Sie wusste es, ohne sich umzudrehen.
Die Hitze, die plötzlich durch ihren Körper pulsierte, ihren Herzschlag rasen und ihre Atmung schneller werden ließ, signalisierte Sheryl Baker überdeutlich, dass die Person, die soeben vor dem Casa la Monta vorfuhr, nicht irgendwer war.
Weder eine Freundin oder ein Bekannter noch einer der Arbeiter und auch kein potenzieller Kunde. Sondern der Mann, den sie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Der Mann, der sich einfach von einem Tag auf den anderen aus ihrem Leben geschlichen und sie damit nicht nur beinahe um ihre Existenz gebracht, sondern ihr auch das Herz gebrochen hatte.
Ihr Ehemann.
Sheryl war gerade dabei, den Zaun, der das Gestüt umgab, abzuschmirgeln, um ihn für eine frische weiße Lackierung vorzubereiten – eine Aufgabe, die reichlich anstrengend war, zumal die Sonne hoch am Himmel stand und kaum ein Lüftchen wehte.
Für Hilfskräfte fehlten Sheryl die Mittel, und so hockte sie selbst auf dem Boden und versuchte, so schnell wie möglich voranzukommen, während ihr der Schweiß in Strömen übers Gesicht lief.
Als der Wagen hinter ihr vorfuhr, hielt sie inne. Die Versuchung, sich umzudrehen, war groß, doch sie erlag ihr nicht, und daran sollte sich auch nichts ändern. Wenn Jeremy etwas von ihr wollte, sollte er gefälligst um sie herum kommen oder sie zumindest ansprechen.
Sein Besuch kam nicht gänzlich unerwartet. Seit zwei Tagen wusste Sheryl, dass er sie sehen wollte. Vor zwei Tagen hatte sie nämlich erfahren, dass ihr Mann endlich aufgespürt worden war. Dass er überhaupt noch lebte. Und nicht bei einem Unfall ums Leben gekommen oder einem Verbrechen zum Opfer gefallen war, ohne dass man seine Leiche jemals gefunden hatte.
Genau solche schrecklichen Szenarien waren Sheryl in den vergangenen zwei Jahren immer und immer wieder durch den Kopf gegangen. Tagsüber hatten sie sich in ihre Gedanken geschlichen, nachts in schreckliche Albträume.
Tief in ihrem Herzen hatte sie sich nicht vorstellen können, dass der Mann, den sie so gut zu kennen glaubte, sie tatsächlich einfach verlassen hatte.
Dass sie sich geirrt und er genau das getan hatte, war ihr schließlich klar geworden, als die Privatdetektivin, die in Sheryls Auftrag seit fast zwei Jahren nach Jeremy suchte, sich plötzlich bei ihr meldete und verkündete, dass ihr Mann aufgetaucht sei und sie sehen wolle.
Allerdings war die Rede von morgen gewesen und nicht von heute.
Was bildet er sich eigentlich ein, jetzt schon hier aufzukreuzen? Wäre er morgen gekommen, hätte ich mich zurechtmachen können und …
Sie unterdrückte einen Fluch. Was sollte das denn jetzt? Warum, um alles in der Welt, wollte sie sich für den Mann zurechtmachen, der ihr so viel Leid zugefügt hatte?
Sollte er ruhig sehen, was er angerichtet hatte! Wie hart sie schuften musste, seit er einfach von jetzt auf gleich verschwunden war.
Sheryl versuchte verbissen, sich weiter auf ihre Arbeit zu konzentrieren und sich nicht umzudrehen. Doch der Versuchung weiterhin zu widerstehen, war nicht leicht. Sie musste sich förmlich zwingen.
Aber war das ein Wunder? Immerhin handelte es sich bei dem Menschen, der ganz offensichtlich zögerte, aus dem Wagen zu steigen, noch immer um ihren Ehemann. Egal, was geschehen sein mochte – sie waren verheiratet.
Sheryl stand kurz davor, ihren Vorsatz zu brechen und sich doch umzublicken, als sie hörte, wie die Wagentür geöffnet und nur wenige Sekunden später wieder zugeschlagen wurde. Gleich darauf fuhr das Auto weiter.
Jeremy war also nicht selbst gefahren, sondern mit einem Taxi gekommen. Sie hielt inne, als erst Schritte erklangen, dann ein Räuspern.
