Kapitel 10
»Ich habe die Antworten zu meinen Fragen in den Augen der Überlebenden gefunden, höre es in ihrem Lachen, in ihren Worten und Dankbarkeit.«
Auszug aus dem privaten Tagebuch, Yoshua, Teil 2
Liebevoll strich ich über Darrens Wange, flehte ihn stumm an, durchzuhalten, und bat ihn um Vergebung. Ich wollte bei ihm bleiben und sicherstellen, dass er versorgt wurde. Aber wenn ich blieb, verlor ich das einzige Druckmittel, welches ich hatte: Mich.
Noch einmal beugte ich mich zu ihm, küsste viel zu kalte Lippen.
»Ich liebe dich, du draufgängerischer Dummkopf«, flüsterte ich und riss mich endgültig los.
Mit dem Funkgerät in der Hand eilte ich Richtung Brücke.
»Melden Sie sich bei Ihren alten Kameraden, wenn Darren versorgt ist«, sagte ich zu Ryland und stellte das Funkgerät mittig auf die Brücke .
»Warte!«
Ich rannte los, blickte nicht zurück, hörte keine Worte. Nur eine Stimme, die zunehmend schroffer klang. Aber am Ende würde er keine Wahl haben, wenn er mich nicht vorher erwischte. Motorengeräusche dröhnten über die Stille des Waldes. Rylands Männer würden mich jagen. Auch auf der anderen Seite. Viel zu nah war ich ihnen und sie, wie Darren, trainierte Söldner. Im Laufen zog ich den Rucksack ab, der mich noch langsamer machte, und ließ ihn fallen, ehe ich zwischen den Bäumen eintauchte.
Ohne Darren war ich aufgeschmissen und konnte nur hoffen, dass die Richtung, in die ich lief, zumindest einigermaßen die richtige war. Aber es war meine und seine einzige Chance. Irgendwo hinter mir wurden Befehle geblafft. Sie klangen fern und gleichzeitig viel zu nahe.
Ich schlitterte einen Hang hinunter, stolperte und fing mich gerade noch. In meinem Herzen wusste ich, dass sie mich einholen würden, und fürchtete die Konsequenz daraus. So sehr, dass es mich vorwärtstrieb, tiefer hinein, in ein Gebiet, welches ich nicht kannte. Längst hatte ich die Orientierung verloren, und ebenso war aus meinem Laufen ein Schwanken geworden. Immer wieder stürzte ich, nur um mich aufzurappeln. Ich musste weiter. Für Darren.
Das Grau der Dämmerung legte sich beängstigend über den Wald, und doch versprach es mir auch Schutz. Im Dunkeln würden sie meiner Spur nicht mehr folgen können. Zu Atem kommen, ruhen …
An der nächstbesten Baumkuhle brach ich zusammen. Jeder Atemzug brannte höllisch in meinen Lungen und einem viel zu trockenen Hals, drohte mich zu ersticken. Ich hatte entsetzlichen Durst, der mich von innen heraus weiter auszehrte und mir das letzte bisschen an Energie raubte, während mein Bauch ein einziger gieriger Schlund zu sein schien. Und zum ersten Mal zweifelte ich, sah wieder Darren vor mir, wie er sich am Baum abgestützt hatte. Wenn ich einfach nachgegeben hätte und wir uns irgendwo anders verkrochen hätten. Dann wäre er noch unversehrt und ich nicht alleine und hilflos. Ich zog die Beine an, schlang meine Arme darum. Und während sich die Nacht gänzlich über den Wald senkte, rannen Tränen der Verzweiflung über meine Wangen und trugen mich in den Schlaf.
Vogelgezwitscher und etwas Kaltnasses, das gegen mein Gesicht drückte, weckten mich. Jede Gliedmaße wog Tonnen und auch gegen meine bleiernen Augenlider verlor ich den Kampf, sie zu öffnen. Die fröhlichen Lieder der Vögel konnte ich ignorieren, aber nicht das nasskalte Etwas, das Wärme ausstrahlte und mich immer energischer anstieß. Ich murrte, versuchte den Störenfried wegzudrücken und berührte … Fell?
Ich riss die Augen auf, war mit einem Mal hellwach und trotzdem erstarrt. Eine lange Schnauze und goldgelbe Augen unmittelbar vor mir. Das Fell braungrau, während Gesicht und Hals von einem hellen Ton eingerahmt waren und ein dunkler Streifen das Rückgrat säumte. Ein anmutiges Tier. Nur dass es im ehemaligen Vereinigten Königreich seit Jahrhunderten keine Wölfe mehr gab. Kein Tier. Wandler. Mensch. Doch die Feststellung minderte meine Furcht nicht wirklich .
