3. KAPITEL

„Und ihr lebt also auch hier auf dem Gestüt?“, erkundigte sich Jeremy, als sie alle am Küchentisch zusammensaßen.

Sheryl hatte Orangentee aufgesetzt, versetzt mit Zitronengras, wie er in Andalusien gern getrunken wurde. Vorhin, als Manolo und Lucia die Küche betreten hatten, war ihr nicht entgangen, dass Jeremy den Spanier eher reserviert begrüßt hatte.

War da nicht sogar so etwas wie Feindseligkeit in seinem Blick gewesen? Aber warum? Wenn es stimmte und Jeremy sich an nichts erinnern konnte, dann kannte er Manolo schließlich gar nicht. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf. Wahrscheinlich bildete sie sich das nur ein. Oder erinnerte Jeremy sich doch an etwas? Womöglich an …

„Wir wohnen in dem kleinen Gästehaus weiter hinten auf dem Grundstück“, unterbrach Manolos Antwort ihren Gedankengang. „Das war schon früher so, als der Hof noch deiner Tante gehörte.“

Sie hatten sich schon eine Weile über das Gestüt unterhalten, und Jeremy schien ehrlich interessiert zu sein an dem Alltagsleben auf dem Anwesen. Vor allem wohl, weil er hoffte, sich an irgendetwas erinnern zu können.

„Und im Augenblick habt ihr gar keine Gäste?“, erkundigte er sich.

Sheryl schüttelte den Kopf. „Eigentlich sollten in ein paar Tagen welche kommen, aber die haben ihren Besuch wieder abgesagt. Angeblich aus gesundheitlichen Gründen.“

„Angeblich?“, hakte Jeremy nach.

Sheryl nickte. „Ich vermute, dass das nur eine Ausrede ist und sie in Wahrheit von Adolpho Jiminez abgeworben wurden.“

Manolo stand auf, und seine Schwester tat es ihm nach. „Wir müssen dann auch wieder an die Arbeit“, sagte der Spanier und nickte Jeremy knapp zu. Er sah Sheryl an. „Du meldest dich, wenn du Hilfe brauchst, ja?“

„Sicher. Danke dir.“

Er umarmte sie zum Abschied, wie er es oft tat. Eine ganz flüchtige, freundschaftliche Umarmung – dennoch war es Sheryl dieses Mal unangenehm, und sofort warf sie einen prüfenden Blick auf Jeremy. Bloß warum?

Weil du Angst hast, dass der alte Jeremy mit all seinen schlechten Angewohnheiten wiederkommt.

Rasch löste sie sich von Manolo und atmete erst auf, als sie und Jeremy wieder allein in der Küche waren.

„Ich … ich wollte noch über etwas mit dir sprechen“, sagte sie und spürte, wie das Thema, das sie nun anschneiden wollte, ein Gefühl des Unbehagens in ihr aufsteigen ließ. „Es ist wegen …“

„Ich kann mir schon denken, was du sagen willst“, unterbrach Jeremy sie. „Du fragst dich sicher, ob ich wieder hier wohnen will, nicht wahr?“

Sie sah ihn an. „Selbstverständlich wirst du hier wohnen“, erwiderte sie. „Ich meine, sofern du es selbst willst natürlich. Es ist nur … Hör zu, Jeremy: Solange ich nicht weiß, was damals geschehen ist, also warum du mich verlassen hast …“ Sie holte tief Luft. „Ich möchte, dass du vorerst in einem der Gästezimmer schläfst.“

Amüsiert lächelte er.

Es war das erste Mal seit seiner Ankunft, dass Sheryl ihn so sah, und sein Lächeln ließ ihr Herz schneller schlagen. Plötzlich überkam sie ein unbeschreibliches Gefühl der Wärme und Geborgenheit, und am liebsten hätte sie sich in diesem Moment an seine starke Brust gedrückt.

Doch ihr Verstand sagte ihr etwas anderes.

Dieser Mann hat dich im Stich gelassen, schon vergessen?

Nein, wohl kaum. Wie könnte sie das je vergessen?