„Sheryl?“
Sie schloss die Augen und spannte all ihre Muskeln an. Das Erste, was ihr auffiel, war, dass Jeremys Stimme noch genauso klang wie früher. Dunkel, ein wenig rau, sehr männlich. Gleichzeitig ungeheuer aufregend. Doch irgendetwas fehlte.
Sheryl runzelte die Stirn. Es war die Autorität, die Jeremy früher mit jedem gesprochenen Wort ausgestrahlt hatte und die jetzt nicht mehr in seiner Stimme lag. Stattdessen klang er unsicher. Unsicher und … ja, fast ein wenig schüchtern.
Sie erwiderte nichts, konnte dem Drang, aufzustehen und sich umzudrehen, aber nicht länger widerstehen und wandte sich um. Und als sie ihren Ehemann jetzt zum ersten Mal nach zwei Jahren wieder sah, war es nicht nur ihre Nervosität, die ihre Knie zittern ließ.
Er ist noch immer genauso sexy wie früher …
Am liebsten hätte sie sich für diesen Gedanken geohrfeigt. Sie sollte alles tun – auf Jeremy zustürmen und auf ihn einschlagen, ihn wüst beschimpfen oder sich zumindest in seine Arme werfen und hemmungslos weinen, weil die Gefühle sie einfach übermannten.
Auf keinen Fall aber sollte sie ihn bewundern. Wofür auch? Dafür, dass er sie im Stich gelassen hatte? Nein, ein solcher Mann verdiente keinerlei Bewunderung.
Und doch konnte sie nicht anders. Denn als er ihr jetzt gegenüberstand, wusste sie wieder, warum sie sich damals in ihn verliebt hatte.
Er war groß, gut zwei Köpfe größer als sie selbst. Sein Haar trug er ein wenig länger als früher, doch es war offensichtlich, dass er noch immer nicht recht wusste, was er mit seinen unbändigen dunklen Locken anfangen sollte. Sie wirkten stets ein wenig zerzaust und unordentlich, doch das ließ ihn nicht etwa nachlässig oder ungepflegt wirken. Nein, ganz im Gegenteil. Es machte einen großen Teil seines verwegenen Charmes aus, wie Sheryl fand. Und dann diese Augen …
Sie waren weder grau noch blau oder grün, sondern wiesen eine ganz eigentümliche Mischung aus diesen drei Farben auf. Je nachdem, in welchem Licht man sie betrachtete, schienen sie eine andere Schattierung anzunehmen, und Sheryl war sicher, darin auch schon goldene Glanzlichter entdeckt zu haben. Früher hatte sie stundenlang einfach nur dasitzen und ihm in die Augen schauen können.
Die Frage war nur, wie er es nach allem, was vorgefallen war, noch wagen konnte, ihr in die Augen zu blicken …
Sie räusperte sich. Ihre Kehle war ganz rau. Das lag bestimmt an der Arbeit in der trockenen Hitze. Natürlich, woran auch sonst?
„Wie geht es dir?“, fragte sie und bemühte sich, keinerlei Emotion in ihre Stimme zu legen – ein Versuch, der kläglich misslang.
Er sah sie an. Unwillkürlich versuchte Sheryl, seinen Blick zu deuten, während er sie von oben bis unten musterte. Sofort schämte sie sich dafür, ihm so gegenüberzustehen. Sicher wirkte sie alles andere als anziehend auf ihn.
Sie trug alte, abgeschnittene Jeans und ein weißes ärmelloses Shirt, das vor Schmutz starrte. Ihr Gesicht war ungeschminkt, zudem schweißüberströmt, und das blonde, schulterlange Haar vollkommen zerzaust und zu einem lockeren Zopf im Nacken zusammengefasst.
Wieder ärgerte sie sich über ihre eigenen Gedanken. Wie konnte sie auch nur auf die Idee kommen, sich Jeremy gegenüber für irgendetwas zu schämen?
Er war es, der sich zu schämen hatte, nicht sie!
„Das wollte ich eigentlich dich fragen“, erwiderte er nun und stellte seinen Koffer, den er die ganze Zeit über festgehalten hatte, neben sich ab. „Also: Wie geht es dir, Sheryl? Bist du zurechtgekommen in den letzten Monaten?“
Einen Moment lang konnte sie ihn nur fassungslos anstarren. Doch ihm in die Augen zu schauen, ließ ein Gefühl des Unbehagens in ihr aufsteigen, und so sah sie an ihm vorbei.
