9. KAPITEL

Er spürte, dass etwas nicht in Ordnung war.

Etwa zum fünfzigsten Mal nun sah Rocco während der Fahrt vom Flughafen nach Hause ungeduldig auf seine Armbanduhr. Probleme in der Firma hatten ihn einen Tag länger als geplant in New York aufgehalten, was ihn normalerweise nicht weiter gestört hätte. Doch Chessie hatte bei ihrem Telefonat am Vorabend längst nicht so fröhlich geklungen wie sonst. Sie schien etwas auf dem Herzen zu haben.

Stirnrunzelnd gestand er sich ein, dass er sich Sorgen um sie machte. Obwohl sie es vor ihm zu verbergen versuchte, war ihm aufgefallen, wie müde sie in letzter Zeit war. Klamme Angst beschlich ihn. Fehlte ihr etwas? War sie krank?

Nein, unmöglich, beruhigte er sich. Sie hatte kein Gewicht verloren, und ihre wundervollen Kurven waren höchstens noch ausgeprägter geworden, was er den regelmäßigen abendlichen Restaurantbesuchen zuschrieb. Chessie war eine starke, gesunde junge Frau, und dass sie tagsüber oft müde war, lag vermutlich an ihrem regen Liebesleben.

Nachdem er die Situation gründlich analysiert hatte, kam Rocco eine andere Erklärung in den Sinn. War es möglich, dass Chessie sich ernsthaft in ihn verliebt hatte und davor zurückscheute, es ihm zu sagen?

Er schob die Hand unter den Hemdkragen, auf die übliche Panik gefasst. „Ich liebe dich“ war für ihn immer der tödlichste Satz gewesen, der in einer Beziehung fallen konnte.

Seltsamerweise löste die Vorstellung, Chessie diese Worte sagen zu hören, nur ein warmes Wohlgefühl bei ihm aus. Warum sollte sie ihn nicht lieben? Sie war seine Frau! Heute Abend würde er sie ermutigen, die Worte auszusprechen.

Plötzlich bereute er, länger in New York geblieben zu sein. Er wollte bei Chessie sein, dem Problem auf den Grund gehen. Widerstrebend gestand er sich ein, dass sie die erste Frau war, nach der er sich wirklich sehnte.

Er vermisste Chessie.

Doch war das so verwunderlich, nach all der Zeit, die sie miteinander verbracht hatten? Sie war sehr unterhaltsam und im Gegensatz zu den vielen anderen Frauen, mit denen er zusammen gewesen war, erfrischend natürlich. Ihm gefiel die Begeisterung, mit der sie sich in die Arbeit an der Werbekampagne gestürzt hatte. Mit ihrem Enthusiasmus und ihrer Gründlichkeit erfüllte sie genau die Voraussetzungen, die er an seinen Mitarbeitern schätzte.

Nur dass sie nicht seine Angestellte, sondern seine Ehefrau war. Und dass keine seiner Mitarbeiterinnen ihm jemals so den Kopf verdreht hatte wie Chessie. Nie zuvor wäre er auf die Idee gekommen, seine Arbeit zu unterbrechen, um leidenschaftlichen Sex zu haben. Mit Chessie war es ihm passiert, und zwar mehr als einmal.

Seine Pläne für den Abend standen fest, als er den Palazzo betrat. Er sah Chessie auf der Terrasse stehen und fragte sich, warum sie so überaus nervös wirkte. Stirnrunzelnd legte er sein Jackett ab und lockerte die Krawatte.

Fiel es ihr denn wirklich so schwer, ihm ihre Gefühle zu gestehen?

Er sieht fabelhaft aus, dachte Chessie zerknirscht, als sie ihn im eleganten grauen Anzug und mit stolz erhobenem Kopf auf sich zukommen sah. Wie der siegreiche Held, der vom Schlachtfeld zurückkehrt. Wurde Rocco jemals von Selbstzweifeln geplagt? War er jemals unsicher, wie er sich verhalten sollte?

Sie schloss kurz die Augen, atmete tief durch und verschränkte die zitternden Hände hinter dem Rücken. Ich tue das einzig Richtige, redete sie sich ein. Wenn ich ihn nur nicht so sehr lieben würde!

