5. KAPITEL

Er empfand nicht das Geringste für sie, so viel war klar.

Schluchzend stopfte Chessie ihre Kleidungsstücke in den Koffer. Ihr Gesicht war fleckig vom vielen Weinen. Egal, dachte sie und zog ein neues Taschentuch aus der Packung, um sich die Nase zu putzen. Rocco legte ohnehin keinen Wert auf eine sexy Ehefrau. Sie hätte die Ausmaße eines Öltankers haben können, und es hätte ihn nicht gestört! Hauptsache, sie schenkte ihm einen Sohn. Er sah in ihr nur die Ehefrau und Mutter und keine sexy Verführerin.

Chessie war am Boden zerstört.

Sie unterbrach die Arbeit, zog das unvorteilhafte Kleid aus und trat in der Unterwäsche vor den Spiegel. Was sah Rocco in ihr? Volle Brüste, großzügig geschwungene Hüften – die ideale Mutter seiner Kinder. Traurig wischte sie sich die Tränen von den Wangen. Rocco hatte sie nur ausgewählt, um Nachwuchs zu zeugen, nicht um sie zu lieben und sein Leben mit ihr zu teilen.

Und warum wunderte sie das? Er war ein Sizilianer vom alten Schlag. Deshalb war sie doch vor ihm davongelaufen!

Immer noch schluchzend, schlüpfte sie wieder in ihr Kleid, setzte sich auf die Bettkante und versuchte, der schmerzhaften Wahrheit ins Auge zu sehen. Er liebte sie nicht und würde sie niemals lieben. Es ging ihm nur darum, eine große, lärmende sizi­lianische Familie um sich zu scharen. Lauter stramme Jungs, die er zu ebensolchen Machos erziehen würde, wie er einer war.

Sie putzte sich gerade die Nase, als die Tür aufgerissen wurde und Rocco hereinkam. Das glänzende schwarze Haar hing ihm wirr in die Stirn, seine Augen funkelten gefährlich.

„Geh weg!“ Chessie zerknüllte das Taschentuch und wandte sich ab, damit er nicht sah, dass sie geweint hatte. Diesen Triumph gönnte sie ihm nicht. „Ich will nicht mit dir sprechen.“

„Und warum bist du dann in mein Büro gekommen?“ Er stieß die Tür zu, das geräumige Schlafzimmer wirkte plötzlich bedrückend eng.

„Lass mich allein.“ Sie rutschte zur Mitte des Bettes und zog die Knie an. „Ich mag dich nicht. Ich wünschte, ich wäre nie nach Sizilien zurückgekehrt!“

„Irgendwann hätte ich dich doch gefunden.“ Sie spürte, wie die Matratze nachgab, als er sich neben sie setzte. „Wenn unsere Ehe funktionieren soll, musst du aufhören davonzulaufen.“

„Dann gib mir keinen Grund dazu!“ Sie hob den Kopf und musterte ihn zornig. Sollte er ihr verweintes Gesicht ruhig sehen! „Weißt du, weshalb ich dich am Abend unserer Hochzeit verlassen habe? Weil mir plötzlich klar wurde, dass du wie mein Vater bist!“

„Francesca …“ Er wirkte irritiert.

„Sie haben über dich geredet, wusstest du das?“ Energisch wischte sie sich mit dem Handrücken über die Augen. „Ich stand da in meinem albernen Hochzeitskleid, hielt mich für die glücklichste Frau der Welt und musste alles mitanhören!“

„Wer hat über mich geredet?“

„Das solltest du doch wissen! Offenbar hast du mit jeder von ihnen geschlafen. Sie haben sich über mich lustig gemacht und behauptet, du hättest mich nur geheiratet, weil ich so still und fügsam bin. Ich glaube, der genaue Wortlaut war: ‚Keine moderne, vernünftige Frau würde einen Mann wie Rocco heiraten, auch wenn er reich ist und traumhaft aussieht.‘“

„Die waren doch nur neidisch“, meinte Rocco beruhigend und nahm ihre Hände, als sie das Gesicht darin verbarg. „Sieh mich an, Francesca!“

„Sie sagten, du würdest dich weiterhin mit Lorna treffen.“

„Kannst du dir nicht denken, dass sie dich nur ärgern wollten?“, behauptete er, aber Chessie schüttelte den Kopf.