Der Anblick der Natur hinter ihm half ihr ein wenig dabei, sich zu beruhigen. Die hohen Hügel, auf denen saftig grünes Gras wuchs, Oliven- und Mandelbäume, deren Blüten einen angenehmen, süßlichen Duft verbreiteten, und im Hintergrund die Berge der Sierra Morena. Über allem spannte sich der azurblaue, wolkenlose Himmel, und die strahlende Sonne tauchte dieses wundervolle Stück Natur in einen herrlichen Glanz.
Immer wenn Sheryl diesen bezaubernden Anblick genoss, erinnerte sie sich daran, wie glücklich sie hier einst gewesen waren. Sicher, es hatte Probleme gegeben. Sheryls Unfähigkeit, Menschen zu vertrauen, zum Beispiel. Oder Jeremys bohrende Eifersucht.
Dennoch – damit, dass er sie einfach ohne ein Wort verlassen könnte, hätte sie niemals gerechnet. Jeremy hatte doch genau gewusst, wie schwer ihr das alles gefallen war. Ihm zu vertrauen. Ihn zu heiraten. Mit ihm hierher in die Fremde zu kommen … Nachdem sie zuvor in ihrem Leben immer nur enttäuscht und nie geliebt worden war … Wie hatte er nur so etwas Abscheuliches tun können?
Er hat dich nicht geliebt, nicht wirklich. Sonst wäre er gar nicht imstande gewesen, dich so zu behandeln!
„Wie ich zurechtgekommen bin?“ Aus wütend zusammengekniffenen Augen funkelte sie ihn an. „Wie kannst du es wagen, mir eine solche Frage zu stellen, dich nach meinem Wohlbefinden zu erkundigen, nachdem du dich einfach ohne ein Wort des Abschieds oder der Erklärung aus dem Staub gemacht und dich danach nie mehr gemeldet hast? Was glaubst du denn, wie es mir da gegangen ist?“
Er schien regelrecht unter ihren Worten zusammenzuzucken, wie Sheryl verwundert feststellte. Wie konnte ihn das, was sie sagte, so hart treffen? Er musste doch wissen, welchen Schmerz er ihr zugefügt hatte.
„Habe ich das denn wirklich?“, fragte er leise, und hinter seiner Stirn schien es angestrengt zu arbeiten. „Ich meine, bin ich tatsächlich einfach auf und davon?“
Sie riss die Augen auf. „Da fragst du noch? Ich fasse es ja nicht! Du kommst hierher, nach zwei Jahren, und stellst mir so eine Frage?“
„Aber ich …“
„Nein, Jeremy!“, fiel sie ihm aufgebracht ins Wort. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, und blinzelte sie hastig fort. Wenn sie eines nicht wollte, dann war es, vor Jeremy zu weinen. Diese Blöße wollte sie sich nicht auch noch geben. Sie wollte nicht heulen, nicht jammern. Das hatte sie in den letzten vierundzwanzig Monaten oft genug getan. Jetzt war Schluss damit, endgültig!
„Ich habe keine Lust auf irgendwelche Ausflüchte oder auf weitere Fragen von dir. Ich will nur eines von dir wissen, Jeremy, nur eines!“
„Und das wäre?“
„Warum?“ Sie sah ihn herausfordernd an. „Warum, zum Teufel, bist du einfach so fortgegangen?“ Dieses Mal machte es ihr nichts aus, ihm direkt in die Augen zu schauen. Ihr Blick war fest, und zu ihrem Erstaunen schien Jeremy nicht in der Lage zu sein, ihm standzuhalten.
Schweigend senkte er den Kopf. Offenbar überlegte er, was er antworten sollte. Schließlich zuckte er mit den Schultern und sagte: „Ich weiß es nicht.“
Ich weiß es nicht? Sheryl konnte einfach nicht fassen, was sie da zu hören bekam. Sie hatte mit vielem gerechnet – mit einer reumütigen Entschuldigung, mit löchrigen Erklärungsversuchen oder auch damit, dass er ihr klipp und klar sagen würde, dass er nichts mehr für sie empfand und es damals einfach nicht länger mit ihr ausgehalten hatte.
