Kapitel 5
Die beiden Krankenschwestern betrachteten den schlafenden Daniel Kinder, und eine der beiden warf dem uniformierten Constable neben dem Bett einen wütenden Blick zu.
»Er ist ein Held. Müssen Sie ihn wirklich so streng bewachen?«
Der Polizist – Roger Lucas – beschloss, sich auf keine Diskussionen einzulassen. »Es tut mir leid, Miss. Befehl ist Befehl. Dieser Mann steht unter Arrest.«
»Das muss ein Fehler sein«, erklärte die andere. Sie war mollig, hatte wasserstoffblonde Haare und trug viel zu viel Augen-Make-up. »Dieser Mann hat sich vor einer Weile sehr für uns eingesetzt. Er hat eine Menge Zeit hier verbracht, und er ist echt nett. In unseren Augen kann er einfach nichts falsch machen«, fügte sie herausfordernd hinzu.
»Dann muss er sich ja keine Sorgen machen, aber im Moment bleibe ich trotzdem, wo ich bin.« Roger lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verzog das Gesicht. Es war schon seltsam. Normalerweise wurde der Gefangene misstrauisch beäugt und nicht er.
Nachdem die Schwestern gegangen waren, warf er einen Blick durch das Glasfenster, das ihn von dem zweiten uniformierten Polizisten vor der Tür trennte, und ein Schatten legte sich auf sein Gesicht.
PC
Zane Prewett lehnte lässig an der Wand und unterhielt sich mit einer der Schwestern. Roger fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis die junge Frau Zanes viel erprobten Anmachsprüchen zum Opfer fiel. Er schnaubte angewidert und wandte sich ab. Er hasste es, mit Prewett Dienst zu schieben, aber heute war ihm nichts anderes übrig geblieben. Sein eigener Partner hatte frei, und PC
Kevin Stoner, Zane Prewetts leidgeprüfter Partner, war wieder mal krank. Roger konnte es dem armen Teufel nicht verübeln. Es war die Hölle, mit diesem Schwein zu arbeiten. Roger mochte Kevin. Er war ein guter Kerl, und Roger verstand nicht, warum er noch nicht um eine Versetzung angesucht hatte. Prewett war zwar ein Kollege, aber er war das reinste Gift.
Eine weitere Krankenschwester betrat das kleine Zimmer und kontrollierte den Blutdruck des Patienten.
»Entschuldigen Sie, Miss, aber wann kommt denn der Arzt?«, fragte Roger höflich und erwartete bereits eine weitere Abfuhr.
Überraschenderweise lächelte die Schwester jedoch und zuckte mit den Schultern. »Wir ersticken in Arbeit, und er wurde aufgehalten, aber ich hoffe, dass er bald da ist.« Sie lächelte erneut. »Soll ich Ihnen vielleicht einen Kaffee bringen? Sie dürfen ja nicht fort, und Ihr Partner scheint anderweitig beschäftigt.«
»Das wäre nett, wenn es nicht zu viele Umstände macht …«
Sie hielt noch einmal inne. »Darf ich raten? Milch und zwei Stück Zucker?«
Roger strahlte, obwohl er seinen Kaffee normalerweise schwarz mit einem Stück Zucker trank. »Perfekt.«
Laut ihrem Namensschild war sie eine examinierte Krankenschwester namens Kelly King. Im Gegensatz zu Zane Prewett war Roger kein Frauenheld, doch er hatte natürlich bemerkt, dass die Schwester mit den langen, hellblonden, zu einem straffen Zopf geflochtenen Haaren außerordentlich hübsch war.
Er sah ihr leise seufzend hinterher. Eine Frau wie sie war sicher schon vergeben. Und wenn nicht, hatte sie auf jeden Fall eine Menge Verehrer, und er war kein David Beckham.
Er richtete den Blick wieder auf den Gefangenen, der langsam unruhig wurde.
Der Kerl war echt seltsam.