„Nein. Sie wussten nicht, dass ich zuhörte.“ Sie ließ das zerknüllte Papiertaschentuch fallen und zog ein neues aus der Packung. „Ich wollte dich suchen, um dich darauf anzusprechen.“

„Warum hast du es nicht getan?“

„Habe ich doch! Du standest mit Lorna auf der Terrasse, hast mit ihr geflirtet und sie geküsst.“

„Wir kennen uns eben schon sehr lange.“

Chessie hielt sich die Ohren zu. „Ich will es nicht hören! Ich will nur, dass du in die Scheidung einwilligst.“

„Das ist doch lächerlich! Es ist nicht, wie du denkst. Diese Frauen waren einfach nur gehässig.“

Mutlos ließ sie die Hände sinken. „Ich habe erlebt, wie es meiner Mutter ergangen ist“, flüsterte sie. „Mein Vater brach ihr das Herz und raubte ihr jede Freude am Leben. Sie war seine Frau, aber die beiden teilten nichts miteinander. Es gab keinen Hauch von Romantik in ihrer Ehe, keine Zärtlichkeit, nichts.“

„Dann hat dir deine Mutter geraten, mich zu verlassen?“

Chessie nickte. Warum sollte sie es abstreiten? „Sie wollte, dass ich tue, wozu sie nie den Mut hatte. Ich sollte mein eigenes Leben führen. Sie gab mir Geld für einen Neuanfang weit weg von meinem Vater.“

„Und Carlo? Ich weiß, dass du nicht mit ihm geschlafen hast, aber wie nahe steht ihr euch?“

Sie zögerte. „Er war der Gärtner meines Vaters, ich kannte ihn kaum. Aber er war im Begriff, eine neue Stelle in Rom anzutreten, und meine Mutter konnte ihn mit Geld und guten Worten dazu bringen, mich bis zur Fähre mitzunehmen. Dort setzte er mich ab, und das war’s. Ich habe ihn nie wiedergesehen.“

Diese Neuigkeit musste Rocco erst verarbeiten. Er sprang auf und lief erregt im Zimmer auf und ab. „Ich dachte, du wärst mit ihm zusammen!“

„Aber nein, ich habe kaum ein Wort mit ihm gewechselt.“ Warum ließ er die Sache mit Carlo nicht endlich ruhen? Natürlich, es ging um seine Ehre! Wie hatte sie jemals glauben können, dass ihm etwas an ihr lag? Er gehörte einer anderen Generation an als ihr Vater, teilte aber dessen veraltete Ansichten.

„Du lebst im falschen Zeitalter, Rocco. Du gehörst in die Steinzeit, wo dein braves Weib in der Höhle am Feuer auf dich wartet, wenn du abends von der Jagd nach Hause kommst.“

Er drehte sich um, eine Augenbraue spöttisch erhoben. „Was ist so falsch daran?“

Sie sah ihn fassungslos an. „Hast du noch nie etwas von Evolution gehört, Rocco? Die Menschheit hat sich weiterentwickelt!“

„Weshalb du in einer Villa wohnst und nicht in einer Höhle“, erwiderte er amüsiert, und Chessie schossen die Tränen in die Augen.

„Verschwinde, Rocco.“

Er setzte sich wieder zu ihr aufs Bett. „Was immer du auch von mir denkst, ich will dich nicht unglücklich machen“, sagte er sanft und ergriff ihre Hände. „Falls zwischen uns ein Missverständnis besteht, lässt es sich sicher ausräumen.“

„Wir sind viel zu verschieden“, sagte sie matt.

„Zum Glück! Wenn wir einander zu ähnlich wären, würden wir uns dauernd streiten.“

Chessie schniefte. „Das tun wir doch!“

„Nein, wir haben nur eine kleine Meinungsverschiedenheit“, erwiderte er unbekümmert. „Ich möchte, dass unsere Ehe ein Erfolg wird.“

„Das kann nicht funktionieren.“

„Oh doch“, beharrte er. Chessie wehrte sich verzweifelt gegen das angenehme Gefühl, das seine warme, raue Stimme in ihr weckte.

