Kapitel 1
September 2015, Fenland Constabulary, Hauptdienststelle, Saltern-Le-Fen, Lincolnshire
DS
Marie Evans war klar, dass sie besser nach Hause fahren sollte, doch das Adrenalin, das durch ihren Körper jagte, fesselte sie an den Schreibtisch. Obwohl sie sich ohnehin nicht auf die Arbeit konzentrieren konnte, weil sie ständig die Bilder vom Tatort vor sich sah. Wenn sie auch nur einen Moment lang die Augen schloss, war da wieder das dunkelrote Blut, das aus den zahllosen Wunden der übel zugerichteten Frau strömte und auf dem Boden eine Pfütze bildete. Es schien, als hätte sich das Bild in ihre Augenlider eingebrannt, und bei jedem Blinzeln war es wieder da.
Marie war schon lange dabei und hatte viele wirklich furchtbare Dinge gesehen, aber das, was heute in dem abgelegenen Haus am Rand des Marschlandes passiert war, war an Brutalität nicht zu überbieten.
Ihr Vorgesetzter, DI
Rowan Jackman, war noch immer am Tatort. Marie lächelte. Jackman fuhr erst, wenn er sicher war, dass er nichts übersehen hatte. Aber nicht, weil er der Spurensicherung nicht vertraute. Er war eher wie ein menschlicher Schwamm, der nicht aufgab, bis er auch die allerkleinsten Informationen aufgesaugt hatte.
Marie sah den großen Mann vor sich, wie er kerzengerade mitten im schlimmsten Chaos stand und es trotzdem irgendwie schaffte, wie ein Fotomodell aus Country Life
auszusehen. Seine blauen Augen wurden schmal, während er sich konzentriert in der Küche umsah und versuchte, dem Blutbad weitere unsichtbare Informationen zu entlocken. Marie wäre gerne noch mit ihm am Tatort geblieben, doch jemand musste den Einsatzplan für das Team zusammenstellen, und sie hatte sich freiwillig gemeldet. Wenn auch zögerlich.
Marie warf einen Blick auf die Uhr. Beinahe elf. Sie gähnte und loggte sich aus dem Computer aus. Sie hatte alles getan, was heute Nacht möglich war. Sie wusste nur nicht, ob sie nach Hause fahren oder sich über die mondbeschienenen Fens auf den Rückweg zu Jackman und dem Horrorhaus machen sollte.
Denn er war zweifellos noch dort.
Der grausame Mord hatte ihn härter getroffen als üblich, denn er hatte das Opfer gekannt. Nicht gut genug, um die Leitung der Ermittlungen infrage zu stellen, aber es reichte, um persönlich betroffen zu sein. Es war nie leicht, an einen Tatort zu kommen und plötzlich ein bekanntes Gesicht zu sehen. Es war, als wäre dieser Mensch anstelle einem selbst gestorben. Jackman hatte zwar nichts gesagt, aber Marie hatte es in seinen Augen gesehen.
Sie ließ sich in den Stuhl zurücksinken und betrachtete den Stapel Unterlagen, den sie in den letzten Stunden ausgedruckt hatte. Es waren vor allem Hintergrundinformationen über das Opfer, Alison Fleet, und ihren Mann Bruce, einen reichen Geschäftsmann. Alison war als Organisatorin von Wohltätigkeitsveranstaltungen stadtbekannt gewesen, und ihrem Mann gehörte die örtliche Brauerei, die er auch leitete. Sie schienen wie ein perfektes Paar mit einem perfekten Leben und keinerlei Feinden. Allerdings hatte Marie schon vor langer Zeit herausgefunden, dass der äußere Schein oft trog. Und selbst in diesem frühen Stadium der Ermittlungen hatte sie bereits eine Menge Unregelmäßigkeiten in dem »perfekten« Dasein ans Tageslicht befördert.
