Kapitel 12
»Da kann Ryland noch so viel von Pflicht und Schadensbegrenzung reden, aber das, was er vorhat, ist schlicht und ergreifend Mord!«
Grant zu Wolf vor 12 Jahren
Blake hatte von sich aus nichts mehr gesagt und ich nicht gefragt, weil ich die Antworten kannte. Die Stadt befand sich im Ausnahmezustand, alle Söldner waren zurückbeordert und ich zur Nebensächlichkeit worden. Ich, der diesen ganzen Schlamassel verursacht hatte. Was Darren anbelangte, blieb mir nur zu hoffen, dass Blake übertrieb, aber ein kleiner Teil von mir wusste es besser.
Neben mir erklang ein unterdrücktes Husten. Blake hob den Arm, hustete in die Beuge und warf einen prüfenden Blick auf den Stoff seiner Uniform. Er stieß den angehaltenen Atem wieder aus.
»Sie sind auch … infiziert?«
Zum ersten Mal, seit ich in dem Wagen saß, schenkte er mir seine Aufmerksamkeit, wenn auch nur kurz. Eisiges Schweigen kehrte zurück. Vermutlich ahnte er bereits, dass ich die Schuld an dem Ausbruch trug.
»Darren hat versucht, uns zu warnen«, sagte er, als ich schon nicht mehr mit einer Antwort rechnete. Er schüttelte den Kopf, schnitt eine Grimasse. »Aber da war es schon zu spät.«
Kurz musterte er mich wieder von der Seite. Zumindest seine Feindseligkeit hatte sich gelegt, wenngleich mir die Resignation auf seinem Gesicht genauso wenig gefiel.
»Was ist mit dir?«
Ich schluckte hart, fuhr mir mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Ich habe bisher noch keine Anzeichen bemerkt.«
Natürlich hatte ich es nicht, weil ich geimpft war! Es war erstaunlich, wie selbstverständlich mir die Lüge herausrutschte.
Er nickte knapp, lachte dann auf. »Das Virus ist wohl mutiert. In den Anfangsstadien ist es nicht mehr von einer Erkältung zu unterscheiden. Immerhin bleibt einem mehr Zeit, aber die Ärzte gehen nach wie vor davon aus, dass es in den meisten Fällen tödlich endet.«
Wir verfielen in Schweigen.
»Weißt du«, durchbrach Blake sie. »Darren, er war nie ganz …«, Blake schien nach dem rechten Wort zu suchen, »einfach.« Er rang sich ein Lächeln ab, das auf halben Weg verkümmerte. »Ich denke, du hast ihn daran erinnert, dass er eigentlich kein schlechter Kerl ist.«
»Werde ich ihn sehen dürfen? «
Blake zuckte mit den Schultern. »Da musst du dich mit Ryland einigen … aber mach dir nicht zu viel Hoffnung. Er ist stinksauer.«
»Glaube ich gerne«, murmelte ich.
Das Gebäude, zu dem Blake mich fuhr, kannte ich nur zu gut. Leider. Schon beim Aussteigen meinte ich, die Kälte der Zelle zu spüren. Anders als bei meinen bisherigen Besuchen glich der Ort einem Ameisenhügel, von dem schwer gerüstete Söldner ausschwärmen. Einzig Blake und ich schwammen gegen den Strom.
Selbst durch die Steinmauern drangen von draußen die Lautsprecher, die in regelmäßigen Abständen verkündeten, dass der Ausnahmezustand verhängt worden war und die Bewohner in ihren Unterkünften zu bleiben hatten.
Folgsam stieg ich neben Blake die Stufen hinauf. Je mehr Etagen wir zurücklegten, desto leerer wurde es, bis wir schließlich die Einzigen auf einem langen Flur waren. Am Ende des Ganges klopfte Blake an eine Tür und öffnete sie sogleich. An einem Tisch standen neben Ryland drei Söldner.
»Dieser Teil von den Slums muss vollständig abgeriegelt werden«, sagte Ryland und deute vermutlich auf eine Karte vor ihnen. »Ich will, dass keiner mehr raus– oder reinkommt!«
Er sah zu uns auf, als wir eintraten. »Ihr habt eure Befehle.«
Die Söldner nickten knapp und gingen. Ryland stieß sich vom Tisch ab, schlenderte um ihn herum, auf mich zu. Mit ausdrucksloser Miene stand er vor mir. So schnell konnte ich nicht sehen, wie er mir die Faust in den Magen schlug. Nach Luft ringend sackte ich auf die Knie. Ein Schlag mit dem Handrücken ins Gesicht beförderte mich gänzlich auf den Boden. Meine Wange brannte höllisch und mein Bauch krampfte sich schmerzend zusammen. Zitternd stemmte ich mich hoch, rang auf allen vieren keuchend nach Atem. Ein Tritt in die Seite ließ mich wieder zusammenbrechen.
