Kapitel 4
Die Morgensonne tauchte die Felder der Fens in einen grün-goldenen Schimmer. Diese wenigen magischen Minuten nach Sonnenaufgang waren für Marie die schönste Zeit des Tages. Wenn sie im Auto unterwegs war, wurde sie langsamer und machte das Radio aus, um die Stille zu genießen. Es gab nicht viele friedliche Momente in ihrem Leben, weshalb sie solche Gelegenheiten umso mehr genoss.
Heute fuhr sie allerdings mit ihrer geliebten Kawasaki Ninja in Limettengrün und Schwarz zur Arbeit – und es fühlte sich sogar noch besser an. Im Gegensatz zur Autofahrt konnte sie die Fens nun auch riechen. Man musste schon ein Biker sein, um diese plötzliche Schärfung des Geruchssinnes zu verstehen.
Sie hätte vermutlich sogar mit verbundenen Augen ganz genau gewusst, wo sie sich befand. Im Moment führte die Straße durch mehrere Felder, die in diesem Jahr nicht bestellt wurden, und es roch nach Klee und Schafgarbe. Wenn sie in der frischen Luft durch die Landschaft brauste, fühlte Marie sich immer als ein Teil von ihr.
Die Route durch die Stadt war um einiges kürzer, doch sie nahm den Umweg über die kurvenreichen Straßen der Fens gerne in Kauf. Sie liebte die Weitläufigkeit und die manchmal überwältigende Trostlosigkeit des Marschlandes. Hier konnte sie wieder klar denken, und die pure, öde Schönheit rückte alles in die richtige Perspektive. Es waren seltene Momente des Friedens, wenn nur das Kreischen der Austernfischer zu hören war und die Fischreiher zwischen den tief hängenden Wolken und dem schilfbewachsenen Moor durch die Luft segelten.
Als sie sich der Stadt näherte, überlegte sie, was der Tag wohl bringen würde. In ihrem Job konnte man das nie im Vorhinein sagen. Die Nacht war schrecklich gewesen, und ihr unruhiger Schlaf war immer wieder von Gedanken an Daniel Kinder und dem quälenden Gefühl unterbrochen worden, dass etwas mit ihm nicht stimmte.
Trotzdem freute sie sich darauf, ihn wiederzusehen. Er unterschied sich so sehr von den üblichen Arschlöchern, denen sie sonst im Verhörzimmer begegnete, dass seine Seltsamkeit beinahe erfrischend war.
Die Eisentore des Polizeireviers schwangen auf, und Marie durchlief ein aufgeregtes Schaudern. Der Fall Alison Fleet hatte bereits jetzt einen geheimnisvollen Beigeschmack. Er war weder unkompliziert noch klar umrissen. Bis jetzt war kein bestimmtes Muster erkennbar, und als Marie ihr Motorrad neben Jackmans Geländewagen parkte, fragte sie sich, was sie wohl herausfinden würden, wenn sie erst mal tiefer gruben.
Die Polizeidienststelle befand sich in einem weitläufigen viktorianischen Gebäude, das früher eine renommierte Mittelschule und davor eine Kunstakademie beherbergt hatte. Obwohl die ursprüngliche Pracht inzwischen verblasst war und an dem stetigen Strom der Kleinkriminellen vollkommen unbemerkt vorüberging, war es immer noch ein ehrwürdiges Haus. In manchen Teilen waren die glänzenden Treppengeländer, die Buntglasfenster und die holzvertäfelten Flure und Korridore noch erhalten, doch das Beste war die riesige, hochaufragende Eingangshalle mit der kunstvoll geschnitzten Sängerempore und dem im Schachbrettmuster gefliesten Marmorboden.
Auch heute Morgen erstrahlten die ebenholzschwarzen und weißen Platten – die zufällig genau zu dem karierten Hutband der Polizisten passten – nach der nächtlichen Reinigung in vollem Glanz. Marie fühlte sich in dem vertrauten, alten Gebäude wohl, und es hatte den Titel »Zuhause« eher verdient als das kleine, ordentliche Häuschen am Stadtrand. Außerdem verbrachte sie hier auch sehr viel mehr Zeit, wie sie reumütig zugeben musste.
Jackman eilte den Flur entlang auf sie zu.