Marie warf einen Blick auf den einzigen Kollegen, der immer noch im Büro hockte, und schüttelte den Kopf. »Geh nach Hause, Max. Du siehst echt scheiße aus.«
»Danke, Sarge, ich liebe dich auch«, erwiderte DC
Max Cohen grinsend und fuhr sich mit der Hand durch die dicken, dunklen Locken. Er streckte sich gähnend. »Ich starte noch einen Suchlauf, dann verschwinde ich, okay?«
Marie nickte. »Aber wirklich nur einen. Schon was gefunden, was ich wissen sollte?«
»Nichts Weltbewegendes. Abgesehen davon, dass die perfekte Mrs Fleet doch nicht so sauber ist, wie wir zuerst dachten.« Max sah sich die Unterlagen noch einmal durch und schüttelte den Kopf. »Hoffentlich täusche ich mich, aber ich schätze, wenn wir uns durch die Wohltätigkeitsgeschichten arbeiten, werden wir auf die dunkle Vergangenheit der heiligen Alison stoßen. Ich bin mir sicher, dass mehr hinter ihr und ihrem alten Herrn steckt, als die Leute ahnen.« Er wandte sich vom Bildschirm ab. »Und bei dir, Sarge?«
»So ziemlich dasselbe. Geheimnisse über Geheimnisse.« Marie verzog das Gesicht. »Von außen betrachtet blühte ihr Leben in den letzten zehn Jahren in den schönsten Farben, aber wenn man tiefer gräbt, beginnt es zu stinken.«
»Yippie«, meinte Max grinsend.
Marie mochte den jungen Mann mit dem starken Cockney-Akzent. Mittlerweile zumindest. Sie mochte das ganze Team. Sie waren eine eingeschworene Gemeinschaft, und das mussten sie bei dieser Art von Arbeit auch sein. Trotzdem war sie am Anfang nicht warm mit Max geworden, und es hatte nichts damit zu tun gehabt, dass er aus der Stadt kam. Wie die meisten Bewohner der Fens freute sie sich über Neuankömmlinge, denn ihr war klar, dass einige der kleinen Dörfer ohne den Zuzug bereits verwaist gewesen wären. Nein, Max war ein Klugscheißer, der nicht mit seiner Meinung hinterm Berg hielt, vor allem, wenn es um seinen jüngeren Kollegen DC
Charlie Button ging. Doch Marie hatte bald erkannt, dass der Grund seiner Prahlerei in seiner Herkunft lag. Er stammte aus einer Großfamilie aus dem Londoner East End und musste sich schon von Kindesbeinen an gegen seine älteren Geschwister behaupten. Außerdem ließen sich seine Eltern scheiden, als er gerade dreizehn war, was auch nicht gerade zu seiner Persönlichkeitsbildung beigetragen hatte. Und auch wenn Max Charlie gerne aufzog, legte er sich mit jedem an, der es ebenfalls versuchte.
Inzwischen arbeiteten sie seit ein paar Jahren zusammen, und Marie wusste, dass Max Cohen immer hinter ihr stehen würde. Loyalität wurde bei ihm großgeschrieben.
Marie öffnete die Schublade und holte ihren Schlüsselbund heraus. Der Ruf des Tatorts war verlockender als der Gedanke an ihr warmes Bett. Während sie ihren Schreibtisch aufräumte, dachte sie daran, was sie draußen in dem verschlafenen Dörfchen Thatcher’s Hurn gefunden hatten.
Jackman und sie trugen bereits Schutzanzüge, als sie das hübsche alte Haus betraten. Sie bewegten sich langsam und schweigend nebeneinanderher und versuchten, sämtliche Informationen in sich aufzunehmen. Die »goldene Stunde« nach der Entdeckung eines Mordes war oft entscheidend, denn die Beweise waren noch frisch und der Tatort noch nicht verunreinigt. Und auch die Zeugen konnten sich besser an Details erinnern. Marie hatte außerdem immer das Gefühl, als würde sich der Geist des Mörders noch am Tatort befinden. Es war wie eine langsam verblassende Erinnerung, und in diesen ersten Momenten waren die Schatten beinahe greifbar, bevor sie von dem emsigen Treiben der Spurensicherung vertrieben wurden. Es war nichts Übernatürliches, sondern bloß die Fähigkeit, ihre Umgebung richtig zu deuten und ihrer Intuition zu folgen.