Er blieb an der Terrassentür stehen, und einen Moment lang glaubte sie, einen Ausdruck von Zärtlichkeit über seine kühle Miene huschen zu sehen. Wunschdenken, tadelte sie sich energisch, als er näher kam und sie mit einem innigen Kuss auf den Mund begrüßte. Nach drei Tagen ohne Sex würde ein Mann wie er auf jede Frau erfreut reagieren. Es hatte nichts mit ihr persönlich zu tun.

Dennoch sehnte sie sich so sehr nach ihm, dass sie sich am liebsten in seine Arme geschmiegt und den Dingen ihren Lauf gelassen hätte. Kommt nicht infrage, sagte sie sich, trat einen Schritt zurück und deutete auf den gedeckten Tisch.

„Wollen wir essen?“

Rocco, der spürte, wie sie auf Distanz ging, musterte sie argwöhnisch. „Hast du denn Hunger?“

Offenbar hatte er erwartet, dass sie einander die Kleider vom Leib reißen würden, wie sie es während der vergangenen Monate so oft getan hatten. Chessie konnte es ihm nicht verdenken.

„Nicht wirklich“, erwiderte sie, „aber du wirst hungrig sein nach der langen Reise.“

Sein prüfender Blick ruhte auf ihrem Gesicht. „Ich sehe dir an, dass du etwas auf dem Herzen hast. Warum sagst du mir nicht einfach, was los ist?“

Er war doch immer für eine Überraschung gut. Gerade jetzt, da sie sich seine Kälte und Gleichgültigkeit vor Augen führen musste, legte er plötzlich ein erstaunliches Feingefühl an den Tag.

„Ich …“ Ihre Stimme versagte, und sie nahm einen neuen Anlauf. „Ich muss mit dir reden.“

„Ja, das sehe ich.“ Lächelnd nahm er ihre Hände in seine. „Sprich aus, was in dir vorgeht. Tu dir keinen Zwang an.“

Ihr Magen verkrampfte sich immer mehr. „Ich will mich scheiden lassen.“

Angespannte Stille folgte ihren Worten. Rocco ließ sie los, sein Lächeln erstarb. „Soll das ein Scherz sein?“

„Nein, ich meine es ernst. Unsere Ehe funktioniert nicht. Ich verlange die Scheidung, Rocco.“

Er trat einen Schritt zurück, die Hände in einer hilflosen Geste erhoben. „Wir schlafen mehrmals am Tag miteinander. Was, bitte, funktioniert an unserer Ehe nicht?“

„Das ist nur Sex, Rocco. Zu einer Ehe gehört mehr als das.“

Seine Augen wurden schmal. „Unsere Ehe besteht nicht nur aus Sex, das weißt du genau.“

Natürlich wusste sie es, aber dieses Wissen konnte sie nicht umstimmen. Ihre Entscheidung stand fest. Es Rocco zu sagen war allerdings schwieriger, als sie befürchtet hatte. Zum Glück hatte sie ihre Argumente gründlich vorbereitet.

„Es hat nichts mit uns beiden zu tun, Rocco. Auch nicht mit dir. Es geht um mich! Um die Person, die aus mir geworden ist. Ich will nicht mehr verheiratet sein.“

Sein markantes Gesicht wirkte wie versteinert. „Eine Ehe ist nichts, was man nach Lust und Laune eingeht und wieder beendet.“

„Das ist mir klar. Deshalb wünsche ich die Scheidung und keine vorübergehende Trennung. Ich möchte klare Verhältnisse schaffen.“

Rocco begann, auf der Terrasse auf und ab zu gehen. Als er stehen blieb, kehrte er Chessie seinen Rücken zu. „Warum?“

Ihm nicht in die Augen sehen zu müssen hätte es ihr eigentlich erleichtern müssen, die einstudierten Sätze auszusprechen. „Zum ersten Mal in meinem Leben kann ich alles tun, wozu ich Lust habe. Ich genieße es. Ich will frei sein.“ Die Worte blieben ihr beinahe im Hals stecken, und sie erschrak, als sich Rocco zu ihr umwandte. Seine Augen waren kalt wie Eis.

Alles, was sie miteinander verbunden hatte, schien für immer zerstört. Zurück blieb ein Gefühl der Leere und Trostlosigkeit. Die warme, sonnige Terrasse wirkte plötzlich so kalt und unwirtlich, als habe mitten im Sommer Frost eingesetzt.