Darauf aber, dass er „Ich weiß es nicht“ antworten könnte, wäre sie in hundert Jahren nicht gekommen.
Seufzend winkte sie ab. Es kostete sie Mühe, nicht wild herumzubrüllen. Aber genau das wollte sie nicht. Er sollte sie nicht zu emotional erleben.
„Hör zu, Jeremy, es mag sein, dass du heute selbst nicht mehr verstehst, warum du das damals getan hast, aber …“
„Nein, das ist es nicht“, unterbrach er sie und blickte wieder auf. „Du hast mich falsch verstanden. Was ich meine ist, dass ich es wirklich nicht weiß. Ich habe mein Gedächtnis verloren, Sheryl. Das Einzige, woran ich mich erinnern kann, sind die letzten zwei Jahre. Alles, was sich davor in meinem Leben abgespielt hat, ist nicht mehr da. Du, dieses Gestüt hier, meine Eltern, meine Kindheit – an nichts kann ich mich erinnern. Du meine Güte, ich weiß ja nicht einmal, ob wir wirklich verheiratet sind oder ob wir Kinder haben. Ich kenne dich nicht, Sheryl.“
Es dauerte einen Moment, ehe die Bedeutung seiner Worte zu ihr durchdrang. Das … konnte doch nicht sein! Erlaubte er sich etwa einen bösen Scherz mit ihr? Wollte er sie für dumm verkaufen? Doch so, wie er sie ansah, konnte sie sich nicht vorstellen, dass er ihr etwas vormachte. Nein, er schien tatsächlich die Wahrheit zu sagen.
Es kostete sie Mühe, die Sprache wiederzufinden. „Mein Gott“, sagte sie heiser und musste schlucken. „Soll das etwa heißen, du leidest unter … Amnesie?“
Prüfend musterte Jeremy die Frau, mit der er verheiratet sein sollte. Doch es fiel ihm schwer, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Die ganze Zeit über hatte ihr Anblick ihn abgelenkt, ihn die Worte vergessen lassen, die er sich auf der Taxifahrt so sorgsam zurechtgelegt hatte.
Die Wirkung, die sie auf ihn ausübte, traf ihn, gelinde gesagt, unvorbereitet. Er konnte sich nicht daran erinnern, in den vergangenen zwei Jahren jemals so heftig auf eine Frau reagiert zu haben. Aber war das wirklich verwunderlich, so wie sie vor ihm stand?
Unwillkürlich ließ er seinen Blick noch einmal über sie schweifen. Die abgeschnittenen Jeans, die so kurz waren, dass das Innenfutter der Seitentaschen zu sehen war, und das ehemals weiße, nun völlig durchgeschwitzte und vor Dreck starrende Achselshirt brachten seinen Puls unwillkürlich zum Rasen. Ein feuchter Schimmer lag auf ihrer gebräunten Haut, und es war offensichtlich, dass sie ihr Haar nur auf die Schnelle zusammengebunden hatte, ohne darauf zu achten, wie es aussehen mochte.
Sie war vollkommen ungeschminkt – und unglaublich sexy.
Atemberaubend.
Ihm war klar, dass dies absolut die falschen Gedanken waren. Es gab anderes, das ihm durch den Kopf gehen sollte. Kein Zweifel – sie war wütend auf ihn, zumindest bis gerade eben. Er musste sie verletzt haben, sehr sogar.
Hatte er sie wirklich einfach verlassen?
Falls ja, musste er auch ein absoluter Vollidiot sein. Eine andere Bezeichnung fiel ihm nicht ein für einen Mann, der so verrückt war, diese Frau derart zu behandeln.
Du kennst sie doch gar nicht. Wer sagt dir, dass sie es nicht herausgefordert hat? Nichts weißt du über sie, nichts!
Ihm war nicht entgangen, dass sich ihr Gesichtsausdruck geändert hatte. Die Wut war verschwunden und hatte Besorgnis Platz gemacht. „Ist … das wirklich wahr?“, fragte sie. Ihre Stimme klang heiser. „Du kannst dich an nichts erinnern?“
Er nickte. „So wahr ich hier stehe.“
„Aber … erkennst du mich denn gar nicht? Ich meine, wir sind doch verheiratet!“
Jeremy wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Es musste ein Schock für sie sein.
