe Meinung von dir. Hältst du dich etwa für den besten Liebhaber aller Zeiten?“

„Warum nicht? Ich hatte immer den Ehrgeiz, in allem der Beste zu sein.“

„Ich möchte dich ja nicht kränken, Rocco, aber ich bevorzuge zärtliche Männer.“

„Ich kann sehr zärtlich sein.“

Sie gab sich alle Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr seine warme dunkle Stimme sie erregte. „Arrogante sizilianische Männer reizen mich nicht.“

„Nein?“ Er kam ihr so nahe, dass sie seinen verlockenden Mund dicht vor sich sah. „Kein bisschen?“

„Kein bisschen.“ Sie presste die Knie zusammen.

Einen quälenden Moment lang ließ er den Blick auf ihren Lippen ruhen, bevor er sich lächelnd zurücklehnte. „Ich weiß ja nicht, was der unreife Bursche dir beigebracht hat, aber bei mir wirst du lernen, was Leidenschaft ist.“

„Du arroganter Kerl!“ Sie holte aus und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige.

Blitzschnell ergriff er ihr Handgelenk. Seine Augen blitzten vor Zorn. Chessie konnte kaum glauben, was sie getan hatte, als sie den roten Streifen auf seiner Wange sah. Wie oft hatte sie nachts wach gelegen und sich ausgemalt, wie es sein würde, sich endlich zu wehren? Den Mut zu haben, sich und ihre Mutter gegen ihren Vater zu verteidigen? Ein einziges Mal hatte sie es versucht, und die Folgen waren ihr unvergessen geblieben. Damals hatte sie gelernt, den Blick zu senken, ihren Zorn zu verbergen und nur hinter dem Rücken die Fäuste zu ballen. Bis heute.

Rocco hielt ihr Handgelenk fest, tat ihr aber nicht weh.

„Lass mich los!“, verlangte sie. „Und glaub ja nicht, dass ich mich entschuldige. Du hast es nicht besser verdient!“

„Scheint eine temperamentvolle Beziehung zu werden“, meinte er gelassen.

Wütend versuchte sie, sich loszureißen. „Lass mich gehen, Rocco! Und wenn du versuchst, mich in ein Boot zu zwingen, dann schreie ich und erzähle jedem, dass du mich entführen willst. Ich werde …“ Weiter kam sie nicht, denn plötzlich spürte sie seinen Mund auf ihrem.

Sein stürmischer Kuss erstickte jeden weiteren Protest. Chessies Hände glitten über den rauen Stoff seines Jacketts, während Rocco ihr Gesicht in beide Hände nahm und mit geübter Zunge ihren Mund erkundete. Ihre Gefühle waren so intensiv, so atemberaubend, dass sie nicht mehr klar denken konnte.

Zitternd vor Verlangen, legte sie die Arme um seine breiten Schultern und schmiegte sich an ihn. Er küsste sie immer leidenschaftlicher, schob den Arm unter ihre Knie und hob sie schwungvoll auf seinen Schoß. Einige Knöpfe sprangen ab, als er ungeduldig erst ihren Mantel, dann ihre Bluse aufriss.

„Du hast viel zu viel an“, raunte er, die Lippen an ihrem Mund. „Das muss sich ändern.“

Kommandier mich nicht herum, wollte sie erwidern, doch dann spürte sie seine Hände an ihrer nackten Brust und stöhnte leise vor Erregung.

Er flüsterte etwas auf Italienisch, steckte die Finger in ihr Haar und küsste sie erneut. Es wurde ein nicht enden wollender Kuss, begleitet von verführerischen Liebkosungen. Willenlos vor Verlangen, gab sich Chessie seinen Zärtlichkeiten hin, und als er sich schließlich von ihr löste, war sie so aufgewühlt, dass sie sich widerstandslos von ihm durch die warme Nachtluft zum Boot tragen ließ.

„Rocco …“, protestierte sie leise, als sie wie aus weiter Ferne die Stimme eines anderen Mannes hörte. Sie wand sich in seinen Armen, doch er hielt sie fest, ging an Bord und brachte sie, nachdem er einige knappe Anweisungen erteilt hatte, in die elegante Kajüte unter Deck.

„Entschuldige die Unterbrechung, aber in zwanzig Minuten erreichen wir die Insel. Dann können wir da weitermachen, wo wir aufgehört haben.“ Er wirkte so nüchtern, als befinde er sich mitten in einer geschäftlichen Besprechung.

Ganz im Gegensatz zu Chessie, die nicht fassen konnte, was soeben geschehen war. Sie hatte völlig den Verstand verloren, als Rocco sie geküsst hatte. Dabei mochte sie ihn doch nicht einmal!