Es ist zu spät für uns, dachte Chessie unglücklich.

Was immer sie jetzt auch sagte, sie konnte den angerichteten Schaden nicht wiedergutmachen. Ihr blieb nur der Weg nach vorn. „Warum überrascht dich das?“, fragte sie mühsam, beinahe flüsternd. „Ich bin gerade dabei, das Leben neu zu entdecken, Rocco. Ich will noch so vieles ausprobieren!“

Angespannt wartete sie auf seine Antwort. Dass er sie anschrie, etwas unternahm – irgendetwas sagte! Doch er schwieg, das Gesicht starr wie eine Maske.

Sein Anblick zerriss ihr das Herz, aber sie konnte sich nicht vorstellen, ihn verletzt zu haben. Er liebte sie nicht, also konnte sie auch seine Gefühle nicht verletzen, höchstens seinen Stolz.

„Ich fliege morgen früh zu meiner Mutter nach Sizilien und kümmere mich dort um einen Anwalt.“ Sag etwas, Rocco, dachte sie verzweifelt. Sag etwas, egal was!

Er stand einen Moment lang reglos da, atmete tief durch und ging dann ohne ein Wort davon.

Von Gefühlen überwältigt, lief Rocco im Arbeitszimmer auf und ab und versuchte zu verstehen, was vorgefallen war. Doch zum ersten Mal in seinem Leben schien ihn sein Talent, für jedes Problem eine Lösung zu finden, jämmerlich im Stich zu lassen.

Das Letzte, was er von Chessie zu hören erwartet hatte, war der Satz „Ich will mich scheiden lassen“. Ihre Forderung hatte ihn sprachlos gemacht.

Sie verlangte die Scheidung, genau wie vor viereinhalb Monaten, als er sie vom Flughafen abgeholt hatte. Damals hatte er ihr die Zustimmung kategorisch verweigert. Warum diesmal nicht? Was hatte sich seitdem verändert? Was hatte ihn heute Abend davon abgehalten, ihren Wunsch rundweg abzulehnen?

Er griff nach seinem Drink, stellte das Glas aber leise fluchend wieder ab. Sich sinnlos zu betrinken änderte nichts an den Tatsachen. Und Tatsache war, dass ihm Chessies Glück am Herzen lag.

Wann genau, fragte er sich verwundert und nicht ohne Selbstironie, habe ich begonnen, ihr Glück wichtiger als mein eigenes zu nehmen? Und was hieß es, wenn man bereit war, jemanden genau das tun zu lassen, was einen selbst zutiefst verletzte?

Er hatte sich immer für einen Frauenkenner gehalten, doch Chessies Verhalten brachte diese Überzeugung erheblich ins Wanken. Sie behauptete, sich in ihrer Ehe nicht wohl zu fühlen. Wie war das möglich?

Bis zu seiner Abreise nach New York war sie rundum glücklich gewesen, daran gab es für ihn keinen Zweifel. Sie hatte mit keinem Wort erwähnt, dass sie sich mehr Freiheit wünsche, schon gar nicht die Scheidung!

Stirnrunzelnd lehnte er sich zurück, streckte die langen Beine von sich und überdachte noch einmal in Ruhe die Lage. Alles wies darauf hin, dass während seiner Abwesenheit etwas passiert war. Nur was?

Was konnte Chessie zu ihrer dramatischen Kehrtwendung bewogen haben?

Grimmig entschlossen stand er auf und griff zum Telefon. Er hatte keine Ahnung, was vor sich ging, aber es gab Mittel und Wege, es herauszufinden.

Chessie stand unglücklich vor ihrem Kleiderschrank, als Rocco zur Tür hereinkam.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, doch sein zerknittertes Hemd und der dunkle Schatten von Bartstoppeln an seinem Kinn ließen darauf schließen, dass er gar nicht im Bett gewesen war. Mühsam kämpfte Chessie gegen die überströmende Liebe und Zärtlichkeit an, die sie bei seinem Anblick empfand. Selbst nach einer schlaflosen Nacht sah er immer noch atemberaubend gut aus und hatte nichts von seiner stolzen Haltung und lässigen Eleganz eingebüßt.