»Du … ähm … ich –«
Der Wandler zog die Lefzen hoch, bleckte seine Zähne und ich verstummte. Sein Kopf folgte dem Spiel seiner Ohren, horchten und sogar ich meinte Stimmen zu hören. Noch einmal sah er mich an, senkte sein Haupt, duckte sich ein wenig und trabte ein paar Schritte von mir weg, drehte seinen Kopf zu mir. Es war eine Aufforderung, der ich nicht zweimal bedurfte. Sofort krabbelte ich ihm hinterher. Laub raschelte unter mir und der Wolf schnaubte, schüttelte ansatzweise den Kopf.
Bemühte leise folgte ich ihm in einen ausgetrockneten Bachlauf, hielt immer wieder an, wenn er es tat, und hoffte inständig, dass er mir tatsächlich half. Denn die Stimmen klangen mit einem Mal gefährlich nahe. Mitten in der Bewegung erstarrte ich, presste mich an den Felsen und machte mich so klein, wie ich nur konnte. Der Wolf indessen setzte unbekümmert seinen Weg fort und verschwand schließlich gänzlich aus meinem Sichtfeld.
»Wenn du mich fragst, haben die den Kleinen längst erwischt und wir suchen umsonst.«
Ich presste meine Lippen aufeinander und hielt den Atem an.
»Ryland fragt dich aber nicht«, grollte jemand.
»Pff. Der riskiert auch gerade nicht seinen Kopf!«
»Weiß eigentlich einer von euch, warum wir den überhaupt suchen?«, mischte sich eine dritte hellere Stimme ein.
Stille, die von Husten durchbrochen wurde.
»Keine Ahnung«, sagte der Erste und klang so, als würden sie sich entfernen. Ich atmete aus. »Aber das hier ist deren Gebiet und wir haben hier nichts zu suchen. Gar nichts!«
»Halt die Klappe!«, erwiderte das dumpfe Grollen darauf.
Noch einen Moment blieb ich sitzen, traute mich dann erst, mich zögerlich umzusehen. Aber niemand war mehr da. Weder Wolf noch Söldner. Viel zu hastig, versuchte ich, dem Wandler zu folgen. Steine polterten und ich hielt inne, fürchtete, die Söldner auf mich aufmerksam gemacht zu haben.
Nichts geschah.
Vorsichtiger als zuvor schlich ich weiter, floh vor den Kerlen und hoffte, den Wolf wiederzufinden. Doch das Einzige, was mich begleitete, waren zuverlässig Einsamkeit, Stille und … Hoffnungslosigkeit. Kein Essen. Kein Trinken. Kein Wolf. Kein Darren … Darren, von dem ich nur beten konnte, dass sie sich um seine Wunden gekümmert hatten und er noch lebte. Aber welche Wahl war mir geblieben?
Irgendwann hatte ich mich erhoben und war nur noch weitergetrottet. Stur dem ausgetrockneten Bachlauf entlang. Wohin auch sonst? Ich wusste ja nicht einmal, wo ich mich befand. Darren hätte es gewusst. Aber ich hätte ihn niemals stützen können und er die Flucht auch nicht überstanden. Es war vernünftig gewesen und fühlte sich mit einem Mal doch so falsch an. Als wenn ich ihn verraten hätte.
Meine Beine gaben nach. Ich brach zusammen, zitterte am ganzen Körper vor Entkräftung. Verdammt, Darren! Lange genug hatte ich meine Augen vor der Wahrheit verschlossen, aber er musste infiziert sein. Eine andere Erklärung für seinen Zustand gab es für mich nicht mehr. Was, wenn er tot war, und ich nicht bei ihm gewesen? Ich, für den er überhaupt erst in diese Lage geraten war.
»Nein, nein, nein«, flüsterte ich.
Erschöpfung und Furcht hatten sich verbündet und versuchten mich, am Boden zu halten. Ich würde es nicht zulassen! Ich lebte und trug das Heilmittel in mir, das gar keins war. Ich hatte Darren unwissentlich angesteckt und wer weiß wen noch. Naiv hatte Darren mich genannt und das mochte ich wohl auch gewesen sein. Aber wenn ich nun immun war, dann gab es eine Möglichkeit. Das Heilmittel existierte und mit ihm hoffentlich auch eine Möglichkeit, Darren und jeden anderen, den ich infiziert hatte, zu retten. Ich würde den verdammten Wolf wiederfinden und mich zu den Söldnern der Einrichtung führen lassen! Und Darren …? Er musste einfach durchhalten!