»Morgen, Chef. Wie geht es unserem geständigen Mörder? Hat er sich nach dem Ausbruch im Verhörzimmer wieder beruhigt?«
Jackman steckte die Hände in die Taschen. »Er liegt im Krankenhaus.«
Der positive Start in den Tag war dahin. »Warum?«, fragte sie stirnrunzelnd.
»Er hat die diensthabenden Beamten der Nachtschicht beinahe zu Tode erschreckt. Er schrie, als wollte ihn jemand …« Er verzog das Gesicht.
»Umbringen?«, meinte Marie grinsend. »Wir dürfen solche Dinge sagen, Sir, selbst wenn es um Mörder geht. Oder besser gesagt: um mutmaßliche Mörder.« Sie gingen nebeneinander zum Aufzug. »Also, was ist passiert?«
»Der diensthabende Sergeant meint, Kinder hätte einen Albtraum gehabt, aber sein Zustand war so bedenklich, dass sie den Arzt noch einmal holen mussten.« Jackman drückte den Knopf für ihr Stockwerk. »Offenbar spielte sein Blutdruck verrückt, und aufgrund der Umstände und des schlechten Allgemeinzustandes ging der Doc auf Nummer sicher und hat ihn zur Beobachtung ins Saltern General eingewiesen.«
»Das heißt, wir können ihn nicht befragen. Verdammt!«
»Die Zeit, die wir ihn in Verwahrung behalten dürfen, wird gestoppt, solange er im Krankenhaus ist, und die Beamten, die ihn begleiten, dürfen nicht mit ihm über den Fall sprechen, also werden wir die Zeit nutzen, um Informationen über ihn einzuholen.«
»Mithilfe der Freundin, Skye Wynyard?«
»Genau. Was ist das eigentlich für ein Name? Wie auch immer, sie kommt jedenfalls in …« Jackman warf einen Blick auf die Uhr, während die Aufzugtüren sich öffneten. »… zwanzig Minuten.« Er trat einen Schritt zurück, damit Marie vor ihm eintreten konnte.
»Ich schlüpfe nur schnell aus meiner Lederkluft und komme dann zum Ermittlungsraum, Sir.«
Jackman hatte angenommen, dass Skyes Eltern einen protzigen Versuch unternommen hatten, ihrem Kind einen »originellen« Namen zu geben, doch als er sie sah, änderte sich seine Meinung schlagartig.
Skye passte einfach zu der jungen Frau.
Er musterte sie eingehend, während Marie ihr für ihr Kommen dankte. Skye Wynyard hatte kornblumenblaue Augen, ihre Haare die Farbe von nassem Sand. Ganz offensichtlich war sie krank vor Sorge um ihren Freund.
Die irritierend blauen Augen der Frau weiteten sich, als Marie ihr erzählte, was in der Nacht passiert war. »Im Krankenhaus? O nein! Kann ich zu ihm?«
»Das ist leider nicht möglich. Er steht immer noch unter Arrest.«
»Aber …« Sie nestelte nervös an ihrem breiten Armband mit den kleinen Amethystplättchen herum, das nervtötend klimperte.
Jackman lächelte und hoffte, dass es möglichst aufmunternd wirkte. »Wie Sergeant Evans gerade sagte, können Sie im Moment leider nicht zu ihm. Aber wir werden ein Treffen organisieren, sobald wir wissen, was hier los ist.«
Skye wirkte besorgt, doch Jackman wusste, dass ihre Nervosität nichts mit schlechtem Gewissen zu tun hatte. Sie befand sich in einer Situation, in der sie sich nicht zurechtfand. Die junge Frau stand unter Schock. Sie ließ sich resigniert in den Stuhl zurücksinken.
Jackman musterte sie aufmerksam. Er verglich seine instinktiven Beobachtungen anschließend gerne mit Maries Einschätzung. Manchmal waren sie sich einig, doch meistens gab er klein bei und verwarf seine rein wissenschaftlich fundierten Vermutungen zugunsten der sehr viel intuitiveren Betrachtungen seines Sergeants.
Skye wirkte ehrlich, besorgt und gleichzeitig fest entschlossen. Er hoffte, dass sie Licht in Daniel Kinders Geschichte bringen wollte.
»Glauben Sie, dass Daniel zu einem Mord fähig wäre?«, fragte Marie geradeheraus.
»Auf keinen Fall!« Skye reckte trotzig das Kinn nach vorne. »Er ist ein sanftmütiger, rücksichtsvoller, kluger Mann. Und ganz sicher kein Mörder.«
»Wie lange kennen Sie ihn bereits?«
»Etwa vier Jahre. Und seit zwei Jahren sind wir zusammen.«
»Wo haben Sie ihn kennengelernt?«, fragte Jackman.
