Kapitel 2
»Was halten Sie von ihm?«
Jackman fuhr gerade durch die Fens zurück zur Dienststelle und war nur schwer zu verstehen. Dort draußen war der Empfang ziemlich schlecht.
»Ehrlich gesagt weiß ich es nicht, Sir.«
»Ich glaube Ihnen kein Wort«, tönte es aus dem Telefon. »Er muss doch irgendeinen Eindruck auf Sie gemacht haben.«
»Ja, das hat er tatsächlich.« Marie erinnerte sich noch gut daran, wie sie erschaudert war, als Daniel Kinder gelacht hatte. »Ich weiß nur nicht, ob er total verrückt und das Ganze reine Zeitverschwendung ist oder ob er wirklich ein …«
»Ein Mörder ist?«
»Ja, genau. Ein Mörder.« Es gefiel ihr zwar nicht, aber so war es nun mal. »Ich habe beschlossen, mit dem weiteren Verhör auf Sie zu warten.«
»Haben Sie ihn verhaftet?«
»Ja, Sir. Das musste ich. Er hat immerhin einen Mord gestanden. Und ich habe sämtliche Vorarbeiten abgeschlossen. Ich habe ihn durchsucht, seine Kleidung beschlagnahmt und den Arzt geholt, damit er die Verhörfähigkeit bestätigt.« Sie hielt kurz inne. »Er wollte keinen Anwalt, obwohl ich ihm dazu geraten habe. Sie müssen also unbedingt dabei sein, wenn ich das Verhör fortsetze.«
»Okay, ich bin in zehn Minuten da.« Er legte auf und ließ Marie mit ihren verworrenen Gedanken allein.
»Also, bevor wir reingehen, will ich hören, was wir bis jetzt über diesen Mann wissen.« Jackman rückte seine Krawatte zurecht, obwohl sie ohnehin schon perfekt in der Mitte seines makellos weißen, gestärkten Kragens saß.
Marie warf einen Blick in ihr Notizbuch. »Sein Name ist Daniel Kinder, und er …«
»Kinder?«, fragte Jackman, und seine Augen weiteten sich. »Ist er von hier?«
»Ja. Er wohnt mit seiner Mutter in einem dieser protzigen Häuser draußen am …«
»Am Riverside Crescent«, unterbrach er sie finster.
»Kennen Sie ihn, Chef?«
»Nein, aber ich kannte seinen Vater, Sam Kinder. Er stand vor ein paar Jahren in geschäftlichem Kontakt mit meiner Familie. Er ist vor einiger Zeit an einer fürchterlichen Tropenkrankheit verstorben. Bilharziose, glaube ich.«
»Ich dachte mir schon, dass unser Mann sich für einen Cracksüchtigen zu gewählt ausdrückt.«
»Daniel kenne ich nicht, aber seine Familie ist sehr angesehen. Sam Kinder war reich, und er hat außerdem Hunderten afrikanischen Dörfern einen Trinkwasserzugang ermöglicht. Er war selbst mit einer Wohltätigkeitsorganisation vor Ort, und dort hat er sich auch angesteckt.« Jackman verzog das Gesicht. »Es war eine Ironie des Schicksals, dass er ausgerechnet an einer durch Wasser übertragenen Krankheit starb.« Er hielt kurz inne. »Seine Frau Ruby habe ich nie kennengelernt, aber ich glaube, sie hatten bloß einen Sohn. Den Namen weiß ich nicht mehr.«
»Die Mutter ist offenbar gerade auf einer Reise durch Asien und versucht, ihre Trauer in den Griff zu bekommen. Den Sohn werden Sie hingegen gleich kennenlernen, und ich hoffe, dass er Sie genauso ratlos macht wie mich.« Sie runzelte die Stirn. »Es wäre schlimm, wenn ich meine Menschenkenntnis plötzlich verloren hätte.«
»Na, dann sehen wir ihn uns doch mal an.« Jackman wandte sich bereits der Tür zu, als er noch einmal innehielt. »Moment mal! Daniel Kinder? Das erinnert mich an was. Ist er nicht Journalist?«
»So weit bin ich noch nicht gekommen, Sir.«
»Also, wenn er derjenige ist, den ich meine, ist er verdammt gut.« Er überlegte. »Aber das kann nicht sein, oder? Er ist eine dieser neuen, jungen ›Stimmen‹ der modernen Welt.«
Marie trat schulterzuckend auf die Tür zu. »Da muss ich passen. Im Moment sagt diese ›Stimme‹ jedenfalls, dass sie jemanden umgebracht hat.« Sie öffnete die Tür. »Nach Ihnen, Chef.«
Sie betraten das Verhörzimmer, und Jackman war überrascht von der nervösen Energie, die von dem jungen Mann in dem Einwegoverall ausging. Er wartete, bis Marie ein neues Tonband in das Aufnahmegerät gelegt, die formelle Einleitung verlesen und noch einmal das Beisein eines Anwaltes empfohlen hatte. Sie warf Kinder einen hoffnungsvollen Blick zu, doch der schüttelte bloß den Kopf.
