Prolog
September 1993, Lincolnshire Fens
Der Mann joggte in gleichmäßigem Tempo durch die Fens. Er war auf dem Heimweg, und über die in der Dämmerung liegenden Felder hinweg sah er bereits die Lichter seines Cottages. In ein paar Hundert Metern würde er an den Toren der Haines-Farm vorbeikommen, und dann lagen die heiße Dusche und das kühle Getränk bereits in Reichweite.
Er bog um die Kurve und befand sich auf Höhe der Farm, als er plötzlich ausrutschte. Er fluchte und ruderte mit den Armen, um nicht auf dem unebenen Asphalt aufzuschlagen. Nachdem er mühsam das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, sah er nach, was ihn beinahe zu Fall gebracht hätte. Eine Öllache breitete sich unter dem Hoftor aus.
Er fluchte erneut. Seine teuren Laufschuhe waren ruiniert. Er warf einen wütenden Blick auf das alte Farmhaus, in dessen Küche Licht brannte. Immer noch fluchend beschloss er, nach Hause zu laufen, sich umzuziehen und anschließend ein ernstes Wörtchen mit George Haines zu wechseln. Es ging nicht nur um seine Laufschuhe. Viele Dorfbewohner kamen bei ihrem Abendspaziergang mit dem Hund an dem Tor vorbei, und die meisten waren schon älter. Wenn sie ebenfalls auf dem Öl ausrutschten, brachen sie sich womöglich die Hüfte oder das Handgelenk. Oder es passierte noch Schlimmeres.
Als der Mann auf seine Haustür zutrat, schaltete sich der Bewegungsmelder ein, und er wurde in helles Licht getaucht. Er warf einen missmutigen Blick auf seine Schuhe und erstarrte.
Die Flecken waren nicht ölig schwarz, sondern dunkelrot. Er berührte sie zaghaft mit den Fingern und roch daran. Sein Magen zog sich zusammen, und ihm wurde übel. Im nächsten Moment machte er auf dem Absatz kehrt und lief, so schnell ihn seine Beine trugen, zur Haines-Farm zurück.
Als das Tor in Sichtweite kam, wurde er langsamer. Er hatte Angst vor dem, was er finden würde. Er war in Lincolnshire geboren und aufgewachsen und hatte als Junge vom Land einige schreckliche Unfälle mit landwirtschaftlichen Maschinen miterlebt. Ihm fielen sofort Dutzende blutige Schreckensszenarien ein, die keinesfalls angenehm anzusehen waren.
Neben dem Haupttor befand sich eine kleine Tür, die meistens unversperrt war. Der junge Mann trat auf den betonierten Platz vor dem alten Farmhaus, und das Licht ging an. Sein Blick fiel auf den Farmer mit den feuerroten Haaren und der unverwechselbaren Jacke mit der fluoreszierenden Aufschrift »Haines-Farm« auf dem Rücken.
George lag auf dem Bauch. Er hatte die Arme nach vorne gestreckt, seine Finger waren gekrümmt. Es sah aus, als hätte er verzweifelt versucht, in Richtung Straße zu robben.
Der Jogger schnappte nach Luft, als er den Traktor sah. O Gott! George Haines hatte sich selbst überfahren! Er hatte schon einmal miterlebt, dass sich plötzlich eine Bremse gelöst und das riesige Gefährt den ahnungslosen Fahrer einfach niedergemäht hatte.
Seine Beine! O Gott, seine Beine! Der Jogger schlug sich eine Hand vor den Mund und kämpfte gegen die Übelkeit an. Die Hose des Farmers war blutdurchtränkt.
»George?« Der junge Mann war zwar kein Ersthelfer, aber er schaffte es, seinen Ekel zu überwinden und nach dem Puls des Mannes zu fühlen. Dabei berührten seine Finger etwas Glattes, Kaltes. Er zog angewidert die Hand zurück und taumelte rückwärts.
Der untere Teil von George Haines’ Gesicht war mit durchsichtigem Klebeband umwickelt. In diesem Moment wurde dem Mann klar, dass sein Nachbar keinen Unfall gehabt hatte. Hier war etwas sehr viel Schlimmeres passiert.
Er stolperte durch die Tür zurück auf die Straße, kauerte sich in den Graben, holte das Handy aus der Tasche und rief die Polizei.
Alle Lichter im Farmhaus brannten, und die tragbaren Scheinwerfer der Polizei und das blinkende Blaulicht tauchten die umliegenden Felder in einen unheimlichen Schein.
»Ist das der Typ, der ihn gefunden hat?« Der ältere Polizeibeamte deutete auf den verschwitzten jungen Mann, der sich an einen der Streifenwagen lehnte. Jemand hatte ihm eine Decke über die Schultern gelegt, und sein ungläubiger Blick ließ auf einen massiven Schock schließen.