Dass es eine Frau in seinem Leben gab, war ihm schon kurz nach seinem Erwachen damals klar geworden. Den Hinweis darauf hatte ein kleiner, aber sehr wichtiger Gegenstand geliefert, den er bei sich getragen hatte.
Trotzdem war er wie vor den Kopf geschlagen gewesen, als der Privatdetektiv, den er engagiert hatte, um etwas über sein früheres Leben herauszufinden, sich vor wenigen Tagen mit neuen Erkenntnissen gemeldet hatte.
„Ich habe die Information von einer Kollegin in Andalusien“, hatte der Detektiv gesagt. „Was wir im Augenblick sagen können, ist, dass Sie verheiratet sind und vor zwei Jahren spurlos verschwanden.“
Mehr wusste Jeremy nicht. Er hatte Sheryl ausrichten lassen, dass er sie am nächsten Tag aufsuchen wollte. Doch er war früher in Andalusien angekommen, weil er es einfach nicht mehr ausgehalten hatte. Er hatte gehofft, dass die Begegnung mit seiner Frau etwas in ihm wecken würde. Etwas aus seinem früheren Leben. Eine Erinnerung an das, was schließlich dazu geführt hatte, dass er eines frühen Morgens im Hafen von Casablanca aufgewacht war – ohne jegliche Erinnerung an irgendetwas.
Unwillkürlich zuckte er zusammen, als die Bilder vor seinem geistigen Auge auftauchten. Er, zusammengekauert in einer finsteren Ecke, um ihn herum nur Schmutz und Dreck.
Und all das Blut …
Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Aber am liebsten hätte er laut aufgeschrien. „Es tut mir leid, aber es ist so, wie es ist. Ich erinnere mich nicht. Nicht an dich und auch nicht an das hier.“ Er machte eine alles umfassende Handbewegung. „Ist das … unser Zuhause?“
„Ja.“ Sie schluckte hörbar. „Wir sind vor vielen Jahren aus London hierhergekommen, nachdem du das Gestüt geerbt hast. Du hattest eine schwere Zeit in England und hast dir einen Neuanfang gewünscht.“
„Waren wir da schon verheiratet?“
Sie nickte. „Schon eine ganze Weile.“
„Und warum lässt du das nicht einen der Arbeiter machen?“, erkundigte er sich vorsichtig und deutete auf den Zaun. „Wir haben doch Arbeiter, oder?“
„Wir hatten einige. Aber nachdem …“ Sie schüttelte den Kopf. „Hör zu, Jeremy, ich muss das alles erst einmal verarbeiten. Dass du wieder da bist. Und dass du dich angeblich an nichts erinnerst.“
Er blinzelte. „Du glaubst mir also nicht?“
Einen Augenblick lang sah sie ihn schweigend an. „Ich denke, wir sollten uns in aller Ruhe unterhalten. Lass uns in die Küche gehen, ja? Ich glaube, etwas zu trinken wird uns beiden guttun.“
Er nahm seinen Koffer, und sie führte ihn in ihr gemeinsames Haus. Zumindest nahm er an, dass es das war. Wirklich wissen konnte er es nun mal nicht.
Ohnehin hatte seine Verwirrung nur noch zugenommen, seit er angekommen war. Zwei Jahre lang hatte er keine Ahnung gehabt, wer er überhaupt war. Und nachdem er schließlich vor wenigen Tagen von Sheryl erfahren hatte, war er davon ausgegangen, dass sie erleichtert sein würde, ihn zu sehen. Dass sie in Tränen ausbrechen würde, weil sie so froh war, dass er noch lebte. Oder ihn zumindest in den Arm nahm, ihn küsste.
Doch nichts von alldem war eingetreten, im Gegenteil: Sheryl hatte praktisch überhaupt keine Emotionen gezeigt, nichts! Zudem spürte er eine gewisse Kühle, die von ihr ausging, und ein ausgeprägtes Misstrauen.
Unwillkürlich fragte er sich, was passiert war, bevor er sein Gedächtnis verloren hatte. Hatte ihre Ehe in einer Krise gesteckt? Waren Sheryl und er überhaupt noch zusammen gewesen? Dass er einfach auf und davon war, deutete zumindest darauf hin. Aber irgendwie ahnte er, dass das nicht alles war.