Zu Beginn des Verhörs begnügte Jackman sich damit, Daniel Kinders Reaktionen zu beobachten. Der Arzt hatte sein Okay gegeben, und seiner Meinung nach war kein Beisitzer notwendig, doch Jackman war sich da nicht so sicher. Etwas an dem jungen Mann beunruhigte ihn, ließ ihm ein Schaudern über den Rücken laufen.
Er hatte so etwas schon einmal erlebt, als er als Praktikant einen Gefangenen in den psychiatrischen Hochsicherheitstrakt begleiten musste. Aufgrund eines Verwaltungsfehlers hatte er mehr Zeit als gewollt mit dem »Patienten« verbracht. Er hatte nicht gewusst, was er mit dem Mann reden oder wie er auf ihn reagieren sollte. Obwohl er es noch nie offen zugegeben hatte, machten ihm psychische Erkrankungen Angst.
Und jetzt, mit Kinder im Verhörzimmer, hatte er plötzlich dasselbe Gefühl. Der Mann war keine offensichtliche Bedrohung. Er gab sich nach außen hin betont ruhig, obwohl die Anspannung deutlich spürbar war. Doch seine Augen bereiteten Jackman Sorgen, denn sie erzählten eine ganz andere Geschichte, in der von Ruhe keine Rede war.
»Sie behaupten also, Alison Fleet getötet zu haben. Vielleicht könnten Sie mir erklären, wie und warum?« Jackman lehnte sich nach vorne. »Oder vielleicht fangen wir mal mit der Frage nach dem ›Wo‹ an.«
Der Mann blinzelte einige Male hintereinander, dann kniff er die Augen zusammen, als müsste er sich konzentrieren. »In ihrem Haus in Thatcher’s Hurn. Es heißt Berrylands.«
Nichts, was er nicht ohne viel Aufwand hätte herausfinden können, dachte Jackman. Der Ort war in den Fünf-Uhr-Nachrichten namentlich genannt worden, und auch den Namen des Hauses hatte man nicht verschwiegen. »Und in welchem Zimmer haben Sie sie getötet?«
»In der Küche.« Daniel Kinder sah ihm herausfordernd in die Augen.
Jackman blieb unbeeindruckt, doch er spürte, wie sich Marie kaum merklich versteifte. Der genaue Ort im Haus war nicht veröffentlicht worden. Dann dachte er allerdings an den Fernsehbericht. Jeder, der das Haus schon einmal von innen gesehen hatte, konnte anhand der Zelte, die zum Schutz vor Schaulustigen aufgestellt worden waren, ganz einfach ableiten, wo die Tat passiert war.
»Okay, Daniel, wie haben Sie sie umgebracht?«
»Ich habe sie erstochen.«
»Warum?«, fragte Jackman schnell.
Der junge Mann zögerte zum ersten Mal. Ein seltsamer Schauer durchlief ihn, und sein Hals und der Kopf zuckten, dann flüsterte er leise: »Weil ich es in mir habe.«
Diese Antwort hatte Jackman nicht erwartet. »Weil ich sie hasse«, oder: »Weil ich sie liebe und sie mich betrogen hat«, oder: »Weil ich eifersüchtig war« – es gab immer einen Auslöser für einen gewaltsamen Ausbruch.