Als sie Jeremy damals kennengelernt hatte, war es sofort um sie geschehen. Zu der Zeit war sie eine schüchterne junge und nahezu unerfahrene Frau gewesen, für die es keinen rechten Platz im Leben zu geben schien. Bis dahin war sie immer nur herumgeschubst worden. Vor allem von ihrer Mutter, die …

Sheryl schüttelte den Kopf. Es brachte nichts, ausgerechnet jetzt in der Vergangenheit zu wühlen. Fest stand nur, dass Jeremy der erste Mensch gewesen war, dem sie sich vollends geöffnet hatte. Sie hatte ihm hundertprozentig vertraut, und obwohl er natürlich auch seine Macken hatte, wäre sie nie auf den Gedanken gekommen, dass er ihr Vertrauen eines Tages so mit Füßen treten würde. Aber er hatte es getan, und das sollte sie sich von jetzt an besser immer vor Augen halten.

„Hast du wirklich geglaubt, ich hätte erwartet, dass wir in einem Bett schlafen?“ Jeremys Lächeln wurde noch eine Spur breiter. „Hör zu, Sheryl, ich weiß, dass ich praktisch fremd für dich bin. Ich habe dich damals offenbar verlassen und schwer enttäuscht. Jetzt, nach zwei Jahren, bin ich wieder da, im Grunde ein Unbekannter. Aber vergiss nicht, dass auch du eine vollkommen Fremde für mich bist. Schließlich kann ich mich an überhaupt nichts mehr erinnern. Sofern du mich also hier wohnen lassen möchtest, bin ich mit einem der Gästezimmer voll und ganz zufrieden.“ Er machte eine kurze Pause und zuckte dann mit den Schultern. „Und wenn es hier nicht funktionieren sollte, kann ich auch jederzeit wieder zurück nach Huelva.“

Sie schüttelte den Kopf. „Erst mal musst du auf jeden Fall hierbleiben. In deiner früheren Umgebung wird es dir am ehesten gelingen, dich wieder zu erinnern.“ Sie sah ihn fest an. „Eine Bedingung aber habe ich.“

„Und die wäre?“

„Ich möchte, dass wir gleich morgen früh zu einem Arzt fahren, damit du dich gründlich untersuchen lassen kannst.“

„Aber Sheryl, was soll der mir denn sagen? Ich …“

„Keine Widerrede!“, unterbrach sie seinen Einwand. „Wie gesagt, das ist meine Bedingung. Ich möchte einfach wissen, was ein Arzt zu deinem Zustand sagt und wie groß die Chancen sind, dass du dein Gedächtnis wiedererlangst.“

Nachdenklich schwieg er einen Augenblick. „In Ordnung“, sagte er anschließend, „ich bin einverstanden.“

„Gut, dann lasse ich dir von Lucia eines der Zimmer herrichten.“

„Danke.“ Er stand auf. „Hast du etwas dagegen, wenn ich mir draußen die Füße vertrete? Ich würde mich auch gern ein wenig umsehen und schauen, ob mir hier etwas bekannt vorkommt. Außerdem …“ Er schüttelte den Kopf. „Ich wäre jetzt gern eine Weile allein.“

Sheryl nickte. „Kein Problem.“

Sobald er die Küche verlassen hatte, atmete sie auf. Auch sie brauchte wohl eine Weile für sich, um das alles zu verarbeiten.

Der Tag neigte sich bereits dem Ende zu, als Sheryl aus den Ställen trat, die sich auf der anderen Seite des Grundstücks befanden. Sie hatte die Pferde gestriegelt und versorgt, aber das war nicht der einzige Grund gewesen, warum sie am Nachmittag hierhergekommen war.

Zu den Pferden ging sie nämlich auch immer dann, wenn sie allein und gleichzeitig in Gesellschaft sein wollte.

Die Tiere gaben ihr einfach etwas, was ihr kein Mensch zu geben vermochte. Dabei wusste sie selbst nicht einmal, was genau das eigentlich war. Wärme? Geborgenheit? Fest stand nur, dass sie sich bei den Pferden gut aufgehoben fühlte.

Vor allem ein Pferd hatte einen besonderen Platz in ihrem Leben: Sunshine.