Er war der Typ Mann, der eine Frau dazu brachte, Dummheiten zu begehen.

Aber nicht mich, sagte sich Chessie energisch. Diesmal nicht. Dieses eine Mal würde sie das Richtige tun. Für ihr Kind, wenn schon nicht für sie selbst.

„Ich wollte gerade packen“, meinte sie leise, als er direkt vor ihr stehen blieb.

„Spar dir die Mühe“, erwiderte er kühl. „Du gehst nirgendwohin.“

Sie schloss die Augen. Dies war die Antwort, die sie am Vorabend erwartet, aber nicht bekommen hatte. Warum dann jetzt? „Rocco …“

„Sag mir eins, tesoro …“, er sah sie durchdringend an, „wann hattest du vor, mir von deiner Schwangerschaft zu erzählen?“

Sie zuckte zusammen. „Ich …“

„Fehlen dir die Worte, Chessie?“ Sein schöner Mund war verkniffen. „Fällt es dir so schwer, mir zu sagen, dass ich Vater werde?“

„Wie hast du es herausgefunden?“

„Das tut nichts zur Sache. Entscheidend ist, dass ich es gern von dir selbst erfahren hätte. Du weißt, wie sehr ich mir einen Sohn wünsche“, sagte er gequält, „und trotzdem hattest du vor, mich zu verlassen, ohne es mir zu sagen. Du willst dich sogar scheiden lassen! Sei ehrlich, Francesca – findest du den Gedanken, Mutter zu werden, so furchtbar, dass du deine Schwangerschaft verheimlichen wolltest? Hast du etwa vor, sie abzubrechen?“

„Nein!“, rief sie entsetzt. „Wie kannst du mir so etwas zutrauen? Du müsstest mich doch besser kennen!“ Beschützend legte sie die Hand an den Bauch. „Das würde ich nie tun!“

„Woher soll ich das wissen?“ Sein Blick war genauso kalt wie seine Stimme. „Du hast mir immer wieder von deiner Sehnsucht nach Freiheit erzählt und wie sehr du dein neues Leben genießt. Hast du Angst, der ganze Spaß könnte nun vorbei sein?“

„Das siehst du völlig falsch.“ Sie wandte sich ab und wünschte verzweifelt, sie wäre schon am Vorabend abgereist. „Bitte, lass mich gehen.“

„Wie gesagt, du gehst nirgendwohin“, sagte er mit schneidender Stimme. „Als ich noch nichts von deiner Schwangerschaft wusste, hätte ich in die Scheidung eingewilligt, doch das kommt nicht mehr infrage. Da du allerdings so unglücklich über deine Situation zu sein scheinst, bin ich bereit, zusätzliches Personal einzustellen, damit dir genug Freizeit bleibt.“

Chessie runzelte die Stirn. „Du meinst ein Kindermädchen? Das will ich nicht, Rocco! Ich werde mich selbst um das Baby kümmern.“

Quälende Stille senkte sich über den Raum, während Rocco seine Frau verständnislos musterte. „Ich werde einfach nicht schlau aus dir“, meinte er schließlich. „Du verlangst die Scheidung, willst das Baby aber selbst versorgen?“

Betreten senkte Chessie den Blick. „Du hast recht, eigentlich wollte ich noch kein Kind haben“, sagte sie. „Aber als ich dann erfuhr, dass ich schwanger bin, habe ich mich riesig darüber gefreut!“

„Gefreut?“, wiederholte er verblüfft und stieß hörbar den Atem aus. „Vielleicht sollten wir die Unterhaltung lieber auf Italienisch fortsetzen. Ich fürchte, ich komme nicht ganz mit! Wenn du dich freust, warum willst du dann gehen?“

„Weil …“, sie suchte nach Worten, „weil es das einzig Richtige ist.“ Wobei ihr selbst nicht klar war, weshalb es sich dann so falsch anfühlte. Sie war hin- und hergerissen zwischen ihrer Liebe zu Rocco und der Liebe zu ihrem ungeborenen Kind.

„Wie kann es richtig sein, mich zu verlassen, wenn du meinen Sohn unter dem Herzen trägst?“, fragte er rau, einen fiebrigen Glanz in den Augen.