»Das haben wir alle«, erwiderte Marie leise. »Unter gewissen Umständen. Aber nur wenige begehen tatsächlich einen Mord. Es gibt immer einen Grund, Daniel. Einen Auslöser. Was war es bei Ihnen? Warum musste Alison sterben?«
Kinder atmete tief ein, bevor er antwortete: »Es hatte nichts mit ihr zu tun. Es hätte jeden treffen können. Es war mir vorherbestimmt, an einem gewissen Punkt in meinem Leben einen Menschen zu töten. Und dieser Mensch war nun mal Alison Fleet.«
»Womit haben Sie sie erstochen?«, fragte Jackman unvermittelt, um dem jungen Mann keine Zeit zum Nachdenken zu lassen.
»Mit einem Küchenmesser.«
Sie vernahmen Kinder beinahe eine halbe Stunde lang. Einige Fragen beantwortete er sofort, bei anderen blieb er vage und schien sogar ein wenig verwirrt, während er manche schlichtweg ignorierte.
Jackman lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte Kinder eindringlich. Er wusste nicht weiter. »Würden Sie uns bitte einen Moment entschuldigen, Mr Kinder?«
Er sprach eine Erklärung auf Band, dass das Verhör unterbrochen wurde, und winkte Marie mit sich nach draußen.
Er entfernte sich ein Stück von der Tür und seufzte schwer. »Okay, er kennt ein paar Einzelheiten, aber bei Weitem nicht genug.«
»Nicht einmal wir wissen, was für ein Messer benutzt wurde. Aber sie wurde erstochen.«
»Ja, aber wie viele Arten, jemanden umzubringen, gibt es? Und ich spreche von einem gewaltsamen, blutigen Tod und nicht von einem perfiden Plan mithilfe von Tollkraut oder Arsen. Man kann jemanden erschießen, totschlagen, ertränken, erwürgen oder erstechen. Und was passiert in diesem Land am häufigsten?«
»Dass jemand erstochen wird.«
»Genau.« Er schüttelte den Kopf. »Er hat geraten. Er hat es nicht getan.«
»Aber er gehört nicht zu den üblichen Geschichtenerzählern, oder?«, fragte Marie. »Und er ist auch kein gewöhnlicher Verrückter. Falls es so etwas überhaupt gibt.«
»Da stimme ich Ihnen zu.« Jackman seufzte erneut. »Aber ich kaufe ihm seine Geschichte trotzdem nicht ab, und ich bin mir nicht sicher, wie wir die Sache anpacken sollen.«
»Setzen wir einfach das Gespräch fort, Sir. Sagen Sie ihm, dass Sie seinen Vater kannten. Vielleicht können wir den echten Daniel hervorlocken und herausfinden, was er vorhat.« Sie hielt inne. »Er wirkt extrem angespannt. Ich will wissen, was einen offensichtlich intelligenten, jungen und aufstrebenden Journalisten dazu bringt, sich plötzlich als Mörder auszugeben.«
»Sie haben wie immer recht.« Jackman lachte trocken, und sie kehrten gemeinsam ins Verhörzimmer zurück.
»Sie sind Sam Kinders Sohn, oder?«, fragte Jackman betont freundlich. »Er war ein Kollege meines Vaters. Ich war bestürzt, als ich von seinem Tod erfuhr.«
Daniel zog die Augenbrauen zusammen, dann entspannte er sich wieder. »Ich bin sein Adoptivsohn, Detective Inspector.« Er klang feierlich, als hätten diese Worte eine tiefere Bedeutung. »Sein Tod hat meine Adoptivmutter und mich schwer getroffen.«
Jackman nickte. »Es war ein schwerer Verlust. Für seine Familie, aber auch für viele andere. Er war ein bedeutender Mann.«
Dieses Mal nickte Daniel. Doch im nächsten Augenblick riss er den Kopf hoch und schob herausfordernd den Unterkiefer nach vorne. »Aber was hat das alles mit dem Mord an dieser Frau zu tun? Sie haben doch verstanden, was ich Ihnen vorhin gesagt habe, oder?«
»Ich glaube nicht, dass Sie jemanden umgebracht haben, Daniel«, erklärte Jackman ruhig.