Roger runzelte die Stirn. Er hatte einige von Daniels Artikeln über verschiedene Regionalthemen gelesen, und der eine oder andere hatte ganz schön zum Nachdenken angeregt. Sie waren gut recherchiert, aber immer auch ein wenig provokant formuliert. Daniel hatte sich auf jeden Fall eine regelmäßige Kolumne in einem der großen Blätter verdient. Aber warum hatte er sich plötzlich von einem fähigen Journalisten in einen sadistischen Mörder verwandelt?
Zuerst hatte Roger Drogen in Verdacht gehabt. Sie waren der Grund für beinahe alle unlogischen Verbrechen gewesen, mit denen er bis jetzt zu tun gehabt hatte, und sie verwandelten selbst das klügste Gehirn in Matsch. Seiner Meinung nach konnte der richtige Drogencocktail aus jedem Menschen einen Mörder machen.
Er hatte allerdings gehört, dass Daniel keine Drogen im Blut gehabt hatte. Aber was war es dann?
Roger betrachtete den gut aussehenden Mann, der im Schlaf unzusammenhängendes Zeug vor sich hin brabbelte, und fragte sich, ob vielleicht alles bloß ein Schwindel war. Hatte eine der großen Zeitungen ihm die Chance auf einen einmaligen Knüller geboten? War Daniel Kinder ein Undercover-Reporter, der die Polizei auseinandernehmen wollte?
Möglich wäre es gewesen. Es gab im Moment einiges böses Blut gegen die Polizei, und zwei prominente Korruptionsfälle schafften es beinahe täglich in die Zeitung. Rogers Augen wurden schmal. Wenn es jemand fertigbrachte, unter die Oberfläche zu gelangen und alles aufzumischen, dann war es dieser Mann. Sollte er vielleicht mit seinem Vorgesetzten über seine Bedenken sprechen? Roger biss sich auf die Lippe. Und als Kelly King ihm schließlich den Kaffee brachte, bemerkte er ihr verführerisches Lächeln kaum.
Jackman saß auf dem Beifahrersitz und sah zu Marie Evans. »Sie sind entnervend still.«
»Ich habe gerade über die Dachkammer nachgedacht, Sir.« Sie warf einen Blick in den Rückspiegel und bog auf die Überholspur. »Es herrschte so eine trostlose, verzweifelte Stimmung in dem Raum, finden Sie nicht auch?«
Jackman fragte sich, ob es wirklich Verzweiflung gewesen war oder eher Manie. »Wenn man Daniels Artikel liest, merkt man sofort, wie leidenschaftlich er für die Wahrheit kämpft. Was es auch koste. Vielleicht schafft er es nicht loszulassen, wenn er sich erst mal in etwas verbissen hat.«
»Vielleicht war aber auch der Brocken, in den er sich verbissen hat, als er sich auf die Suche nach seinen leiblichen Eltern machte, zu groß für ihn. Vielleicht hat er sich daran verschluckt.« Sie gab Gas und fuhr zügig die kurvenlose Straße entlang zur Dienststelle. »Ich glaube, es macht ihn irre, dass er keine Antworten findet.«
»Irre genug, um jemanden umzubringen?«
»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Marie. »Aber es könnte sein, dass er gerade in eine Paranoia rutscht, oder? Die Wand in der Dachkammer war jedenfalls mehr als unheimlich.« Sie hielt kurz inne. »Es ist zwar schon etwas länger her, und Sie waren damals noch nicht bei der Polizei, aber haben Sie vielleicht den Prozess um Terence Marcus Austin verfolgt?«
»Ja, zum Teil«, erwiderte Jackman und versuchte, sich zu erinnern. »Das war doch dieser junge Kerl aus Sheffield, der seine ganze Familie umgebracht hat, oder?«
»Ja, und auch noch einige andere. Er litt an einer Zwangsneurose, doch leider erkannte niemand die Warnsignale, bis er sieben Menschen getötet hatte – drei Kinder und vier Erwachsene. Man hätte alle klassischen Symptome einer Schizophrenie diagnostizieren können – wenn sich jemand darum gekümmert hätte.« Marie lenkte den Wagen wieder auf die erste Spur. »Es ging unheimlich schnell. In achtzehn Monaten wurde aus einem Universitätsabsolventen ein skrupelloser Mörder.«
»Wollen Sie damit sagen, dass Daniel Kinder unter Schizophrenie leiden könnte?«
»Keine Ahnung, ich bin kein Psychiater. Aber Terence Austin führte Tagebuch. Ein Notizbuch voll mit seinen Gedanken. Ich habe es gelesen.« Marie erschauderte unwillkürlich.