„Weil es nicht dein Sohn ist, Rocco“, erwiderte Chessie, die sich verzweifelt bemühte, seinem Blick standzuhalten, „sondern deine Tochter.“

Gespannte Stille folgte ihren Worten. Rocco sah sie nur an, und in seiner Miene spiegelten sich die verschiedensten Emotionen, die sie nicht zu deuten wusste.

„Meine Tochter?“

„Ganz recht, deine Tochter.“ Sein fassungsloser Blick sagte alles. Sie wandte sich ab, um ihre Enttäuschung zu verbergen.

„Ein kleines Mädchen“, sagte sie lächelnd, mit Tränen in den Augen. „Jetzt verstehst du, weshalb ich gehen muss.“

„Nein, ich verstehe gar nichts!“ Er fasste sie an den Schultern und drehte sie zu sich herum. „Welchen Unterschied macht es, dass du ein Mädchen erwartest?“

„Musst du mich das wirklich fragen?“, stieß sie hervor.

Rocco sah sie so eindringlich an, als suche er in ihren traurigen Augen nach irgendeiner Antwort. „Es geht um deinen Vater, oder?“

„Nein, nicht um meinen Vater.“ Sie entzog sich ihm. „Um dich, Rocco. Um deine Wünsche und Bedürfnisse.“

„Du hast offenbar keine Ahnung, was ich mir wünsche!“

„Du bist ein typischer, den alten Traditionen verhafteter Sizilianer. Seit Monaten erzählst du mir, wie sehr du dir einen Sohn wünschst!“

„Natürlich!“ Er machte eine ungeduldige Handbewegung. „Aber das heißt noch lange nicht, dass ich mich nicht genauso sehr über eine Tochter freue! Es war nur eine Redewendung, eine Floskel. Du schätzt mich völlig falsch ein!“

Sichtlich aufgewühlt fügte er hinzu: „Hast du wirklich geglaubt, ich würde das Kind nicht wollen, weil es ein Mädchen ist?“

„Wie hätte ich das nicht glauben sollen?“

Jetzt wurde er wirklich zornig. „Seit Monaten versuche ich, dir zu beweisen, dass ich nicht bin wie dein Vater! Ich habe immer betont, wie wichtig mir eine Familie ist.“

„Ja, nur kenne ich nicht den Grund dafür“, sagte Chessie leise. „Ich rede ständig von mir, du aber nie. Ich weiß nichts über deine Herkunft, deine Familie …“

„Ich habe keine Familie.“ Es klang völlig emotionslos.

„Du meinst, du hast keinen Kontakt zu deiner Familie?“

„Nein, so habe ich das nicht gemeint.“ Er rieb sich die Stirn, als habe er Kopfschmerzen. „Ich rede nie über diese Dinge. Sie spielen keine Rolle in meinem Leben.“ Rocco ging zum Fenster hinüber und blieb mit dem Rücken zu ihr stehen.

„Bitte, wende dich nicht von mir ab.“ Sie stand vom Bett auf. „Geh diesem Gespräch nicht aus dem Weg.“

Er drehte sich zu ihr um, sein schwarzes Haar glänzte in der Sonne. „Du willst meine Familiengeschichte hören? Gut, ich erzähle sie dir. Aber ich warne dich, es ist keine schöne Geschichte.“ Seine Lippen wurden schmal. „Mein Vater hat meine Mutter erschossen. Sie war fünfundzwanzig und hatte eine Affäre mit einem anderen Mann. Er war so außer sich vor Verzweiflung, dass er erst seine große Liebe und dann sich selbst umbrachte. Ich war damals zwei Jahre alt.“

Sie war so schockiert, dass sie zunächst keinen Ton herausbrachte. „Rocco …“

„Keine Mitleidsbekundungen, bitte“, wehrte er ab. „Ich habe es dir erzählt, weil du es offenbar wichtig findest, etwas über meine Familie zu erfahren. Aber meine Gefühle werde ich nicht vor dir ausbreiten.“

„Du warst noch so klein …“ Der Gedanke zerriss ihr das Herz.