Nur kurz gestattete ich mir, meinen Kopf auf meinem Arm abzulegen und durchzuatmen. Mühsam stemmte ich mich hoch und … eine Bewegung unmittelbar über mir auf dem Vorsprung. Ich zuckte zur Seite, landete unsanft auf meinem Hintern. Der Wolf verharrte, neigte nur seinen Kopf. Schwere Schritte klangen dumpf zu mir und noch ehe ich wusste, wie mir geschah, standen drei Kerle neben dem Wandler. Die einstige Camouflagekleidung war verschlissen, und ihre Bewaffnung bestand – soweit ich das beurteilen konnte – aus Bögen. Lange, ungepflegte Haare und unrasiert. Viel schlimmer war aber ihr grimmiger Ausdruck, die Wut, die in ihren Augen brannte und die mir galt .
Der Rechte, ein sehniger Kerl, furchte die Stirn. »Wegen dem Kleinen veranstaltet Ryland das ganze Theater?«
Der Hüne in ihrer Mitte, sprang zu mir herunter. »Wer bist du? Und was willst du hier?«
Unwillkürlich kroch ich vor ihm zurück. »I-i-ich … ähm … heiße Jayce … Jayce Turner …«
Natürlich sagte ihnen mein Name nichts, woher auch?
Felsen in meinem Rücken verwehrten mir einen weiteren Rückzug.
»I-i-ich brauche Ihre Hilfe!«
Der Hüne lachte, kalt und freudlos. »Wenn das so ist.«
Er nickte dem Sehnigen zu, der daraufhin den Bogen hob.
Ich riss meine Hände hoch. »Was? Nein! Wartet! Bitte!«
»Worauf? Dass du uns infizierst?«
Mir klappte das Kinn hinunter. Der Kopf des Wolfes war nach wie vor leicht geneigt.
»Er ist es«, murmelte ich, mehr zu mir selbst. »Er riecht es!«
Der Hüne verzog seine Lippen. Ein Grinsen, welches mehr wie ein Zähnefletschen wirkte. Vor mir ging er in die Hocke und obwohl ich nicht mehr zu ihm aufsehen musste, befanden wir uns dennoch nicht auf Augenhöhe.
»Er folgt dir schon seit dem vergangenen Abend. Infizierte sterben in der Regel nach sechzehn Stunden, warum lebst du also noch?«
Mein Blick glitt zu dem Bogen des Sehnigen und ich zweifelte keinen Moment daran, dass sie mich erledigen würden, wenn ihnen meine Antwort nicht gefiel. Blieb die Frage, ob sie mir Glauben schenken würden.
»Mein Vater, er war Arzt in der Stadt … er hat ein Heilmittel gefunden …«
Der Hüne nickte langsam, bedächtig, aber in seinen Augen kehrte der Zorn zurück. »Einfallsreich. Wirklich.«
Er erhob sich wieder.
»Sie glauben mir nicht«, stellte ich fest und meine Worte schmeckten so bitter, wie sie sich anfühlten. »Die tun es!« Ich deutete in die Richtung, aus der ich gekommen war, während Tränen der Wut und Hilflosigkeit sich ihren Weg bahnten. »Menschen haben viel für mich riskiert. Meine Eltern ihr Leben gelassen. Und Sie , die für die ganze Scheiße verantwortlich sind, ziehen nicht einmal in Erwägung dass es möglich sein könnte. Sie die die Macht besäßen, zu helfen!«
Ich hatte mit einem Schlag gerechnet, oder auch, dass der Kerl den Befehl gab, mich zu erledigen. Stattdessen starrte er stumm auf mich herunter. Ein leises, mahnendes Knurren ertönte. Doch die Aufmerksamkeit des Wolfes galt nicht uns.
»Ein Heilmittel für ein Heilmittel, welch Ironie«, sagte der Hüne nicht minder abweisend als zuvor. »Aber ich fürchte, wir werden dieses Gespräch verlagern müssen.«
Er beugte sich zu mir, packte mich am Arm und zerrte mich auf die Beine. Ehe ich wusste, wie mir geschah, riss er mich mit sich.