»Armes Schwein«, murmelte sein Kollege. »Aber wenigstens ist er nicht ins Haus gegangen. Dafür wird er eines Tages dankbar sein.«
»Im Gegensatz zu uns.« Der Detective Inspector hob die Augenbrauen und grinste schief. Er hatte gehofft, in den Ruhestand treten zu können, ohne so etwas noch einmal erleben zu müssen. Er wusste aus Erfahrung, dass er den Anblick noch lange mit sich herumschleppen würde, und er fühlte sich betrogen, weil er seine Karriere mit einer derart grauenhaften Ermittlung abschließen musste. »Erzählen Sie mir noch schnell, was der Gerichtsmediziner zu dem Opfer hier gesagt hat, bevor wir reingehen.« Er deutete mit dem Kopf auf die Leiche vor dem Tor.
Der Sergeant holte tief Luft und wiederholte Wort für Wort, was er vorhin erfahren hatte. Seine Stimme klang ausdruckslos, als würde er die Informationen irgendwo ablesen, aber der Inspector wusste, dass er nur versuchte, sich emotional abzugrenzen. In einem Fall wie diesem musste man die Gefühle außen vor lassen.
In einem Fall wie diesem. Der Inspector war sich ziemlich sicher, dass er hier der Einzige war, der schon einmal etwas Vergleichbares gesehen hatte. Diese Männer waren Dorfpolizisten. Sie hatten zwar oft mit allen möglichen Verbrechen zu tun und erlebten aufgrund der langen, geraden Straßen in der Umgebung mehr als genug tödliche Verkehrsunfälle, aber kaltblütiger Mord stand in den nebeligen Fens nicht gerade an der Tagesordnung.
»Der Doc geht davon aus, dass George Haines mit dem Traktor auf den Hof gefahren ist und den Motor ausgemacht hat. Er stieg aus der Kabine und drehte dem Angreifer dabei den Rücken zu. Dieser schlug ihm von hinten mit einer schweren Waffe mit scharfer Klinge in die Beine, etwa auf Höhe der Knöchel. Es könnte eine Axt gewesen sein, aber dem Winkel der Wunden nach zu urteilen war es eher eine Art Machete.«
Der Inspector sah eine Erntemaschine vor sich, die mit ihren unbarmherzigen Messern selbst die dicksten Stümpfe der Kohlköpfe abhackte und sie anschließend auf das Förderband verfrachtete.
»Das Opfer war sofort bewegungsunfähig. Die beiden Achillessehnen rollten sich wie Jalousien auf. Die Schmerzen waren höllisch, und er konnte nichts tun.«
Sie sahen zu den beiden parallel verlaufenden Blutspuren, die vom Traktor zum Tor führten. »Das Opfer versuchte davonzurobben und verblutete dabei langsam«, fuhr der Sergeant fort und schluckte. »Nach Hilfe schreien war unmöglich. Der Täter hat ihm Klebeband um den Mund gewickelt.«
»Aber der Mann ist vom Haus fortgekrochen. Also wusste er vermutlich, dass der Angreifer hineingegangen war.«
Der Sergeant warf einen Blick auf das Farmhaus, bevor er sich wieder an seinen Vorgesetzten wandte. »Wir sollten langsam reingehen, oder?«
Der Inspector nickte, und sie machten sich gemeinsam auf den Weg zur offen stehenden Eingangstür.
Lydia Haines war in der Küche. Es war ein warmer, freundlicher Raum, und es roch nach Kräutern, selbst gebackenem Brot, gemahlenem Kaffee und frischem Blut.
Die Zentrale hatte sie gewarnt, dass der Täter wie von Sinnen gewütet hatte und sie sich auf das Schlimmste gefasst machen mussten. Dass man sie sogar an die Möglichkeit einer psychologischen Betreuung erinnert hatte, sagte im Grunde alles.
Normalerweise wurde man erst im Nachhinein darauf aufmerksam gemacht.
»Mein Gott! Der war ja wirklich wie von Sinnen«, hauchte der Sergeant, und die Leere in seiner Stimme entging seinem Vorgesetzten nicht.