»In dem Krankenhaus, in dem ich arbeite. Ich bin Ergotherapeutin im Saltern General.« Sie runzelte die Stirn. »Ich schätze, dass er jetzt dort ist?« Das Stirnrunzeln verschwand wieder. »Daniel ist Enthüllungsjournalist, und zu dieser Zeit gab es eine Menge schlechte Presse über das Krankenhaus: Infektionen mit multiresistenten Keimen und ein erheblicher Personalnotstand. Sie wissen ja, womit der staatliche Gesundheitsdienst zu kämpfen hat. Daniel hatte allerdings beschlossen, einen Artikel über die stillen Helden im Hintergrund zu schreiben. Über den Alltag in einem staatlichen Krankenhaus aus der Sicht der Krankenschwestern und der anderen Angestellten.« Sie warf den beiden Polizisten einen verlegenen Blick zu. »Als ich den Artikel las, war ich überwältigt von seiner einfühlsamen Art, gleichzeitig war er aber auch sehr eindringlich. Es war ihm egal, dass er den Behörden auf die Zehen trat und sich vermutlich einige Probleme einhandeln würde. Es war, als würde er jedes Wort glauben, das in seinen Artikeln stand. Und als ich ihn schließlich näher kennenlernte, bestätigte sich diese Vermutung.« Sie lächelte schwach. »Es ist seltsam, aber als er mich damals interviewte, war mir sofort klar, dass wir Freunde werden würden.« Sie wandte sich an Marie. »Es war einer dieser besonderen Momente. Wissen Sie, was ich meine?«
Marie nickte, und Jackman sah Verständnis und eine tiefe Traurigkeit in ihren Augen. Vermutlich hatten sie und ihr verstorbener Mann Bill einmal einen ähnlichen Moment erlebt. Jackman erlaubte sich, einen Augenblick darüber nachzudenken, wo das gewesen sein könnte. Ganz sicher hatten Motorräder eine Rolle gespielt. Bill Evans war einer ihrer besten Motorradpolizisten gewesen, und seine Liebe zum Rennsport hatte ihn viel zu früh das Leben gekostet. Jackman seufzte leise und wandte der Vergangenheit den Rücken zu, um sich wieder auf die Befragung zu konzentrieren.
»Und warum hat dieser ›sanftmütige‹ Mann Ihrer Meinung nach einen brutalen Mord gestanden?«, fragte Marie.
Skye holte tief Luft. »Ich weiß es nicht, aber …« Sie starrte einen Moment lang auf den Tisch, bevor sie fortfuhr: »Er nimmt seine Arbeit sehr ernst. Vielleicht ist ihm eine Sache über den Kopf gewachsen. Er hatte in letzter Zeit viel um die Ohren.«
Die Erklärung war ziemlich lahm, und Jackman war sich sicher, dass die Frau mehr wusste, als sie bisher preisgegeben hatte. Aber er würde es trotzdem vorsichtig angehen. Sie konnte ihnen eine große Hilfe sein, daher hatte es keinen Sinn, sie schon beim ersten Treffen gegen sich aufzubringen. »Im Privaten? In der Arbeit? Oder waren es gesundheitliche Probleme? Könnten Sie bitte etwas genauer werden?«
Skye Wynyard zögerte erneut, und Marie lehnte sich nach vorne, um der jungen Frau in die Augen zu schauen. »Ich sehe, wie sehr Sie Daniel mögen, Skye. Aber wenn Sie ihm wirklich helfen wollen, dann müssen Sie uns alles sagen, was Sie wissen! Er steckt in echten Schwierigkeiten.«
Jackman übernahm, ohne Skyes Antwort abzuwarten. »Vielleicht sogar mehr, als Ihnen klar ist. Abgesehen davon, dass er unsere Zeit verschwendet hat, falls er nichts mit dem Mord an Alison Fleet zu tun hatte, könnte ihm auch eine Strafe wegen Behinderung der polizeilichen Ermittlungen drohen. Während wir uns hier mit Daniel beschäftigen, könnte der wahre Mörder ungestraft davonkommen, Skye.«
Die junge Frau schluckte und erkannte endlich den Ernst der Lage. Ihr Blick wanderte von Marie zu Jackman, dann sagte sie: »Könnten Sie mich vielleicht zu Daniels Haus begleiten? Es gibt da etwas, das Sie sehen sollten.«
Eine halbe Stunde später standen Jackman und Marie vor einer schmalen Treppe. Skye Wynyard starrte zu der massiven Tür am anderen Ende hoch und hielt den dazugehörigen Schlüssel fest umklammert. Sie hatte offensichtlich schwere Bedenken, dass sie die beiden Ermittler mit in Daniels Haus genommen hatte.