Wut flackerte in Kinders blassblauen Augen auf. »Doch, das habe ich! Warum glauben Sie mir nicht?«
Jackman beschloss, weiter Druck zu machen. »Weil Sie alles, was Sie uns erzählt haben, ganz leicht herausfinden konnten. Vor allem in Ihrem Beruf. Sie sind Journalist, um Himmels willen! Sie haben Freunde, Kontakte. Sie hören alles oder zahlen für die entsprechenden Informationen.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Nein, Daniel. Ich weiß nicht, warum Sie das hier tun, aber Sie sind kein Mörder.«
Ohne Vorwarnung warf sich Daniel plötzlich über den Tisch und packte Jackman am Revers. »Sie müssen mir glauben! Verstehen Sie denn nicht? Sie müssen!«
Marie beugte sich, ohne eine Miene zu verziehen, vor und fixierte Daniels Hände mit eisernem Griff, während Jackman sich rasch in Sicherheit brachte. Daniel lag quer über dem Tisch und flehte die beiden schluchzend an, ihm endlich zu glauben.
»Okay, mein Freund, das reicht.« Marie wandte sich an Jackman und flüsterte: »Ich glaube, er hat den Arzt verarscht. Wir brauchen ein umfassendes medizinisches Gutachten, bevor wir weitermachen können.«
Jackman nickte. Zwei uniformierte Beamte führten Kinder aus dem Zimmer.
»Der medizinische Gutachter soll ihn sich ansehen!«, rief Marie einem der Männer über Daniels Schreie hinweg zu. »Und haltet uns über seinen Zustand auf dem Laufenden!«
Jackman sah zu, wie die beiden Beamten den jungen Mann den Flur hinunterschleiften. »Heute Nacht können wir nichts mehr tun. Vermutlich gibt ihm der Arzt etwas zur Beruhigung, damit er bis morgen früh schläft. Und dann sehen wir weiter.«
»Sollen wir jemanden verständigen?«, fragte Marie. »Er hat etwas von einer Freundin gesagt, aber er wollte den Namen nicht verraten. Vermutlich macht sie sich schon Sorgen um ihn.«
»Wir schicken einen uniformierten Kollegen zu seinem Haus, für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie zusammenwohnen. Ansonsten können wir ohne sein Einverständnis nicht viel tun.« Jackmans Schultern schmerzten. Er streckte sich. »Fahren Sie nach Hause, Marie. Ruhen Sie sich aus. Dieser Fall wird alles andere als einfach.«
»Das dachte ich mir auch gerade. Bis morgen früh, Sir.«
Jackman sah ihr hinterher und dankte wie so oft einer höheren Macht, dass sie ihn mit einem Sergeant gesegnet hatte, den er tatsächlich mochte. Marie Evans war einmalig. Sie war beinahe so groß wie er, hatte dicke, kastanienbraune Haare, einen kräftigen Körperbau und muskulöse Arme und Beine. Sie verbrachte sehr viel Zeit im Fitnessstudio und war dadurch trainierter, als es für eine Fünfundvierzigjährige üblich war. Sie erinnerte Jackman immer ein wenig an eine präraffaelitische Schönheit in Ledermontur. Marie war auch eine sehr erfahrene Motorradfahrerin.
Er lächelte ihr nach, dann erschauderte er und erlaubte sich ein sorgenvolles Seufzen. Ein beklemmendes Gefühl packte ihn, und ihm wurde mit einem Mal klar, dass sie vor einer sehr großen Herausforderung standen. Es ging nicht nur um den Mord an dieser Frau, auch wenn das schlimm genug war. Es war das erste Mal, dass ihn eine Art Vorahnung beschlich, und es war kein angenehmes Gefühl.
Während er den verwaisten Flur hinunterging, kam ihm der Gedanke, dass dieser Fall vermutlich eine Katastrophe werden würde. Es war eine verworrene, düstere Geschichte.
Er ging zum Empfangsschalter und forderte einen Officer an, der zu Kinders Haus fahren sollte. Egal, was dieser Fall für ihn bereithielt – er hoffte nur, dass er ihm gewachsen sein würde. Er konnte nicht wie Marie auf eine langjährige Erfahrung zurückgreifen, und obwohl er wusste, dass sein Team hinter ihm stand, musste er sich in vielen Dingen erst beweisen. Egal, wie engagiert er war – und er war verdammt engagiert –, er war trotzdem ein zweiunddreißigjähriger Emporkömmling aus reichem Elternhaus. Das war zwar nett, wenn man auf Abzeichen und Karriere aus war, doch Jackman hatte anderes im Sinn. Er wollte einfach ein verdammt guter Polizist werden, und wenn er sich auf dem Weg dorthin den Respekt seiner Mannschaft verdiente, dann umso besser.
Er lächelte grimmig und kehrte ins Büro zurück.