Vor vielen Jahren, als sie mit Jeremy hierher nach Andalusien gekommen war, hatte sie gleich an ihrem ersten Tag helfen müssen, ein Fohlen auf die Welt zu bringen. Damals war sie allein gewesen. Jeremy war mit Manolo und Lucia nach Sevilla gefahren. Andere Arbeiter hatte es zu der Zeit nicht gegeben, weil ihnen nach dem Tod von Jeremys Tante die Zukunft des Gestüts zu unsicher erschienen war. Dass das Fohlen zu früh kommen würde, hatte niemand ahnen können. Sheryl hatte den Tierarzt gerufen, der auch sofort gekommen war, jedoch ihre Hilfe benötigt hatte.

Zunächst war Sheryl regelrecht in Panik geraten. Sie war ein Stadtmensch und hatte kaum Erfahrung im Umgang mit Tieren. Am liebsten wäre sie davongelaufen, doch dem Tierarzt war es gelungen, sie mit den wenigen Brocken Spanisch, die sie damals verstanden hatte, zu beruhigen, und so hatten sie schließlich gemeinsam der Stute Ánima dabei geholfen, ein gesundes Fohlen zur Welt zu bringen.

Deshalb liebte Sheryl dieses Pferd ganz besonders.

Für sie war diese Geburt ein einschneidendes Erlebnis gewesen. Und mit diesem Erlebnis war sie so richtig in Andalusien angekommen.

Jeremy hatte darauf bestanden, dass sie dem Fohlen einen Namen gab. Spontan hatte sie es Sunshine getauft.

Sunshine, der Kosename ihrer Schwester …

Kim war acht Jahre jünger gewesen als sie. Als sie zur Welt gekommen war, waren sie noch eine glückliche Familie gewesen. Ihre Eltern hatten Kim immer Sonnenschein genannt, und Sheryl hatte es ihnen gleichgetan.

Als kleines Mädchen war Kim vernarrt in Pferde gewesen. Im Hyde Park hatte sie den Reitern immer ganz begeistert zugeschaut, und ab und zu waren sie auch zu den Ställen gegangen, damit Kim die Pferde streicheln konnte.

Dann war das Glück der Familie jäh zerstört worden, als Kim im Alter von nur sechs Jahren bei einem tragischen Autounfall ums Leben kam.

Sheryl schloss die Augen, als sie daran zurückdachte. Damals war sie vierzehn und hatte das alles kaum verstanden. Dass ihre Schwester, der kleine Sonnenschein der Familie, nicht mehr da sein sollte, war ihr einfach nur unwirklich erschienen.

Von da an war alles anders gewesen. Ihre Mutter ergab sich stumm ihrer Trauer, und ihr Vater ertränkte seinen Kummer im Alkohol. Nicht einmal ein Jahr nach Kims Tod hatte er seine Familie verlassen.

Mutter und Tochter waren nun ganz auf sich allein gestellt gewesen. Doch anstatt ihrem noch verbliebenen Kind all ihre Liebe und Zuneigung zu schenken, hatte Viola Wood genau das Gegenteil getan und …

„Perdón, riss Lucias Stimme sie aus ihren Gedanken. „Störe ich?“

Sheryl wandte sich um und lächelte Manolos Schwester zu, die soeben den Stall betreten hatte. „Aber Lucia“, sagte sie kopfschüttelnd, „du solltest doch langsam wirklich wissen, dass du niemals störst. Was gibt es denn?“

„Ich wollte eigentlich nur fragen, ob ich noch irgendetwas tun kann. Ich habe das Zimmer für Jeremy hergerichtet und in den restlichen Räumen Staub gewischt und gelüftet.“

„Das ist nett von dir, Lucia. Mehr ist heute wirklich nicht nötig. Du und dein Bruder solltet den Feierabend genießen. Ach, und morgen werden mein Ma…“ Sie stockte. Aus irgendeinem Grund viel es ihr schwer, die Worte „mein Mann“ auszusprechen. Lag es daran, dass der Jeremy, den sie heute empfangen hatte, im Grunde ein Fremder für sie war?

„Ich meine, Jeremy und ich werden morgen schon früh wegfahren. Würdest du dich bitte hier um alles Nötige kümmern, vor allem um die Pferde? Wir wollen zum Arzt, weißt du?“

Sí, naturalmente. Wird Jeremy denn … Wird er sich wieder erinnern können? Manolo fragt sich das auch schon die ganze Zeit. Er sorgt sich um den patrón.“

Sheryl stieß einen tiefen Seufzer aus. „Wenn ich das nur wüsste, Lucia. Ich hoffe, nach der Untersuchung morgen wissen wir mehr. Ich habe bereits einen Termin im Krankenhaus vereinbart.“ Sie lächelte. „Und jetzt sieh zu, dass du zu deinem Bruder kommst!“

„Gracias!“ Die Spanierin verabschiedete sich und verließ den Stall.