»Machen Sie sich keine Gedanken, Skye«, beruhigte Marie sie sanft. »Wir wären ohnehin hierhergekommen. Daniels Geständnis war schwerwiegend genug, um einen Durchsuchungsbefehl zu erwirken. Aber so ist es ehrlich gesagt angenehmer.«
»Er vertraut mir, und jetzt habe ich das Gefühl, als hätte ich ihn hintergangen«, erwiderte Skye. »Versuchen Sie bitte zu verstehen, dass Daniel …« Sie brach ab, denn ihr war offenbar klar geworden, dass es kein Zurück gab. Also atmete sie tief und entschlossen ein, umfasste den Schlüssel noch fester und stapfte die Treppe hoch. »Sehen Sie am besten selbst …«
Jackman trat in die lang gezogene Dachkammer und sah sich um.
Das Dach war spitzwinkelig, mit mehreren kleinen, kastenförmigen Fenstern. Dunkle Flecken unter den Gauben verrieten, dass sie undicht waren, wenn der Wind den Regen von Osten gegen das Dach peitschte. Sein Blick wanderte weiter, und er schnappte unwillkürlich nach Luft. Er spürte, wie Marie sich neben ihm versteifte.
Die einzigen Möbelstücke waren ein Stuhl und ein abgestoßener Holztisch voller Kaffeeringe, der in scharfem Kontrast zu dem hochmodernen Touchscreen-Computer stand. Dutzende Kartons mit leerem und bereits bedrucktem Kopierpapier stapelten sich auf dem Boden. Daneben lagen Mappen, Aktenordner und Einkaufstüten voller Dokumente.
Doch das alles ließ Jackman unbeeindruckt. Die Wand, die sich den gesamten Raum entlang erstreckte, bereitete ihm wesentlich mehr Sorgen. Sie war vom Boden bis zur Decke mit Zeitungsausschnitten, Fotos, Computerausdrucken und hingekritzelten Notizen tapeziert. Doch auch der Umfang der Nachforschungen schockierte Jackman nicht – es war vielmehr die Art, wie die Ergebnisse präsentiert wurden.
In der Mitte der Wand befand sich das vergrößerte Foto einer Frau, die Jackman – wie die meisten Briten – sofort wiedererkannte.
Es war ein Porträt von Françoise Thayer, die vor über zwanzig Jahren ihre Arbeitgeber George und Lydia Haines brutal und kaltschnäuzig ermordet hatte. Die britische Presse hatte Françoise Thayer damals »die blonde Schlächterin« genannt, und genau wie das Polizeifoto von Myra Hindley war auch Françoise Thayers Bild unverwechselbar – und ebenso schaurig. Doch während Hindleys Augen emotionslos und tot wirkten, funkelten Thayers amüsiert, was Jackman immer schon um einiges beunruhigender gefunden hatte.
Das bösartige Lächeln der Frau stand im Zentrum, und unter dem Foto klebte – mit etwas Abstand – ein Bild von Daniel Kinder. Darunter hatte jemand in großen, krakeligen Buchstaben mit schwarzem Stift »DER SOHN DER MÖRDERIN
« an die Wand geschmiert.
»Ich fürchte, genau das glaubt er«, hauchte Skye. Sie zuckte mit den Schultern und sah Jackman flehend an.
Er zog sein Telefon aus der Hosentasche. »Es tut mir leid, Skye, aber wir brauchen die Spurensicherung. Vor allem einen Fotografen.«
»Nein, bitte nicht! Das hier ist nicht mein Haus. Es gehört Daniels Mutter, und sie ist verreist.«
Tränen stiegen ihr in die Augen, und bevor Jackman etwas sagen konnte, rief sie: »O Gott! Ich hatte kein Recht, Sie herzubringen!«
Marie trat eilig einen Schritt vor und legte einen Arm um die bebenden Schultern der jungen Frau. »Keine Angst! Das gehört zu den Ermittlungen, und Sie haben das Richtige getan«, meinte sie sanft.