»Das klingt, als hätten Sie es lieber nicht in die Hände bekommen.«
»Der Stoff, aus dem Albträume entstehen.« Sie ließ das Fenster hinunter, lehnte sich hinaus und hielt ihren Ausweis vor die Überwachungskamera auf dem Polizeiparkplatz. »Das Schlimmste war, dass es mit vollkommen normalem, beinahe jungenhaftem Geplänkel begann, aus dem plötzlich schrecklich anschauliche Bilder und grauenhafte Beschreibungen seiner unglaublich irren Gedankenwelt wurden.« Sie holte tief Luft. »Ich weiß auch nicht, aber als ich heute die Dachkammer sah, musste ich sofort an Terence Austins Tagebuch denken.«
Jackman öffnete den Sicherheitsgurt und stieg aus. »Ja, aber mal abgesehen von den beiden Fotos könnte es sich genauso gut um eine dieser Brainstormingtechniken handeln, mit denen sich angeblich Probleme schneller lösen lassen.«
Marie schlug die Autotür zu und versperrte den Wagen. »Oder um eines unserer Whiteboards. Es klingt vielleicht übertrieben, aber ich hatte den Eindruck, als würde hier etwas eskalieren.«
»Vielleicht haben Sie recht«, erwiderte Jackman, während sie sich auf den Weg zum Hauptgebäude machten. »Sobald alles katalogisiert ist, werden wir die Wand rekonstruieren. Ich bin gespannt, was die anderen dazu sagen.«
»Bekommen wir ein psychologisches Gutachten?«
»Ich werde mit der Superintendentin darüber sprechen.« Ein Gespräch, auf das Jackman sich nicht gerade freute. »Wir brauchen sämtliche verfügbare Hilfe, Budget hin oder her.«
Sobald sie das Gebäude betreten hatten, kam eine Sekretärin auf sie zu. Der diensthabende Sergeant wollte mit ihnen sprechen.
»Was ist denn jetzt schon wieder?«, murmelte Jackman.
Der Sergeant war ein stämmiger Mann mit frühzeitig ergrauten Haaren und einem roten Gesicht. Er führte sie in sein Büro und schloss die Tür.
»Es hat möglicherweise keine weitere Bedeutung, aber ich dachte, Sie sollten vielleicht wissen, dass die Stimmung gegenüber unseren Beamten im Krankenhaus nicht gerade die beste ist.« Er fuhr sich mit der fleischigen Hand durch die Haare und zuckte mit den Schultern. »PC
Roger Lucas hat vorhin angerufen. Unsere Jungs sind die ›Bösen‹ und Daniel Kinder ein ›Heiliger‹. Sein Artikel hat das Krankenhauspersonal in der öffentlichen Wahrnehmung von verantwortungslosen, apathischen Faulenzern in strahlende Engel verwandelt und ihm in dieser Ecke einige Fans eingebracht.«
»Das war ja zu erwarten«, erwiderte Jackman unbeeindruckt.
»Sicher. Aber PC
Lucas hat mich von der Toilette aus angerufen. Es besteht der Verdacht, dass jemand seinen Kaffee mit Abführmittel versetzt hat.«
Jackman wollte lachen und merkte, dass auch Marie versuchte, ein Kichern zu unterdrücken, doch dann dachte er einen Schritt weiter. Es war gut möglich, dass Daniel Kinder ein sadistischer Mörder war, und die vernarrten Schwestern gefährdeten die allgemeine Sicherheit, bloß weil er einmal für sie eingetreten war.