Sheryl wandte sich wieder Sunshine zu. Sanft strich sie der Stute über den Kopf. „Ach, Sunshine, wenn ich nur wüsste, wie es weitergehen soll …“

Damals, als sie nach Andalusien gekommen waren, war nur angedacht gewesen, dass Sheryl sich um den Haushalt kümmern sollte. Die restliche Arbeit, die auf dem Gestüt anfiel, hatte ­Jeremy allein übernehmen wollen. Nur für den Fall, dass sie nicht in der Lage sein würden, von den Einnahmen allein zu leben, wären Hilfsjobs in der Nachbarschaft für sie in Betracht gekommen.

Doch nachdem sie dabei geholfen hatte, Sunshine zur Welt zu bringen, war ihr klar geworden, wie ihre Zukunft aussehen würde. Sie wollte sich um die Pferde kümmern, reiten lernen und später Reitunterricht geben. Also hatte sie fortan verbissen dafür gearbeitet, und zwar mit Erfolg: Schon zwei Jahre nach ihrer Auswanderung gab Sheryl ihren ersten Unterricht, und die Arbeit mit den Gästen, oft Kinder und Jugendliche, bereitete ihr viel Freude.

Deshalb hatte sie auch keine Sekunde daran gedacht, die Flinte ins Korn zu werfen, nachdem Jeremy einfach aus ihrem Leben verschwunden war. Sie hatte dafür gekämpft, das Gestüt um jeden Preis weiterzuführen, so groß die Konkurrenz auch inzwischen sein mochte.

Sie wollte das alles hier am Leben halten.

Für sich.

Für die Tiere.

Und für Kim.

Die Frage war bloß, wie lange es noch gut gehen konnte. Finanzielle Reserven gab es im Grunde schon seit Jeremys Verschwinden nicht mehr. Er hatte zwar nicht alles mitgenommen, aber doch eine beträchtliche Summe. Damals hatten sie jedoch zumindest regelmäßig Gäste gehabt, was seit etwa einem Jahr kaum noch der Fall war.

Und die letzten sechs Monate waren die reinste Katastrophe gewesen.

Sheryl drehte jeden Cent dreimal um, bevor sie ihn ausgab. Doch sie konnte nur bedingt sparen: Bei der Pferdehaltung ging sie jedenfalls keinerlei Kompromisse ein, außerdem waren noch Kreditraten zu bezahlen. In der Konsequenz war sie kaum in der Lage, Arbeiter zu bezahlen, und um sämtliche Instandhaltungsarbeiten am Haus kümmerte sie sich entweder selbst zusammen mit Manolo oder sie ließ sie ganz einfach ruhen.

Aber natürlich wusste sie, dass es so nicht weitergehen konnte. Blieben die Gäste weiterhin aus, würde sie das Gestüt höchstens noch ein halbes Jahr halten können, bevor die Bank es zwangsversteigern ließ.

Das wäre dann das Ende des Casa la Monta.

Sheryl seufzte. Was sollte sie dann tun? Was würde aus den Pferden werden, was aus Manolo und Lucia? Was aus ihr selbst? Eines stand jedenfalls fest: Sollte dieser Fall eintreten, hätte Jeremy alles zerstört, was sie gemeinsam aufgebaut hatten.

Jeremy! Sheryl zog die Brauen zusammen, als sie daran dachte, was er ihr angetan hatte. Und dass er wieder da war, kam ihr noch immer vollkommen unwirklich vor. Du meine Güte, sie hatten am Mittag in der Küche zusammengesessen, wie früher.

Fast wie früher. Mit dem Unterschied, dass Jeremy sich eben nicht an früher erinnern konnte.

Wie war das nur möglich? Was war mit ihm passiert? Und immer wieder ein und dieselbe Frage: Warum hatte er sie im Stich gelassen?

Mit zusammengekniffenen Augen hob Jeremy den schweren, etwa ein Meter langen Hammer über die rechte Schulter, hielt die Luft an und ließ ihn anschließend mit voller Wucht auf den Zaunpfahl niedersausen.