Wütend und verlegen, richtete sie sich auf dem Sofa auf, auf das er sie hatte sinken lassen, und versuchte, ihre aufgerissene Bluse unter dem Mantel zu verbergen. Rocco musste ihr den BH abgestreift haben, denn ihre vollen Brüste waren halb entblößt.

„Du hast meine Sachen zerrissen.“

„Kauf dir neue, oder zieh einfach gar nichts an. Wenn wir zu zweit sind, kannst du gern nackt herumlaufen“, erwiderte er ungerührt. „Stört mich nicht.“

Aber mich, dachte sie zornig. Sie hatte ihren Körper noch nie gemocht. In der Schule war sie vor Verlegenheit tausend Tode gestorben, weil die Natur sie so viel üppiger ausgestattet hatte als all die zierlichen Mädchen um sie herum.

Immer noch bebend vor Erregung, musterte sie Rocco, der sich einen Scotch eingeschenkt hatte und sich einen großen Schluck genehmigte. „Bin ich jetzt deine Gefangene?“

„Nein, cara mia“, erwiderte er freundlich. „Du bist meine Frau, und ich erwarte von dir, dass du dich entsprechend verhältst.“

„So wie du bei unserer Hochzeit?“

„Keine Sorge, du hast mich ganz für dich allein.“

Entmutigt ließ sie sich zurücksinken. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, dass Rocco seinen Ruf als erfolgreicher Geschäftsmann sicher nicht dem Einsiedlerdasein auf einer einsamen Mittel­meerinsel verdankte. Früher oder später würde er wieder abreisen müssen, und dasselbe würde sie tun, nur in die entgegengesetzte Richtung. Und wenn sie schwimmen musste!

„Wann fliegst du wieder nach New York?“

Er lächelte. „Wenn ich genug von unserem Liebesleben habe.“

„Ich bin nicht so dumm zu glauben, dass du meinetwegen deine Geschäfte vernachlässigst.“

„Von Vernachlässigen kann keine Rede sein. Im Zeitalter moderner Technologie kann ich von der Insel aus arbeiten. Das heißt, wir können uns ungestört unserer Leidenschaft hingeben.“

Der Glanz in seinen Augen und das Lächeln auf seinen Lippen machten Chessie nervös. Sie erhob sich. „Wie kannst du nur so leichtfertig darüber reden? Für mich bedeutet eine Ehe mehr als Sex, nämlich Partnerschaft, Respekt und …“ Liebe erwähnte sie lieber nicht. Er würde sich nur darüber lustig machen.

„Respekt?“, wiederholte er. „Du meinst den Respekt, den du mir erwiesen hast, als du mit deinem Liebhaber durchgebrannt bist? Übrigens, mein Personal freut sich schon darauf, dich willkommen zu heißen.“

Mit anderen Worten, sie sollte ihn nicht blamieren. „Jeder weiß doch, dass wir die letzten sechs Monate nicht zusammen verbracht haben!“

„Nein, das weiß niemand. Ich bin direkt nach der Hochzeit nach New York geflogen. Alle dachten, du wärst bei mir, sogar dein Vater.“ Vorwurfsvoll fügte er hinzu: „Den du ohne ein Wort verlassen hast, obwohl es ihm nicht gut ging. Er starb, ohne sich von dir verabschieden zu können. Die Familie ist das Wichtigste im Leben, und du warst nicht bei seiner Beerdigung!“

Chessie schwieg betreten. Rocco Castellani ahnte nicht einmal, wie ihr Leben ausgesehen hatte! Niedergeschlagen setzte sie sich wieder aufs Sofa.

„Deine Reue kommt zu spät. Dein Vater ist tot“, erklärte Rocco, der ihre Reaktion völlig falsch interpretierte.

„Reue?“ Sie hätte ihm gern gesagt, was für ein Mensch ihr Vater in Wahrheit gewesen war, brachte aber kein Wort über die Lippen. Es fiel ihr immer noch schwer, sich jemandem anzuvertrauen. Erst recht einem arroganten Sizilianer wie Rocco, der ihrem Vater so ähnlich war! Verzweifelt musste sie sich eingestehen, dass sie einen rücksichtslosen Mann gegen den anderen eingetauscht hatte. Sie war vom Regen in die Traufe geraten!

„Rocco …“

„Lassen wir die Vergangenheit ruhen. Alles, was zählt, ist die Zukunft.“ Er zog sie hoch. „Wir sind da. Willkommen in deinem neuen Zuhause! Die Sonne geht auf, und ich muss telefonieren. Leg dich hin und ruh dich inzwischen aus, du wirst es brauchen.“