»Glauben Sie mir«, fügte Jackman hinzu. »Wie DS
Evans vorhin schon sagte: Es macht einen besseren Eindruck, dass Sie uns freiwillig hierhergebeten haben. Warum gehen wir nicht solange nach unten?« Er klappte sein Telefon zu. »Dann können Sie uns ganz genau erklären, was das alles zu bedeuten hat. Und wir können versuchen, es zu verstehen.« Er schenkte ihr ein – wie er hoffte – aufmunterndes Lächeln. »Kommen Sie, wir setzen uns ins Wohnzimmer, und Sie erzählen uns von Daniel.«
Die ganze Situation war vollkommen surreal. Sie saßen im Wohnzimmer, und Skye hatte das Gefühl, als müsste sie ihren Gästen ein Getränk anbieten und Small Talk betreiben. Sie musste sich konzentrieren, damit sie ihnen von Daniel und seinem verzweifelten Wunsch erzählen konnte, mehr über seine Herkunft zu erfahren.
Es dauerte über eine halbe Stunde, und am Ende war sie vollkommen erschöpft. Sie betete, dass ihre Geschichte glaubwürdig geklungen hatte. Zumindest schienen die beiden Polizisten tief in Gedanken versunken.
»Besteht die Möglichkeit, dass er recht hat?« Der Inspector sah sie mit seinen nervtötend ernsten Augen an. »Könnte er wirklich Françoise Thayers Sohn sein?«
»Ich habe Daniel bei seinen Recherchen geholfen und mich monatelang mit dieser Frau beschäftigt, aber ich habe keinerlei Beweise gefunden. Obwohl …« Skye hasste sich selbst für das, was sie als Nächstes sagte. »Sein Geburtstag stimmt mit dem Zeitpunkt überein, an dem Thayer ein Kind zur Welt brachte. Sie hatte einen Sohn. Aber es gibt keine offiziellen Aufzeichnungen.«
»Thayer ist tot, oder?«
Skye nickte. »Sie ist ein Jahr nach ihrer Verhaftung gestorben.«
»Wurde sie nicht ermordet?«, fragte Sergeant Evans.
»Es war ein Wunder, dass sie überhaupt ein Jahr durchgehalten hat«, erwiderte Skye. »Sogar die Mithäftlinge hielten sie für die Reinkarnation des Bösen. Und es wurde auch nie jemand angeklagt.«
»Was für eine Überraschung!« Marie warf Jackman ein schiefes Grinsen zu, und sie hoben beide die Augenbrauen.
Skye war plötzlich unheimlich erleichtert. Sie hatte zum ersten Mal das Gefühl, vielleicht doch das Richtige getan zu haben. Die Beamten waren ganz anders als erwartet. Sie hatten ihr vorhin tatsächlich zugehört, und sie schienen sich sehr gut untereinander zu verstehen. Sie fragte sich, ob die beiden ein Paar waren. Die Frau war zwar um einiges älter als der Inspector, aber das bedeutete heutzutage nichts mehr. Außerdem war die Polizei allgemein für ihre »internen« Beziehungen bekannt. Daniel hatte einmal einen Artikel über Jobs geschrieben, die Untreue begünstigen, und er hatte herausgefunden, dass es auf Polizeirevieren zu übermäßig vielen unerlaubten Affären kam. Obwohl das eigentlich nicht so recht zu Jackman und Evans passte, auch wenn er auf schnöselige Art gut aussah. Skye beschloss, dass die beiden bloß ein gut eingespieltes Team waren.
»Stehen Sie in Kontakt mit Daniels Mutter?«, fragte der Inspector, und Skye schob die Gedanken über das Privatleben der beiden eilig beiseite. »Sie ist irgendwo in Asien in einem Retreat, aber ich weiß nicht genau, wo. Und Daniel auch nicht.«
»Vielleicht können wir sie über eine der Botschaften oder über ihre Kreditkartenabrechnungen ausfindig machen«, schlug Marie vor.