Einmal.

Zweimal.

Dreimal.

Aufatmend stellte Jeremy den Hammer neben sich auf dem Boden ab und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Dann prüfte er mit der Hand, ob der Pfosten fest genug saß, und nickte zufrieden. Zufrieden zumindest mit seiner Arbeit. Nicht aber mit dem, was er eigentlich durch diese Arbeit hatte erreichen wollen.

Endlich den Kopf freizubekommen.

Nachdem er vor zwei Jahren ohne jegliche Erinnerung an sein früheres Leben im Hafen von Casablanca erwacht war, hatte er schnell festgestellt, dass harte, schweißtreibende Arbeit die beste Möglichkeit war, seine Gedanken zu sortieren. Und das war damals dringend notwendig gewesen. Niemand, der es nicht am eigenen Leib erfahren hatte, konnte sich vorstellen, wie schlimm es sich anfühlte, nichts von sich selbst zu wissen. Es gab so unendlich viele Fragen – und keinerlei Antworten.

Natürlich hatte Jeremy sich immer wieder umgehört, ob irgendjemand ihn kannte. Er hatte Zeitungen gelesen und im Internet geforscht, in der Hoffnung, auf einen Artikel über eine vermisste Person in der Umgebung zu stoßen. Doch nichts. Es gab einfach keinerlei Anhaltspunkte.

Zudem war da immer noch die Angst. Die Angst davor, dass er womöglich ein gesuchter Mörder war. Das war auch der Grund dafür, dass er den Gang zur Polizei oder in ein Krankenhaus scheute.

Und so hatte er beschlossen, zunächst im Hafen als Hilfsarbeiter anzuheuern, um Geld zu verdienen. Die Arbeit war hart, der Lohn gering, aber er bekam freie Kost und Logis und konnte so seinen Verdienst komplett sparen.

Nach fast zwei Jahren reichten seine Ersparnisse schließlich aus, um einen Privatdetektiv zu engagieren. Jeremy beauftragte ihn damit, herauszufinden, wer er war und woher er kam.

Und schon nach kurzer Zeit dann der Erfolg. Über eine Kollegin aus Andalusien hatte der Detektiv erfahren, dass ein gewisser Jeremy Baker seit etwa zwei Jahren vermisst wurde. Mehr wollte Jeremy nicht hören. Er bat den Detektiv, ihn bei seiner vermeintlichen Ehefrau anzumelden – und machte sich dann sofort auf den Weg nach Andalusien …

Hier war er nun. Und er hatte erste Antworten auf seine vielen Fragen bekommen. Antworten, die ihm jedoch nicht gefielen.

Wie es schien, war er ein gemeiner Schuft. Er hatte seine Frau verlassen und zuvor das gemeinsame Konto fast leer geräumt. Damit hatte er nicht nur Sheryls Herz gebrochen, sondern auch beinahe ihre Existenz zerstört.

Was für ein Mensch war er, dass er so etwas tun konnte?

Bei dem Gedanken an Sheryl spielten seine Gedanken nicht zum ersten Mal an diesem Tag verrückt. Wie sehr wünschte er sich, sie würde ihn anlächeln und ihn berühren. Auch sehnte er sich danach, sie anzufassen. Wie mochte sich die Frau, die einmal seine gewesen war, anfühlen?

Doch sogleich kam auch wieder Misstrauen auf. Er wusste nicht, wer diese Frau war. Und er wusste nicht, wie es um ihre Ehe gestanden hatte. Alles, was er wusste, war, dass ihn vorhin, als er sie mit diesem Manolo gesehen hatte, ein ungutes Gefühl beschlichen hatte.

Und selbst wenn das nichts zu bedeuten hatte, so durfte er trotzdem keinesfalls zulassen, dass sie sich zu nahe kamen. Nicht nur in seinem eigenen, sondern vor allem in ihrem Interesse.

Nicht bevor er herausgefunden hatte, ob er tatsächlich ein Mörder war.

Rasch verscheuchte Jeremy den düsteren Gedanken, dann ergriff er den Hammer wieder, holte aus und schlug noch einmal mit voller Wucht auf den ohnehin schon fest sitzenden Zaunpfahl ein.

Sheryl stockte der Atem.