„Wie denn? Ich verstehe dich nicht, und du mich auch nicht. Solange wir uns nur treffen, um Kinder zu zeugen, wird sich daran auch nichts ändern. Kinder sollten Teil einer Beziehung sein, nicht deren einziger Inhalt! Ich habe mir unsere Ehe anders vorgestellt. Bei uns gibt es keine Romantik, kein Miteinander …“

Rocco überflog die Titel der Bücher auf ihrem Nachttisch. „Vergiss nicht, romantische Literatur ist deshalb so erfolgreich, weil sie dich in eine Fantasiewelt entführt.“

„Du meinst, gute Beziehungen gibt es nur in der Fantasie?“

„Ich meine, du solltest nicht alles glauben, was in deinen Büchern steht. Respekt und Verständnis sind eine bessere Basis für eine Beziehung als wilde Leidenschaft. Davon hatte ich mehr als genug, und es hat nie lange gehalten“, erklärte er und schien nicht einmal zu merken, wie sehr er Chessie damit verletzte.

Sie wusste nicht, was sie wütender machte – die taktlose Erwähnung seiner zahlreichen Liebschaften oder die Tatsache, dass sie in seinen Augen keine Kandidatin für wilde Leidenschaft war.

„Wir haben völlig unterschiedliche Vorstellungen“, stellte sie ernüchtert fest, doch er zuckte mit den Schultern, als sehe er darin kein großes Problem.

„Dann werden wir eben versuchen, einander zu verstehen. Und nun pack deine Sachen wieder aus!“ Er sah auf seine Armbanduhr und erhob sich. „Ich erwarte einen Anruf aus Tokio.“

„Wollten wir nicht reden?“

„Haben wir doch, und deine Botschaft ist angekommen. Du willst jetzt noch keine Kinder? Gut, warten wir noch. Und ich werde mich bemühen, unsere Beziehung romantischer zu gestalten. Gönn dir ein wenig Ruhe, du musst müde sein“, riet er und verschwand.

Klar, nach all dem nächtlichen Stress, dachte Chessie ironisch. Ihr Blick fiel auf die gepackte Reisetasche. Rocco war zu ihr gekommen, um sich mit ihr zu unterhalten. Das war immerhin ein Anfang, oder?

Erschöpft ließ sie sich aufs Bett sinken. Sie lag immer noch dort, als die ersten Blumen eintrafen, ein prächtiger, exotischer Strauß, den Maria, Roccos Haushälterin, stolz ins Zimmer trug.

„Sind die nicht schön?“

Die Blumen waren wirklich schön, das musste Chessie zugeben. Und Rocco schien sie bestellt zu haben, kaum dass er sein Büro betreten hatte. Trotz aller Vorbehalte war sie gerührt.

„Ist eine Karte dabei?“, fragte sie, auf einige zärtliche Worte hoffend.

„Nein, aber Blumen sprechen doch für sich“, erwiderte Maria, die andächtig die Blütenstängel in der Vase arrangierte. Chessie versuchte, nicht allzu enttäuscht zu sein.

Der zweite Strauß traf eine halbe Stunde später ein, und von da an stündlich ein neuer, bis zum Einbruch der Dunkelheit. Als Chessie ihr einsames Abendessen auf der Terrasse einnahm, prangte auf jedem freien Fleck im Zimmer ein duftender Blumenstrauß.

Gut, dass ich keinen Heuschnupfen habe, dachte sie ironisch, als sie sich vor dem Zubettgehen die Zähne putzte. Ein einzelner Strauß mit einigen liebevollen Zeilen von ihm wäre ihr lieber gewesen, aber sie wusste Roccos Geste zu schätzen. Immerhin gab er sich Mühe.

Und sie würde ihm zeigen, dass auch sie bereit war, ihm ein wenig entgegenzukommen. Ihre Tasche hatte sie wieder ausgepackt. Heute Nacht würde sie sich angemessen bei ihm bedanken. Und diesmal würde es wahre Leidenschaft sein, wenn sie einander liebten. Nicht der Versuch, ein Kind zu zeugen!

Mit klopfendem Herzen lag sie im Bett und wartete darauf, dass Rocco zur Tür hereinkam. Diesmal wird alles anders, dachte sie und drehte sich lächelnd auf die Seite. Ihr ganzer Körper vibrierte in Erwartung dieser ganz besonderen Nacht, in der sie ihrer wieder erwachten Leidenschaft freien Lauf lassen würde.