Sergeant Jim Masters wartete einen Augenblick, bis seinen Kollegen genau das klar geworden war, dann fuhr er fort: »Ich habe mich bereits darum gekümmert und die Superintendentin gebeten, ein ernstes Wort mit der Krankenhausleitung zu sprechen. Außerdem habe ich die Anzahl der Männer vor Ort verdoppelt. Natürlich hat das Personal keine Ahnung, was Kinder möglicherweise getan hat. Aber dieses Verhalten ist trotzdem inakzeptabel.« Er hielt erneut inne. »Das war allerdings nicht der Grund, warum ich mit Ihnen sprechen wollte. PC
Lucas hat da eine Theorie …« Er berichtete ihnen von der Vermutung des Constables, dass Kinder bloß auf der Jagd nach einer guten Story war.
»Und auf diese herausragende Idee kam er tatsächlich, während er auf dem Topf saß? Gute Arbeit – unter diesen Umständen. Ich bin beeindruckt«, witzelte Marie.
Jackman warf ihr einen schnellen Blick zu und sah den Zweifel hinter ihrem Grinsen. Sie fragte sich dasselbe wie er. War es möglich, dass Kinder alles nur vortäuschte? Und wenn ja, was zum Teufel wollte er über die Polizei von Saltern herausfinden? Wer oder was war das Ziel seines Interesses?
Er bedankte sich bei dem Beamten, und sie gingen langsam und schweigend zu der breiten Treppe, die in den zweiten Stock führte. Erst als sie im ersten Stock angekommen waren, blieb Marie stehen und sah Jackman an. »Roger Lucas ist ein guter, verlässlicher Cop. Wenn er recht hat, haben wir ein ernstes Problem.«
»Stimmt. Der Grat zwischen geistesgestört und hinterlistig ist schmal. Aber falls es wirklich ein cleverer Trick ist, um an eine Story zu gelangen – welche Enthüllung wäre es wert, dafür ins Gefängnis zu gehen?«
Marie schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Er setzt alles aufs Spiel. Seine Karriere, seinen Ruf und … Und seine Beziehung mit Skye Wynyard. Sie macht sich wahnsinnige Sorgen um ihn.«
Jackman verzog das Gesicht. »Aber das würde sie auch, wenn sie wüsste, dass er hinter einer Story her ist und alles verlieren könnte. Einschließlich ihr.«
Sie kehrten schweigend in den Ermittlungsraum zurück.
Daniel Kinder war augenblicklich erleichtert, als er die schwarze Uniform neben seinem Bett sah. Er hätte sich allerdings noch besser gefühlt, wenn sie seine Hände fixiert hätten, denn das hätte bedeutet, dass sie ihn wirklich ernst nahmen. Andererseits wusste er, dass ein Gesetz aus dem Jahr 1984 die Rechte der Gefangenen erheblich ausgeweitet hatte. Vielleicht war es mittlerweile nicht mehr erlaubt, einen Verdächtigen in Handschellen zu legen.
Er versuchte, sich auf den Polizisten zu konzentrieren, doch seine Augenlider waren schwer wie Blei. Er blinzelte, und der Raum veränderte sich. Der Polizist stand nun neben der Tür, und eine Schwester verabreichte ihm mit einer Nadel etwas durch die Kanüle an seinem Handrücken. Wäre es doch keine Schwester gewesen, sondern Skye! Er wollte nur sie. Keine Medikamente, keine besorgten Gesichter, nur seine wunderschöne Skye. Er blinzelte erneut, und der Mann saß wieder neben seinem Bett. Was hatten sie ihm bloß gegeben? Er schlief, während er blinzelte!