Sie hatte die Stallungen verlassen und wollte die Werkzeuge wegräumen, die sie benötigt hatte, um den Zaun abzuschmirgeln, und die noch vor der Zufahrt zum Casa la Monta lagen. Jetzt stand sie da und beobachtete, wie Jeremy mit freiem Oberkörper den schweren Hammer auf einen Zaunpfahl niedersausen ließ.

Sheryl schluckte. Seine nackte, braun gebrannte Brust war von einem dünnen Schweißfilm überzogen und glänzte im Schein der Abendsonne. Nachdem er den Schlag ausgeführt hatte, bemerkte er sie und ließ den Hammer zu Boden sinken. Mit der rechten Hand schirmte er das Gesicht vor der Sonne ab und sah sie an.

„Beobachtest du mich etwa?“, fragte er, und Sheryl konnte dem Klang seiner Stimme nicht entnehmen, ob er eher amüsiert oder verärgert war.

Sie konnte nicht sofort antworten, weil ihre Kehle plötzlich ganz rau war. Mit der Zunge befeuchtete sie ihre trockenen Lippen und schluckte dann angestrengt. „Ich …“ Sie räusperte sich. „Ich wollte eigentlich nur die Sachen in den Schuppen räumen.“ Mit dem Zeigefinger deutete sie auf das Schmirgelpapier und den Werkzeugkoffer.

Dann ließ sie ihren Blick von links nach rechts über den Zaun wandern und stellte fest, dass er ihre Arbeit sehr gut fortgeführt hatte. Er musste den ganzen Nachmittag hier verbracht haben. Anerkennend nickte sie. „Alle Achtung, du bist ja schon weit gekommen.“ Sie lachte. „Dafür hätte ich bestimmt noch drei Tage gebraucht!“

Er winkte gelassen ab. „Ach was, das war eine Kleinigkeit. Einige der Pfähle waren locker. Ich habe sie ganz gelöst und dann neu in den Boden gerammt. Den Hammer habe ich von Manolo.“

„Manolo hat dir geholfen?“, fragte Sheryl und konnte nicht verhindern, dass sich ein wenig Unbehagen in ihre Stimme schlich. Am liebsten wäre es ihr, wenn Jeremy fürs Erste nicht allzu viel Zeit mit Manolo verbrachte. Es gab da ein paar Dinge, die Jeremy nicht unbedingt …

„Ich habe ihn nur gefragt, wo ich einen Hammer finde“, antwortete er und riss sie damit aus ihren Gedanken. „Er hat zwar angeboten, mir zu helfen, aber ich wollte lieber etwas für mich sein. Außerdem …“

„Ja?“

Er zuckte mit den Schultern. Allein diese flüchtige Bewegung und das damit verbundene Spiel seiner Brustmuskeln ließ Sheryls Kehle wieder trocken werden. Sie spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte und ihr Atem schneller ging. War es wieder heißer geworden oder warum stand ihr plötzlich der Schweiß auf der Stirn?

Jeremy zog die Brauen zusammen. „Ich weiß auch nicht, aber irgendwie erschien mir Manolo ein wenig … merkwürdig.“

„Merkwürdig? Inwiefern?“

„Ich weiß auch nicht so recht. Auf jeden Fall verhielt er sich recht reserviert und wollte immer wieder wissen, ob ich mich nicht doch an etwas erinnern kann.“

„Ich glaube einfach, er kann das alles noch nicht so ganz verstehen oder kommt einfach nicht gut damit zurecht. Immerhin warst du sein bester Freund und zudem sein Vorgesetzter. Ich denke, er braucht eine Weile, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass du von früher nichts mehr weißt.“

„Und du? Wie ist es mit dir?“ Er kam auf sie zu und blieb dicht vor ihr stehen. Sein männlich-markanter Duft stieg ihr in die Nase, und sie bemerkte, dass er ein neues Aftershave benutzte. Sie spürte, wie ihr die Knie weich wurden. „Ist es für dich schwer, dich daran zu gewöhnen?“, fragte er.