»Steh auf!«, knurrte Ryland, packte zu und zerrte mich hoch.
Benommen vor Schmerzen taumelte ich neben ihm her Richtung Fenster. Den letzten Meter stieß er mich vorwärts. Ich prallte gegen das Glas, versuchte, mich abzufangen. Schon war er bei mir, drückte mich unerbittlich dagegen.
»Sieh genau hin, was du angerichtet hast«, zischte er neben meinem Ohr.
Rauch stieg über den Dächern der Häuser empor. Ich schluckte hart.
»Sie sind selbst infiziert. Ihre Reinigung wird Sie auch nicht mehr retten!«, presste ich hervor.
Die Zeit schien stillzustehen. Jäh riss er mich zurück. Ich verlor das Gleichgewicht, fiel und landete der Länge nach auf der Seite.
»Es geht nicht um Rettung«, seine Stimme bebte vor Wut, »es geht um Schadensbegrenzung!«
»So wie damals in der Anlage?«
Seine Mundwinkel zuckten verächtlich. Er rümpfte die Nase. Seine ganze Mimik spiegelte Abscheu wider. »Es ist meine, unsere Aufgabe, das Chaos zu kontrollieren, welches andere schaffen! Diese Stadt war sauber. Die Menschen sicher. Bis dein Vater und Smith kamen!«
Er ging Richtung Tür, wo er neben Blake stehen blieb. »Unser Unruhestifter wird dieses Gebäude nicht verlassen, bis ich mich entschieden habe, was ich mit ihm mache. Du wirst ihm nicht von der Seite weichen. Verstanden?«
Blake nickte knapp und Ryland ging. Schwer knallte die Tür hinter ihm ins Schloss.
»Arschloch!«, murmelte ich ihm hinterher und versuchte mich zitternd hoch zu kämpfen.
Eine Hand fasste meinen Unterarm, stützte mich. »Geht es?«
Ich murrte, schüttelte Blake ab, verkniff mir aber jegliche bissige Bemerkung, dass er sich sein heuchlerisches Gehabe schenken konnte.
»Wenn du willst, bringe ich dich zu Darren.«
»Aber ich dachte … Ryland hat gesagt …«
»Dass du das Gebäude nicht verlassen sollst und ich bei dir bleiben muss.«
Mein Herz setzte aus. »Bitte sag mir, dass er in keiner dieser eisigen Zellen ist!«
Blake lachte und tatsächlich klang es erheitert. »Auch wenn es nicht so wirken mag, aber Darren gehört zu den wenigen Personen, die Ryland nahestehen. Er würde ihn niemals sterben lassen.«
»Aber den Mord an meinen Eltern und Thomas anhängen?«
Blake zuckte mit den Schultern. »Jemanden töten oder beschuldigen ist schon etwas anderes, oder? «
Der Stützpunkt der Einheit verfügte über eine eigene medizinische Station. Es lag der gleiche Geruch nach Desinfektionsmitteln in der Luft, der auch dem Krankenhaus zu eigen war, und auch die Räumlichkeiten ähnelten sich. Nur die riesigen Glasscheiben erinnerten mehr an eine Forschungseinrichtung. In einem sterilen und vollkommen isolierten Raum lag Darren. Wie damals bei meiner Schwester stand ich hilflos auf dem Flur.
»Darf ich zu ihm?«
»Hm!« Dann zuckte Blake mit den Schultern. »Macht eh keinen Unterschied mehr.«
»Danke«, sagte ich leise, drückte die Klinke und trat ein.
Blake folgte mir, blieb aber hinter mir zurück. Von Weitem hätte Darren friedlich wirken können. Schlafend. Doch je näher ich ihm kam, konnte nichts mehr über seinen ernsten Zustand hinwegtäuschen. Schweiß glänzte auf einer viel zu bleichen Haut. Seine Gesichtszüge ausgezehrt. Unruhig zuckten seine Augen unter den Lidern und jeder schwere Atemzug klang nach zu viel Kraft, die er nicht mehr hatte. Neben ihm blieb ich stehen, hatte keine Ahnung, wann ich ihn angesteckt hatte. Als er die Zeit so nah bei mir in der Zelle verbracht hatte? Sein vermeintlich letzter Kuss auf der Schwelle meiner Wohnung? Aber spätestens, als wir miteinander geschlafen hatten.