»Versuche, den Tatort als Gesamtes zu sehen, Junge. Nicht bloß das Opfer. Wir müssen so schnell wie möglich herausfinden, wer das getan hat – und warum. Der Täter darf nicht zu lange auf freiem Fuß bleiben.« Er sah sich um. Im Türrahmen stand ein uniformierter Beamter mit kalkweißem Gesicht. »Sind Sie aus dem Ort, Constable?«
»Ja, Sir. Ich habe den Notruf entgegengenommen. Ich war der Erste am Tatort.« Er hielt kurz inne. »Damit habe ich meine Sünden abgebüßt.«
»Kennen Sie diese Leute?«
»Ja, ziemlich gut sogar. George Haines hat diesen Teil der Fens seit einer Ewigkeit bestellt. Und Lydia, seine Frau …« Er warf einen Blick auf die blutige Leiche auf dem Natursteinboden und schluckte. »Sie hat sich sehr in der Gemeinde engagiert. Sie war kaum wegzudenken.«
»Also nicht die Art Frau, die ermordet wird«, murmelte der Sergeant.
»Gib es die denn?«, fragte der Inspector.
»Ich meinte nur, dass manche Menschen eher zu Opfern werden. Und zu diesem Kreis zähle ich die Frau hier nicht.«
»Weil sie keine Hure ist? Oder ein Junkie?« Der Inspector seufzte. »Okay. Also für mich ist sie als Opfer genauso gut denkbar wie jeder andere. Und irgendjemand da draußen sieht das genauso. Der Mörder hat viel Zeit darauf verwendet, sie in Stücke zu hacken. Er hat sie offenbar aus tiefstem Herzen gehasst.« Er wandte sich wieder an den Dorfpolizisten. »Wohnten die beiden allein?«
»Nein, Sir. Aber Gott sei Dank sind die beiden Kinder heute mit ihrer Tante und dem Onkel im Kino. Ihr Cousin feiert Geburtstag. Etwa zehn Kinder waren eingeladen, darunter auch die beiden Jungen der Haines.«
»War das geplant oder bloß Zufall?«, murmelte der Inspector. »Lebt sonst noch jemand hier?«
»Ja, Sir. Der Betriebsleiter wohnt in einem kleinen Cottage auf der anderen Seite des Hofes. Und dann ist da noch eine Frau, die den beiden mit den Kindern und der Hausarbeit hilft. Eine Art Au-pair. Sie wohnt in einer kleinen Wohnung in dem umgebauten Schuppen neben der Garage. Keiner der beiden ist im Moment zu Hause, aber wir lassen nach ihnen suchen.«
»Namen?«
»Der Betriebsleiter heißt Ian Farrow. Er ist geschieden und bleibt angeblich gerne für sich. Das Au-pair kommt aus Frankreich und heißt Françoise Thayer. Sie ist seit etwa zwei Monaten hier und gibt sich ebenfalls kaum mit den Farmarbeitern ab.«
»Sind die beiden vielleicht zusammen?«
»Wir haben die Männer gefragt, aber falls es so ist, weiß niemand davon.«
»Okay. Einer der beiden ist jedenfalls der Mörder. Vielleicht aber auch beide«, erklärte der Inspector rundheraus.
Der Sergeant warf seinem Vorgesetzten einen zweifelnden Blick zu, doch er kannte ihn gut genug, um nichts darauf zu erwidern.
Der Inspector sah sich mit zusammengekniffenen Augen schweigend im Zimmer um. Es war eine typische, geschmackvoll renovierte Farmhausküche, in der die alten Besonderheiten erhalten und bloß durch notwendige, arbeitssparende Geräte ergänzt worden waren. »Es wurde nichts gestohlen, das heißt, es war kein aus dem Ruder gelaufener Einbruch. Außerdem kannten die beiden den Mörder. George wandte ihm beim Aussteigen aus dem Traktor freiwillig den Rücken zu, und Lydia wollte ihm gerade Kaffee eingießen.« Er deutete auf die Stempelkanne, die neben der zerstückelten Leiche lag, und auf die beiden Kaffeebecher auf dem Küchentisch. »Laut Gerichtsmediziner ist Lydia zuerst gestorben, und George kam erst später. Nachdem alle anderen ebenfalls unterwegs waren, hat sie vermutlich für ihren Mörder Kaffee gekocht. Alles deutet darauf hin, dass sie vollkommen entspannt war. So entspannt wie ihr Mann, als er nach Hause kam.« Er brach ab. »Tiere und Menschen haben oft ein untrügliches Gespür dafür, dass etwas nicht stimmt. Doch weder George noch Lydia haben Verdacht geschöpft. Es war einer der beiden, die ebenfalls hier auf dem Hof wohnen. Darauf verwette ich meine Pension.«
Er warf noch einen letzten Blick auf Lydia Haines, dann wandte er sich ab. »Lassen wir die Spurensicherung erst mal ihren Job erledigen, mein Junge. Wir müssen einen Mörder finden. Und wenn wir ihn geschnappt haben, ist er mit Sicherheit das schlimmste Ungeheuer, das du je gesehen hast.«