Sie betraten das Haus. Die Diele, in der er seinen Koffer abstellte, war lang und schmal, und das Gefühl, das er sich erhofft hatte, trat hier nicht ein.
Nein, er hatte nicht das Gefühl, nach Hause zu kommen. Dies hier mochte vielleicht sein Zuhause gewesen sein. Früher. Aber jetzt war es nur fremd für ihn. Und woher wollte er überhaupt wissen, wie es sich anfühlte, heimzukommen? Schließlich konnte er sich nicht daran erinnern, so etwas jemals gehabt zu haben.
Ein Heim …
Die Wände waren in einem mediterranen, hellen Braunton gestrichen. Überall hingen Bilder, die das widerspiegelten, was er auf der Fahrt zum Haus schon gesehen hatte: die traumhafte Landschaft Andalusiens. Endlose Landschaften, weite Olivenbaumplantagen, weiß gestrichene Fincas, mächtige Berge und lange weiße Sandstrände.
Sheryl ging nach links in einen Raum. Jeremy folgte ihr und fand sich in einer Küche wieder. Nein, korrigierte er sich. Nicht einfach in einer Küche, sondern in meiner eigenen.
Auch hier sah er sich um. Alles war geradezu peinlich sauber, doch die Einrichtung selbst hatte schon bessere Tage gesehen. Die Oberfläche der dunklen Holzschränke wirkte verblichen, und dem großen Esstisch fehlte ein Bein, das notdürftig durch einen Zaunpfahl ersetzt worden war. Die Gardinen an den Fenstern waren alt und schon ein wenig fadenscheinig, aber mit hübschen Stickereien versehen. Einige Schränke besaßen gar keine Türen mehr.
Bei allem, was er sah, horchte Jeremy in sich hinein. Hatte er irgendetwas davon schon einmal gesehen? Konnte er sich an etwas erinnern? Doch da war nichts, rein gar nichts, das irgendeine Reaktion in ihm auslöste.
Unschlüssig blieb er im Raum stehen, während Sheryl den Kühlschrank öffnete. Sie holte eine Flasche Budweiser heraus und hielt sie ihm hin. Als er Sheryl fragend ansah, erklärte sie: „Dein Lieblingsbier. Du hast jeden Abend nach getaner Arbeit eine Flasche getrunken, aber nie mehr.“ Sie zögerte. „Ich … Ich habe seit zwei Jahren immer ein paar Flaschen im Kühlschrank. Für den Fall, dass du wieder auftauchst …“
Ihre Worte versetzten ihm einen Stich. Er spürte, dass sie traurig war. Bloß warum konnte sie sich nicht einfach freuen, dass er nun wieder hier war? Sicher gab es vieles zu klären, vor allem, warum er von hier fortgegangen war. Trotzdem hatte er erwartet, dass sie erst einmal erleichtert sein und sich freuen würde.
Er lehnte das Bier mit einer raschen Handbewegung ab. „Es ist noch früh am Tag, und ich möchte einen klaren Kopf behalten.“ Kopfschüttelnd lachte er auf. „Sofern man in meinem Fall überhaupt davon reden kann.“
Sie nickte. „Limonade?“
„Gern.“
„Setz dich doch.“ Sie stockte kurz, dann fügte sie hinzu: „Du hast immer dort am Fenster gesessen.“
Er nahm Platz und ließ seinen Blick noch einmal durch den Raum schweifen. Verzweifelt hoffte er darauf, dass etwas Erinnerungen in ihm hervorrief.
Doch da war nichts. Er saß einfach nur in einer Küche an einem Tisch. Bei einer fremden Frau.
Einer fremden Frau, zu der er sich körperlich hingezogen fühlte, die ihm jedoch die kalte Schulter zeigte.
Während Sheryl Limonade in zwei Gläser goss, warf er einen Blick aus dem Fenster. Er sah die Zufahrt zum Wohnhaus, gesäumt von Mandelbäumen und Blumenbeeten.
„Hier.“ Sheryls Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er sah sie an. Sie hielt ihm ein Glas hin, das er ergriff. Dabei berührten seine Finger ihre Hand.
Nur ganz kurz, ganz flüchtig.
Doch plötzlich war es da.
Das Gefühl von vertrauter Sehnsucht.