Seine Frage trieb ihr die Tränen in die Augen. „Das fragst du noch? Was glaubst du denn? Dass es einfach für mich ist, erst verlassen zu werden, und zwei Jahre später zu erfahren, dass du wiederkommst, und dann feststellen zu müssen, dass du dich an nichts aus unserem gemeinsamen Leben mehr erinnerst?“

Er senkte den Blick. Ihm war anzusehen, dass er sich unwohl fühlte in seiner Haut. „Hör zu, Sheryl, es tut mir leid. Ich weiß nicht, was damals geschehen ist. Aber wenn ich tatsächlich ein solcher Schuft war und dich einfach verlassen habe, dann schäme ich mich dafür.“ Er hielt kurz inne. „Ich kenne dich erst seit ein paar Stunden, aber ich weiß, dass du so etwas nicht verdient hast. Der Jeremy, der das getan hat, gehört für dieses Verhalten bestraft. Das Problem ist nur, dieser Jeremy bin nicht ich. Zumindest solange nicht, bis ich mich wieder an etwas erinnern kann.“

In diesem Moment brachen bei Sheryl alle Dämme. „Oh Jeremy!“, rief sie heiser aus. „Ich habe dich so vermisst!“ Sie vergrub das Gesicht in den Händen und begann zu schluchzen. Einen Moment lang nahm sie nichts um sich herum wahr, gab sich nur ihren Gefühlen hin, dann spürte sie, wie starke Hände sie umfassten. Jeremy schloss sie in die Arme und zog sie fest an sich.

Seine Nähe tat so unglaublich gut. Wie sehr hatte sie sich danach gesehnt! Wie sehr hatte sie es vermisst, von ihm gehalten zu werden! All die lange Zeit, in der sie nicht gewusst hatte, ob er lebte oder tot war – jetzt endlich war die Ungewissheit vorbei und er war wieder bei ihr.

Sie hob den Kopf, und ihre Blicke trafen sich.

Es war wie Magie.

Es war wie früher.

Und als sein Mund sich nun ihren Lippen näherte, ganz langsam, dachte Sheryl an gar nichts mehr. Schloss einfach nur die Augen und wartete darauf, dass ihr Mann sie endlich küsste.

Doch ehe es dazu kommen konnte, erklangen laute Stimmen und holten Sheryl schlagartig ins Hier und Jetzt zurück.

Hastig wischte sie sich die schon angetrockneten Tränen aus dem Gesicht, wirbelte herum und erblickte ein halbes Dutzend Spanier, die jubelnd und händeklatschend angelaufen kamen. Es waren Nachbarn aus der näheren Umgebung, mit denen Sheryl immer wieder mal Kontakt hatte.

Sie seufzte. „Offenbar hat sich deine Heimkehr schon herumgesprochen“, sagte sie an Jeremy gewandt. „Wahrscheinlich hat dich heute jemand im Taxi gesehen, als du herkamst.“

Ihr Mann wirkte verunsichert. „Wer sind diese Leute?“, wollte er wissen.

„Liebe Menschen, die dich kennen.“ Sie lächelte ihm zu. „Komm, ich stelle sie dir vor …“

Später am Abend, in einer Villa in Marokko

„Und es ist sicher, dass er sich an nichts erinnern kann?“ Der Mann, der die Frage stellte, hielt den Telefonhörer dicht ans Ohr gepresst und sprach leise, als habe er Angst, belauscht zu werden.“

„Er behauptet es jedenfalls“, drang es aus dem Hörer.

„Aber sicher ist es nicht?“, fragte der Mann skeptisch.

„Welchen Grund sollte er haben, so etwas zu behaupten?“

„Er könnte den Plan verfolgen, uns zur Strecke zu bringen.“

„Dann hätte er bloß zur Polizei gehen müssen – und das hätte er die ganze Zeit schon tun können. Nicht erst jetzt, nach zwei Jahren.“

„Trotzdem … die Sache gefällt mir nicht. Selbst wenn es stimmt – zumindest theoretisch könnte es jederzeit passieren, dass seine Erinnerung zurückkommt.“

„Zugegeben, darüber habe ich auch schon nachgedacht. Aber was sollen wir tun?“

Der Mann holte tief Luft. „Sie müssen die Sache erledigen. Und zwar richtig.“

Kurzes Schweigen trat ein, dann: „Soll das heißen, Sie wollen, dass …“

„Räumen Sie Jeremy Baker aus dem Weg. Ein für alle Mal! Und wenn Sie es nicht schaffen, schicke ich meine Leute. Ich gebe Ihnen eine Woche Zeit!“