»Darren«, flüsterte ich, berührte mit bebenden Fingerspitzen seine Wange, und fürchtete, ihm wehzutun.
Er blinzelte, zwang unter sichtlicher Mühe seine Augen auf, die fiebrig glänzten. »Siehst mitgenommen aus.«
Eine Mischung aus ersticktem Keuchen und Auflachen bahnte sich ihren Weg über meine Lippen. »Ich? «
Darren lächelte, blinzelte noch ein paarmal, ehe er den Kampf verlor und sich seine Lider wieder schlossen.
Mit zitternder Hand strich ich liebevoll über Stirn und Haare. »Gott Darren, du hattest so recht!«
Und ich nicht. Ich hatte genau jenen Mann zum Tode verurteilt, den ich über alles liebte!
Beruhigend streichelte ich ihm über den Kopf und hielt seine Hand umklammert, als könnte ich ihn so daran hindern, mir endgültig zu entgleiten. Noch kämpfte sein Körper verbissen gegen das Virus, aber sein Blutverlust hatte ihn geschwächt. Er erwachte nicht wieder und würde es vermutlich auch nicht mehr. Und selbst den Erfolg eines Heilmittels zweifelte ich in seinem Zustand an, weil seinem Körper am Ende die Kraft fehlen würde.
»Nicht mehr lange und ihn werden nur noch Maschinen am Leben halten.«
Blake lehnte neben dem Fenster, die Arme vor der Brust verschränkt. Was hatte Darren gleich noch mal über ihn gesagt? Dass er sich in ihrer Freundschaft getäuscht hätte? Aber anscheinend hatte er es wohl auf mehr abgesehen, als nur meinen Platz im Bett einzunehmen, kamen mir seine Worte wieder in den Sinn. Dass Darren am Tod meiner Eltern unschuldig war, zweifelte ich längst nicht mehr an. Aber er war die rechte Hand von Ryland gewesen. Fragte sich, wie viel Vertrauen ich Blake schenken durfte.
»Ihr seid befreundet, oder?«
Er schnaubte. »Schon lange her. Mein Fehler, nicht seiner.«
»Mrs. Morgan«, sagte ich .
»Ich weiß, warum Darren dich mag.« Ein schräges Grinsen huschte über Blakes Lippen. »Na schön. Ja, und bevor du irgendwelche falschen Rückschlüsse ziehst, das war lange vor Darren und dir. Die Seuche hat Darren verändert. Hat ihn abstumpfen lassen. Zumindest haben wir das geglaubt und uns beide von ihm entfernt. Vielleicht hat ihm aber auch einfach etwas … jemand im Leben gefehlt.«
Sein Blick glitt zu Darren und mit einem Mal wirkte sein Grinsen bedrückt. »Als die Affäre begann, war zwischen den beiden schon lange nichts mehr gelaufen. Er muss es gewusst, oder zumindest geahnt haben. Denn er hat mich mal indirekt darauf angesprochen. Erst viel später habe ich begriffen, dass er mir damit die Möglichkeit hatte geben wollen, ehrlich zu ihm zu sein. Ich war’s nicht.« Er seufzte. »Tja, irgendwann saß er dann im Wohnzimmer, als wir aus dem Schlafzimmer kamen. Wir beide hatten sein Kommen nicht gehört. Er hat einfach dort gesessen, Bier getrunken, einen Film gesehen und uns nicht eines Blickes gewürdigt. Mit Alice ist er normal emotionslos umgegangen und mich hat er seitdem weitestgehend ignoriert. Ich habe versucht, mit ihm zu reden, aber das war unmöglich. Bis er dich traf. Danach war er wie ausgewechselt.«
Ich hatte keine Ahnung, ob es ihm ernst war oder er im Auftrag von Ryland handelte, weil der versuchte herauszufinden, wo sich das Heilmittel befand. Aber am Ende hatte ich eigentlich keine Wahl, wenn ich das kleine Fünkchen Hoffnung nicht aufgeben wollte. Wenn ich Darren nicht aufgeben wollte.