„Ich habe es überlebt“, sagte er sachlich. „Das ist der Lauf der Dinge, Chessie. Das solltest du doch am besten wissen. Dein Leben war ja auch kein Zuckerschlecken, und inzwischen verstehe ich, warum du nach der Hochzeit weggelaufen bist. Man überlebt, rappelt sich auf und fängt neu an.“

„Aber du warst noch so klein“, wiederholte sie betroffen. „Was geschah mit dir?“

„Oh, es gab einen riesigen Skandal.“ Seine Miene war hart und abweisend. „Ich wurde zu Verwandten geschickt, die mich nicht haben wollten, weil ich sie an die Sünde erinnerte, die mein Vater begangen hatte.“ Er lachte bitter. „Und ich war ziemlich jähzornig, das jagte ihnen Angst ein.“

Chessie war erstaunt. „Du hast dich doch immer so perfekt unter Kontrolle!“

„Stimmt.“ Er lächelte grimmig. „Zwei Dinge habe ich von meinem Vater gelernt. Erstens, dass man sich nicht von seinen Gefühlen leiten lassen sollte, und zweitens, dass die Liebe einen Mann dazu bringt, furchtbare Dinge zu tun.“

„Also bist du nur kurze Affären mit irgendwelchen Frauen eingegangen, die dich über den Sex hinaus nicht interessierten, und hast dann ein braves, unkompliziertes Mädchen geheiratet, um eine Familie zu gründen. Die Familie, die du nie hattest.“

„Betätigst du dich als Amateurpsychologin?“ Sie sah einen Funken Humor in seinen Augen aufblitzen. „Als unkompliziert würde ich dich nicht gerade bezeichnen, aber im Großen und Ganzen hast du wohl recht. Das war der Plan.“

„Und die Ölmühle meines Vaters? Warum wolltest du sie haben?“

„Obwohl mein Unternehmen inzwischen weltweit operiert, habe ich meine sizilianischen Wurzeln nie vergessen. Dieses Olivenöl zu vermarkten, das ist meine Referenz an die Familie, die ich nie gekannt habe.“

„Ich wünschte, du hättest mir das alles viel früher erzählt. Dann hätte ich dich vielleicht besser verstanden! Deine vielen Frauenbekanntschaften waren für mich der Beweis, dass du wie mein Vater bist. Jetzt weiß ich, was wirklich dahintersteckte.“ Seufzend sank sie auf das Bett. „Was die Familie doch für einen Einfluss auf einen Menschen haben kann! Manchmal sind die Wunden so tief, dass sie nur schwer verheilen.“

„Ich bin geheilt“, erklärte er. „Du wolltest diese Geschichte noch einmal aufrollen. Was mich betrifft, sehe ich die Zukunft völlig unabhängig von der Vergangenheit.“

Chessie schlug die Augen nieder und zwang sich auszusprechen, was ihr auf der Seele lag. „Du hast die falsche Frau geheiratet, stimmt’s?“ Sie hob den Kopf, ein schwaches Lächeln auf den Lippen. „Ich bin nicht die nette, unkomplizierte Ehefrau, die du dir vorgestellt hast. Als ich dich zum ersten Mal um die Scheidung bat, wolltest du nichts davon hören. Gestern Abend aber hast du nicht widersprochen. Du hast eingesehen, dass es mit uns nicht funktioniert.“

Sie spürte seine innere Anspannung.

„Nein, das stimmt nicht!“

„Das sagst du nur, weil ich ein Kind erwarte“, sagte sie sanft. „Aber ein Kind ist kein Mittel, eine gescheiterte Ehe zu kitten.“

„Ursprünglich wollte ich tatsächlich ein nettes, braves Mädchen als Ehefrau, aber das will ich längst nicht mehr!“, rief er erregt.

„Und was willst du?“ Eine leise Hoffnung keimte in ihr auf, von Ängsten und Zweifeln überschattet.

„Dich. Ich will dich, Chessie.“ Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als er fortfuhr: „Du bist die Frau, die ich mir an meiner Seite und als Mutter meiner Kinder wünsche.“ Zögernd setzte er hinzu: „Du bist die Frau, die ich liebe.“

„Rocco …“, begann sie, doch ihr fehlten die Worte.

„Ich weiß, du liebst mich nicht. Aber ich werde alles tun, um dir das Leben zu ermöglichen, das du dir immer gewünscht hast.“

„Wenn du mich liebst, warum wolltest du mich dann gestern Abend gehen lassen?“, fragte sie verwirrt.