»Ich kann Ihnen sagen, wo sie zuletzt war, aber das ist auch ziemlich vage.«
»Hat sie ein Handy?«
Skye schüttelte den Kopf. »Der Tod ihres Mannes hat sie leider schwer getroffen. Sie wollte eine spirituelle, heilende Reise, und Handys passen nicht ins Konzept. Zuletzt musste sie sogar ihre Schuhe zurücklassen.«
»Riskant«, murmelte Evans. »Gibt es dort nicht ziemlich viele Schlangen?«
Skye entwickelte eine gewisse Sympathie für die ältere Frau. »Ja, klar. Vor allem Giftschlangen. Vipern, Kobras, Kraits …«
»Dann hoffen wir, dass die Engel sie leiten.«
Skye betrachtete die Frau überrascht. Sie hatte noch nie gehört, dass ein Polizist so etwas gesagt hatte. Und es war auch nicht sarkastisch gemeint gewesen. Skye glaubte an Engel, und sie griff unbewusst nach dem silbernen Anhänger, den sie nie ablegte. Es war ein Geschenk von Daniel, und die Gravur lautete: »Unter dem Schutz der Engel.«
»Ja, das hoffen wir«, wiederholte sie, dann fuhr sie fort: »Werden Sie Daniel heute noch befragen? Könnten Sie ihm vielleicht ausrichten, dass …« Sie brach ab. Was sollten sie ihm denn ausrichten?
»Nein, heute nicht, Skye. Erst wenn die Ärzte ihn für vernehmungsfähig erklären.« Die Stimme der Polizistin klang sanft und verständnisvoll. »So will es das Gesetz. Wir können ihn nur eine bestimmte Zeit festhalten, ohne Anklage zu erheben. Als er ins Krankenhaus kam, wurde die Uhr gestoppt, doch wenn einer von uns mit ihm über den Fall spricht, läuft die Zeit wieder.«
Skye nickte und war zum Teil sogar froh. Solange sie Dan nicht selbst gesehen hatte, wollte sie sich gar nicht erst Gedanken darüber machen, was um alles in der Welt in seinem verwirrten Kopf vorging. »Und das Haus? Immerhin gehört es mir nicht, und bald werden hier überall Polizisten herumtrampeln.«
»Ein forensischer Fotograf wird die Dachkammer dokumentieren, und danach wird alles eingepackt und der Beweissammlung hinzugefügt. Angesichts der Schwere des Verbrechens, das Daniel gestanden hat, muss das ganze Haus durchsucht werden. Wir werden unser Möglichstes tun, damit nichts beschädigt wird und am Ende alles wieder an seinem Platz steht, aber …« Der Inspector verzog das Gesicht.
»Ich verstehe schon«, erwiderte Skye. Hatte Daniel eigentlich eine Ahnung, was für ein Chaos er mit seiner albernen Aktion angerichtet hatte?
»Arbeitet Daniel von zu Hause aus?«, fragte Marie Evans. »Ich habe kein Büro gesehen.«
»Nein. Er meint, es würde ihn zu sehr ablenken. Er hat ein kleines Büro in der Firma eines Freundes draußen im Industrieviertel gemietet. ›Emerald Exotix‹. Der Freund heißt Mark Dunand. Er importiert exotische Zimmerpflanzen aus der ganzen Welt. Sie wollen wahrscheinlich das Büro sehen, oder?«
Die beiden Polizisten erhoben sich. »Es wäre nett, wenn Sie uns die Adresse geben könnten, Miss Wynyard. Wir müssen es natürlich überprüfen.«
Skye ging in die Küche, riss ein Blatt vom Notizblock und notierte Mark Dunands Adresse und Telefonnummer. »Ich will Daniel helfen«, brach es plötzlich aus ihr heraus. »Er hat diese Frau nicht getötet, das weiß ich bestimmt! Ich bin mir sicher, dass seine Sorgen über seine Herkunft der Grund für dieses Chaos sind.« Sie sah die beiden flehend an. »Wenn Sie ihn das nächste Mal verhören, versuchen Sie bitte, hinter die Fassade zu schauen. Ziehen Sie alle Beweise in Betracht. Vielleicht können Sie ihn am Ende überzeugen, dass er nicht der Sohn einer Mörderin ist.«
Der Inspector streckte ihr die Hand entgegen. »Die Analyse sämtlicher Beweise ist unsere große Stärke, Miss Wynyard. Glauben Sie mir, wir werden den Fall Stück für Stück auseinandernehmen, bis wir der Wahrheit auf die Spur gekommen sind.«
Sie nickte erneut und schüttelte seine Hand. Sein Griff war fest und beruhigend. »Wir suchen alle nach der Wahrheit, Inspector Jackman. Sogar Daniel – auch wenn es Ihnen schwerfällt, das zu glauben.«