Er stöhnte und spürte, wie er erneut in den Schlaf sank …
Der kleine Daniel sah sich in dem fremden Zimmer um. Die Wände waren kahl und weiß, und die einzigen Möbelstücke waren zwei Stühle. Aber was für Stühle! Er ließ sich in den weichen Lederlehnstuhl sinken und überlegte, wie viel er wohl gekostet hatte. Mehrere Hundert Pfund wahrscheinlich.
Er hörte, wie sich seine Eltern mit dem Mann unterhielten, der wahrscheinlich gleich zu ihm kommen würde.
Sie standen direkt vor dem Zimmer, und er schnappte ein paar Wortfetzen auf. »Wut«, »unangemessen« und »Grund zur Sorge«.
Er hatte keine Ahnung, warum er hier war. Manche Dinge passierten einfach, und niemand erklärte es einem. Er hatte gesehen, wie der Direktor und sein Vater sich unterhalten hatten. Es hatte irgendwie verstohlen und ziemlich ernst ausgesehen. Aber das war nichts Neues. Das Seltsame war nur, dass kaum andere Eltern ins Büro des Direktors kamen. Manchmal hatte Daniel das Gefühl, beobachtet zu werden. Untersucht und bewertet. Er hatte einmal seine Mutter darauf angesprochen, doch sie hatte nur gelacht und gemeint, er solle nicht albern sein. In einer teuren Privatschule stand jedes Kind unter genauer Beobachtung. Das gehörte zum Service.
Die Tür fiel ins Schloss, und ihm wurde vor Nervosität übel. Warum war er hier?
»Hi, Dan. Ich bin Conrad Young, und deine Mutter und dein Vater möchten, dass ich mich mit dir unterhalte. Ist das okay?« Der große Mann mit den dichten braunen Haaren und der schwarzen Brille ließ sich lässig in den anderen Stuhl sinken.
Seine Stimme war tief und eindringlich, und Daniels Angst ließ augenblicklich spürbar nach. »Klar, aber ich weiß ja gar nicht, warum ich hier bin.« Er versuchte, erwachsen zu klingen, obwohl er erst neun war.
»Das werden wir sicher im Lauf der Unterhaltung herausfinden.« Der Mann griff in die Seitentasche an seinem Stuhl und holte eine Fernbedienung heraus. »Hast du so etwas schon mal gesehen?«, fragte er freundlich.
Dan hob den Blick. Im Zimmer wurde es dunkler, und die Wand gegenüber war nicht mehr weiß, sondern goldgelb, dann orange und schließlich rot. Er betrachtete das Farbenspiel. »Cool!«
»Das ist ein Farblicht. Es hilft dir beim Entspannen. Und bei vielen anderen Dingen …«
Daniel seufzte und sank noch tiefer in den bequemen Lederstuhl. So ein Zimmer wie dieses hätte er auch gern. Vielleicht konnte er seinen Vater fragen …? Er überlegte gerade, wie er ihn überreden konnte, als der Mann weitersprach.
»Also, warum hast du deinen Freund geschlagen?«
Dan fühlte sich mit einem Mal gar nicht mehr wohl. Darum ging es also! Um Lucas Rickard und seinen dämlichen Power Ranger.
»Du hast ihm wehgetan, Daniel. Wolltest du das?«
Das war einfach lächerlich! Es war doch bloß eine Rauferei wegen eines kaputten Spielzeugs gewesen. Mehr nicht. Er starrte auf seine Hände hinunter. Gerade noch hatte er sie im Schoß verschränkt gehalten, doch jetzt bohrten sich seine Nägel so tief in die Handflächen, dass sie Abdrücke hinterließen.