Ich hatte keine Ahnung, wie lange der Kerl mich hinter sich herzog, geschweige denn, welche Strecke wir zurückgelegt hatten. Meine Schmerzen waren längst verschwunden, hatten Taubheit Platz gemacht. Zu allem Überfluss verschwamm die Umgebung. Immer häufiger stolperte ich, nur um gnadenlos weitergezerrt zu werden.
»Wir können ihn unmöglich mit ins Lager nehmen«, sagte jemand hinter uns.
Die beiden Männer gingen vor uns, blieb nur der Wolf. Flüchtig wandte ich meinen Kopf. Ein nackter hochgewachsener Mann, der erstaunlich gepflegt wirkte, folgte uns. Schwindel überfiel mich und alles um mich herum drehte sich.
Plötzlich verlor ich meinen Halt und fiel. Unsanft landete ich auf dem Waldboden, fing mich noch und schwankte. Kraftlos kippte ich, spürte nicht einmal, wie ich aufschlug. Ich atmete aus und schloss meine Augen. Von Fernem klangen Stimmen zu mir, die alle gemein hatten, dass sie mich nicht kümmerten. Nur ruhen … schlafen …
Kälte pirschte sich an, ließ mich erbärmlich zittern und riss mich aus einem unbestimmten Zustand zwischen Wachsein und Schlaf. Flüchtig berührte mich jemand, hüllte mich in einem Schutz ein, der meine Wärme nicht mehr entkommen ließ. Ich blinzelte. Die Pflanzen warfen bereits tiefe Schatten, verkündeten den Einbruch der Nacht und dass ich doch länger geschlafen hatte als angenommen. Neben mir kniete der Wandler. Menschlich und angezogen und doch erkannte ich ihn wieder. Kurzgeschorene Haare, rasiert, aber allen voran sein warmer Blick. Er lächelte. Es wirkte bekümmert. Ich kuschelte mich fester in die Decke, die er über mir ausgebreitet hatte .
Sein Lächeln gewann an Wärme. »Ich wollte dich nicht wecken … aber jetzt, wo du schon mal wach bist, hätte ich hier etwas zu trink–«
Ich zuckte, wollte mich aufsetzen. Meine Muskeln protestierten mit einem schmerzenden Ziehen gegen die Bewegung und ich verzog gequält das Gesicht.
Der Mann lachte, reichte mir die abgenutzte Feldflasche, auf der aber immer noch das Logo von Fatum Corporation zu erkennen war.
»Danke!«
Kaltes, reines Wasser rann erfrischend meine Kehle hinunter.
»Mach langsam«, riet er mir schmunzelnd und ich setzte ab.
Das kleine Lager, wenn man es so nennen wollte, lag im Schutz eines breiten knorrigen Baumes, der vermutlich genauso alt war, wie es wirkte. Moos überzog seine Rinde und auf den breiten Blättern tanzte bereits das Licht des Feuers mit der heraufziehenden Dunkelheit der Nacht. Nur die Flammen knisterten und hier und da raschelte es zwischen den Bäumen. Von den anderen Söldnern fehlte jede Spur.
»Wir sind alleine«, sagte er, faltete ein Tuch auseinander und reichte mir Brot und getrocknetes Fleisch. »Wir konnten das Risiko nicht eingehen, dich mit ins Lager zu nehmen. Immerhin trägst du den Erreger in dir, wenn auch in anderer Form.«
Kurz hielt ich im Kauen inne. Es klang so beiläufig. Nichtig. Als sei nichts weiter dabei. Mein Mund war mit einem Mal entsetzlich trocken. Trotzdem versuchte ich das Stück Brot hinunterzuschlucken, welches auf halben Weg im Hals stecken blieb. Mit Wasser spülte ich nach. Ein fader Nachgeschmack blieb zurück. »Ich wollte niemanden in Gefahr bringen …«
Es war die Wahrheit und doch hatte ich es getan, wieder und wieder. Nicht nur Darren. Ich hatte auch Megan gefährdet, Trent, den Arzt in den Slums infiziert, als er meine Hand versorgt hatte, und wer weiß wen noch. Das Heilmittel war kein Segen, es war ein Fluch, dessen Tragweite ich viel zu spät erkannte. Mein Magen knurrte, aber ich bekam nichts mehr hinunter, weil ich am Ende doch genau das war, was Darren mir vorgeworfen und ich abgestritten hatte: Ein Gefährder.