DI
Jackman hatte eine ähnliche Gabe, obwohl er aus einer vollkommen anderen Ecke kam. Er war dreizehn Jahre jünger und hatte eine akademische Laufbahn hinter sich. Dank seines Anthropologie- und Soziologiestudiums in Cambridge hatte er ein klareres Verständnis für die Gesellschaft und das menschliche Verhalten als die meisten Kollegen, doch seine Schlussfolgerungen waren immer wissenschaftlich begründet. Marie war hingegen eine einfache Streifenpolizistin, die sich zum Detective Sergeant hochgearbeitet hatte und auf ihr Bauchgefühl vertraute.
Marie sah sich im Büro um. Im Moment sagte ihr das verdammte Bauchgefühl, dass etwas an der Art, wie Alison Fleet den Tod gefunden hatte, nicht stimmte. Marie hatte am Tatort sofort das Gefühl gehabt, dass es wie eine Inszenierung aussah. Die üblichen Hypothesen waren nicht anwendbar. Aber was war dann passiert? Sie runzelte die Stirn. Noch ein Grund mehr, an den Tatort zurückzukehren und mit Jackman zu reden.
»Ich fahre noch mal raus nach Thatcher’s Hurn«, rief sie Max zu. »Und du gehst nach Hause und schläfst ein bisschen.«
Max hob zustimmend die Hand. »Okay. Die Suchanfrage hat sowieso nichts Neues ergeben. Gute Nacht, Sarge!«
»Entschuldigen Sie bitte, Sergeant Evans.« Eine Sekretärin in Zivil trat vor Marie, als diese gerade gehen wollte. »Der diensthabende Beamte am Empfang möchte mit DI
Jackman sprechen, aber ich finde ihn nicht, und sein Telefon ist auf Voicemail.«
»Er ist noch am Tatort. Kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen?« Marie hoffte, dass die Antwort Nein lauten würde, doch die Frau nickte eifrig. »Ja, sicher. Könnten Sie vielleicht mitkommen?«
Maries Augen wurden schmal, und ihre Müdigkeit war wie weggeblasen. »Was ist denn los?«
»Der Sergeant hat jemanden im Verhörzimmer, der vielleicht von Interesse für DI
Jackman sein könnte.«
Marie winkte Max zu. »Vergiss, was ich gerade gesagt habe. Komm mit!«
Der uniformierte Beamte mit dem zerfurchten Gesicht wirkte nachdenklich, als Marie und Max an den Empfangsschalter traten. Er runzelte die Stirn.
»Vielleicht verschwende ich hier nur Ihre Zeit, DS
Evans, aber andererseits …« Er rieb sich das Kinn. »Ich meine, vielleicht ist er ja nur ein Verrückter. Davon gibt es hier weiß Gott genug.«
»Ich spüre da ein weiteres Aber …«
»Ja, weil mich der Kerl irgendwie stutzig gemacht hat.« Er seufzte laut. »Gerade wenn man denkt, man kennt sie alle, kommt so einer.« Er runzelte erneut die Stirn. »Aber sehen Sie am besten selbst.«
Er führte sie zu den Verhörräumen. »Er ist da drin. Viel Glück!« Er öffnete ihnen die Tür und kehrte kopfschüttelnd zum Empfangsschalter zurück.
Der Mann war etwa fünfundzwanzig, hatte dichte, dunkelblonde Locken und blassblaue, durchdringende Augen. Seine Kleidung passte weder zum Wetter noch zur Tageszeit und war tropfnass.
Marie betrachtete ihn interessiert. Er sah nicht aus wie ein gewöhnlicher Drogenabhängiger oder Kleinkrimineller, und auch wenn seine Augen beunruhigend apathisch wirkten, zeugten sie von einer gewissen Intelligenz.
»Ich bin Detective Sergeant Marie Evans, und das ist Detective Constable Max Cohen. Wie können wir Ihnen helfen?«
Der junge Mann stieß ein kurzes, seltsames Lachen aus. Es schwebte zwischen ihnen in dem stickigen, engen Raum, und Marie erschauderte.
Einen Moment lang dachte sie, er würde nicht antworten, doch dann erklärte er mit klarer, fester Stimme: »Mein Name ist Daniel Kinder, und ich habe Alison Fleet getötet.«