„Weil ich erkannt habe, dass man einen Menschen, den man wirklich liebt, auch glücklich sehen will. Und ich habe gemerkt, was es heißt, verletzlich zu sein.“

Chessie sah ihn verwundert an. Rocco war der stärkste, unverwundbarste Mann, den sie kannte. „Du warst bereit, mich freizugeben?“

„Dein Glück geht mir über alles, aber lass uns einen anderen Weg finden, wie wir eine Familie bleiben können, ohne dass du auf etwas verzichten musst.“ Er zog sie behutsam in seine Arme, längst nicht so selbstsicher wie sonst. „Ich will nicht, dass du gehst. Und ich will nicht, dass du mir meine Tochter nimmst!“

Chessie schluckte trocken. „Mein Vater hat meiner Mutter nie verziehen, dass ich ein Mädchen war. Und er hat mich seinen Hass immer spüren lassen.“

„Damals in Florenz erwähntest du, dass du dich ein einziges Mal gegen ihn aufgelehnt hast. Erzähl mir davon“, bat er.

„In der Schule fand ein Malwettbewerb statt.“ Chessies Stimme zitterte bei der Erinnerung. „Ich malte nachts, wenn mein Vater dachte, ich schliefe.“

„Und?“

„Er hat mein Bild zerstört.“ Es tat immer noch weh, daran zu denken. „Ich war völlig verzweifelt. Ich hatte so hart daran gearbeitet und war sehr stolz auf mein Werk! Also schrie ich ihn an, nannte ihn einen Tyrann, und er geriet außer sich vor Wut. Erst schlug er mich, dann fiel er über meine Mutter her, warf ihr vor, ihm keinen Sohn geboren und bei meiner Erziehung versagt zu haben. Danach habe ich nie wieder aufbegehrt.“

Rocco nahm ihr Gesicht in beide Hände. „Gut, dass er tot ist“, sagte er rau, „sonst würde ich ihn womöglich umbringen für alles, was er dir angetan hat.“

„Es ist vorbei. Aber jetzt weißt du, warum ich nicht bei seiner Beerdigung war. Und als du mir damals nach meiner Ankunft auf Sizilien sagtest, meine Mutter sei nicht mehr da, dachte ich im ersten Moment …“

„Er hätte ihr etwas angetan?“

„Ja.“

„Wie du schon sagtest, es ist vorbei. Jetzt musst du an die Zukunft denken! Und deine Zukunft ist hier bei mir.“ Er strich ihr einige widerspenstige Locken aus der Stirn. „Bleibst du bei mir, auch wenn du mich nicht liebst?“

„Diese Frage kann ich dir unmöglich beantworten, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass es so wäre!“ Überglücklich schmiegte sie sich an ihn. „Ich liebe dich doch, Rocco! Ich weiß es schon lange, und ich habe mich so über die Schwangerschaft gefreut! Als ich dann hörte, es sei ein Mädchen, habe ich Panik bekommen. Ich wusste viel zu wenig von dir! Und wie konnte ich ahnen, dass du mich liebst?“

„Und doch wolltest du dich scheiden lassen. Du sprachst davon, was du noch alles ausprobieren möchtest …“

„Ich wollte doch nur unsere Tochter beschützen! Ich dachte, ich hätte keine andere Wahl, als dich zu verlassen.“

Die Anspannung wich aus seiner Miene, und er drückte ihr einen zarten Kuss auf die Lippen. „Du kämpfst schon jetzt wie eine Löwin für sie, dabei ist sie noch gar nicht auf der Welt! Unsere Tochter ist ein Glückspilz.“

„Nein, der Glückspilz bin ich“, flüsterte Chessie lächelnd. „Weil du mich liebst, und das bedeutet mir mehr als alles andere. Liebe ist alles, was zählt.“

Er küsste sie, hob den Kopf und sah ihr in die Augen. „Ich kann kaum glauben, dass du mich auch liebst, aber jetzt lasse ich dich nie wieder fort. Ich werde dich immer lieben, egal was geschieht. Egal was das Schicksal für uns bereithält. Immer und ewig.“

„Ich bin aber keine brave, fügsame Ehefrau“, warnte sie.

Rocco schenkte ihr sein verführerischstes Lächeln. „Du bist die einzige Ehefrau, die ich will, tesoro.“

– ENDE –