»Was wäre, wenn es eine Möglichkeit gäbe, Darren zu retten? «
Der Geländewagen ruckelte über den Weg. Immer wieder warf ich Blake verstohlene Blicke von der Seite zu. Viel zu schnell hatte er sich dazu bereit erklärt, gegen die ausgesprochenen Befehle von Ryland zu verstoßen und mich zu der Anlage zu bringen. Auch wenn das bedeutete, dass Hilfe für Darren in greifbare Nähe rückte. Vielleicht mochte es aber auch einfach daran liegen, dass sich sein eigener Zustand zu verschlechtern schien. Abermals hustete er in seine Ellenbeuge.
»Scheiße!«
Blut klebte auf seiner Uniform.
»Es ist nicht nur bei dem Versuch geblieben, oder?« Zornig funkelte er mich an. »Es gibt ein Heilmittel
Zögernd nickte ich.
»Ryland, dieser Bastard!« Blake schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad.
Ich zuckte zusammen, drückte mich gegen die Tür. Der Wagen rollte aus, bis wir standen und ich wagte es nicht, mich zu rühren. Wenn ich floh, würde er schießen, da war ich mir absolut sicher.
Seine Nasenflügel bebten und seine Zähne mahlten aufeinander. »Du trägst es in dir?«
Ich stieß den angehaltenen Atem aus, öffnete den Mund … Die Wahrheit sagen oder nicht? Was würde er tun, wenn ich es zugab?
Blitzschnell schoss seine Hand zur Seite und packte mich. Ich keuchte erschrocken auf, fasste seinen Arm.
»Ich habe dich etwas gefragt! «
»Das macht dich nicht wirklich vertrauenswürdiger«, stieß ich hervor und versuchte, mich aus seinem Griff zu entwinden.
Blake schnaubte, stieß mich zurück und ließ los. Hörbar atmete er durch, lehnte sich an und stierte durch die Frontscheibe hinaus. Ich hatte keine Ahnung, was ihm durch den Kopf ging, aber zumindest schien seine Wut Ryland zu gelten, nicht mir.
»Ja«, sagte ich leise.
Er schloss kurz seine Augen, schüttelte verständnislos den Kopf. »Danke , Jayce!«
»Vor einem Söldner, der blind Befehle ausführt und Menschen ermordet, muss ich mich sicherlich nicht rechtfertigen!«, giftete ich zurück.
»Was willst du hören, Jayce? Hätte Ryland es Darren befehlen sollen?« Er schüttelte den Kopf. »Die Diskussion wegen dir war schon hässlich genug.«
Mir klappte die Kinnlade runter. Hatte er gerade tatsächlich den Mord an meinen Eltern zugegeben?
»Es tut mir für dich leid, dass du Menschen verloren hast, die dir nahe standen, aber für die Tat selbst werde ich mich nicht entschuldigen.«
»Mord!«
»Gefährdung!«, erwiderte er. »Wenn dein Vater sich an die Regeln gehalten hätte, würden deine Eltern noch leben. Und Darren und nebenbei bemerkt die halbe Stadt nicht im Sterben liegen!«
»Wenn du meine Eltern nicht ermordet hättest, würden wir hier ebenfalls nicht sitzen!«
Wir funkelten uns an .
Er wollte etwas sagen, doch ein Hustenanfall kam ihm zuvor. Er wandte sich ab, tastete nach der Tür und öffnete sie.
»Blake?«
Er fiel aus dem Fahrzeug. Ich stürzte raus und um das Auto herum, hielt inne. Der Mörder meiner Eltern kotzte sich die Seele aus dem Leib. Mein Vater mochte seine Fehler gehabt haben und Blake die seinen. Was die Seuche anbelangte, waren beides Idioten.
Zitternd brach Blake neben dem Gemisch aus Mageninhalt, Blut und Schleim zusammen und ich fühlte … Betroffenheit. Ich ging zu ihm, kniete nieder und legte mir einen Arm über die Schultern. Er furchte die Stirn, sah mich an, als sei ich ein Geist.
»Du wirst mir schon ein bisschen helfen müssen!«
Ich stemmte mich hoch, zog ihn mit und schwankte. Schwer lastete sein Gewicht auf mir, aber er stand. Genauso mühselig war unser Weg zur Beifahrerseite und ich froh, ihn endlich wieder im Fahrzeug zu haben. An seiner Stelle schwang ich mich hinter das Lenkrad.
»Kannst du überhaupt fahren?«, murmelte er und verzog das Gesicht vor Schmerzen.
Und das war sie, die Krankheit, wie ich sie kannte.
Ich grinste schräg. »Dafür kannst du dich bei Darren bedanken.«