Er spürte, wie Wärme sich in ihm ausbreitete. Keine Frage: Sein Gehirn mochte sich an nichts erinnern, sein Körper tat es hingegen sehr wohl.
Auch in Sheryl schien die Berührung etwas auszulösen. Hastig wandte sie sich ab und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch.
„Früher habe ich die Limonade immer selbst gemacht“, sagte sie, nachdem sie sich geräuspert hatte. „Aber seit du nicht mehr da bist … Für solche Sachen habe ich einfach keine Zeit mehr.“ Sie sah ihn auffordernd an. „Also?“
Nachdem er einen Schluck Limo getrunken hatte, die herrlich kalt seine trockene Kehle hinunterrann, stellte er das Glas ab und breitete in einer hilflosen Geste seine Arme aus. „Was soll ich sagen? Im Grunde gibt es da nicht viel, ich erinnere mich ja an nichts mehr. Ich weiß zwar die grundlegenden Dinge, also praktisch alles, was mit praktischen Fähigkeiten zu tun hat. Aber mir fehlt das Wissen über Menschen, die ich gekannt habe, über Dinge, die ich erlebt habe. Im Grunde hat mein Leben also vor zwei Jahren angefangen, bloß dass ich nichts neu erlernen musste.“
„Und … was ist deine älteste Erinnerung?“
Er zögerte, um seine Worte mit Bedacht zu wählen. „Ich bin eines Morgens aufgewacht, irgendwo im Hafen von Casablanca in der Nähe einer üblen Spelunke. Ich hatte einen fürchterlichen Brummschädel und konnte mich an nichts erinnern. Ich wusste nicht einmal meinen Namen. Ein schreckliches Gefühl, das kannst du mir glauben. Ich hatte nur das, was ich am Leib trug, sonst nichts. Weder eine Brieftasche noch Geld oder irgendwelche anderen Papiere. Nur dies.“
Er hob seine rechte Hand. Auf dem Ringfinger steckte ein goldener Ring. Auf der Innenseite waren die Worte „Für Jeremy, in Liebe“ eingraviert.
Er erinnerte sich, wie schlimm es damals für ihn gewesen war, diese Gravur zu entdecken. Zwar wusste er von da an, dass er Jeremy hieß, aber es hatte ihm auch schlagartig vor Augen geführt, dass es irgendwo dort draußen einen Menschen gab, der womöglich auf ihn wartete und sich Sorgen um ihn machte. Seine Ehefrau? Oder war er inzwischen geschieden? Oder … Dann hatte er an das viele Blut gedacht, und ein schrecklicher Verdacht war in ihm aufgekeimt.
Ein Verdacht, an dem, wie er nun wusste, Gott sei Dank nichts dran war.
„Dein Ehering“, riss Sheryl ihn aus seinen Gedanken. Sie hob nun ihrerseits ihre rechte Hand, an deren Ringfinger ein ähnlicher Ring steckte. Sie nahm ihn ab und zeigte Jeremy die Inschrift: „Für Sheryl, in Liebe.“
Sheryl schluckte hörbar, während sie den Ring wieder auf ihren Finger steckte. Sie sah Jeremy an. War da so etwas wie Mitleid in ihrem Blick? „Und … was ist dann passiert?“, wollte sie wissen.
„Erst mal hörte ich mich in der Umgebung um, versuchte herauszufinden, ob mich jemand kannte. Aber nichts.“ Er seufzte. „Also begann ich, mich mit Hilfsarbeiten über Wasser zu halten und mir so nach und nach eine Existenz aufzubauen.“
„Einfach so?“ Sie runzelte die Stirn. „Aber du bist doch sicher zur Polizei gegangen? Und zum Arzt!“
Er schluckte. Das war der Teil der Geschichte, über den er mit ihr nicht sprechen wollte. Über den er nicht sprechen konnte.
Denn Fakt war, dass seine Kleidung blutbeschmiert gewesen war, als er damals im Hafen aufwachte. Fakt war auch, dass das Blut nicht von ihm stammen konnte, denn er hatte, bis auf harmlose Prellungen, keinerlei Wunden gehabt. Und genau das war sein Problem. Denn seit zwei Jahren lebte er nicht nur ohne Ahnung um seine wahre Identität.
Sondern er wusste auch nicht, ob er womöglich ein Mörder war.