»Er hat behauptet, dass ich seinen Power Ranger kaputt gemacht habe. Dabei war er es selbst. Er hat angefangen. Es war nichts – nur eine Rauferei.«
»Du hast ihm den Arm gebrochen.«
»Er ist hingefallen. Ich habe ihn geschubst, damit er von mir runtergeht. Er hat gebrüllt, und ich wollte, dass er aufhört.« Daniel schluckte und flüsterte: »Ich habe ihn doch nur geschubst.«
»Okay, Daniel.« Der Mann lächelte und sah zur Wand, die sich gerade von lila in pink verwandelte. »Du hast recht. Kinder balgen sich andauernd.«
»Ich nicht.«
»Aber dieses Mal schon. Was war denn heute anders?«
Daniel fühlte sich miserabel. Er hatte schon üble Raufereien in der Schule gesehen. Die beteiligten Kinder hatten immer eine ordentliche Kopfwäsche bekommen, und wenn es wirklich schlimm gewesen war, waren sie eine Zeit lang suspendiert worden, aber man hatte noch nie jemanden in eine seltsame Klinik geschickt. Er antwortete mit einer Gegenfrage: »Sind Sie Arzt?«
»Ja, so etwas in der Art.«
»Operieren Sie Leute? Schneiden Sie sie auf?«
Der Mann lächelte. »Ich bin kein Chirurg. Die blutigen Sachen überlasse ich den anderen.«
Sein Lächeln war beruhigend, und Dan fühlte sich wieder sicher.
»Ich arbeite mit den Köpfen der Leute. Vor allem mit den Köpfen von Kindern.«
Dan lehnte sich mit großen Augen nach vorne. »Sind Sie ein Seelenklempner?«
»Ich studiere menschliches Verhalten. Das, was die Leute dazu bringt, sich auf bestimmte Weise zu benehmen.«
Dan ließ sich zurücksinken. »Dann bin ich der Falsche. Reden Sie doch mit Lucas Rickard. Sein
Verhalten sollten Sie sich mal ansehen.«
»Erzähl mir von Lucas.«
»Er ist ein Schläger und Lügner. Und er ist nicht
mein Freund.« Dan starrte auf die grüne Wand, die langsam dieselbe Farbe annahm wie das Meer im letzten Urlaub. »Aber ich muss manchmal mit ihm spielen. Dad nennt es Networking.« Er verzog das Gesicht. »Sein Dad läuft meinem Vater dauernd hinterher und will mit ihm in den dämlichen Golfclub und so. Mein Vater mag ihn nicht, das weiß ich. Aber er nennt ihn ›Investor‹, und deshalb muss ich nett zu Lucas sein.«
»Aber Lucas ärgert dich?«
»Die Ungerechtigkeit ärgert mich«, erwiderte Daniel mit eindringlicher, sehr erwachsener Stimme. »Er hat das Spielzeug kaputt gemacht, aber weil er Angst vor seinem Vater hat, hat er mir die Schuld in die Schuhe geschoben. Und jetzt sitze ich
hier, und er
hat einen neuen Power Ranger. Das ist doch nicht fair, oder?«
»Nein, ist es nicht.« Der Mann betrachtete ihn nachdenklich. »Kannst du mir sagen, wie sich Lucas den Arm gebrochen hat?«
»Habe ich doch schon. Er ist hingefallen.«
»Beschreib mir, was passiert ist.«
Daniel öffnete den Mund, doch dann schloss er ihn wieder. Er konnte nicht beschreiben, was passiert war. Aber er konnte auch nicht lügen, denn dann wäre er nicht viel besser als Lucas gewesen. »Ich kann mich nicht erinnern«, erklärte er schließlich.
Da war eine Lücke. Eine kleine Lücke zwar, aber trotzdem. Im einen Moment hatte Lucas brüllend auf ihn eingeschlagen und im nächsten saß sein »Freund« weinend auf dem Boden und hielt sich den verletzten Arm.
»Ich kann mich nicht erinnern.«
Daniel hörte, dass er die Worte laut aussprach, und sah, wie der Kopf des Polizisten hochfuhr.
»Ah, da sind Sie ja wieder.«
Daniel sah sich blinzelnd in dem Krankenzimmer um, und dieses Mal blieb alles, wie es war. »Ja, sieht so aus.« Sein Mund war staubtrocken, und sein Kopf dröhnte, als hätte er einen riesigen Kater. Wenigstens würden sie ihn heute nicht mehr befragen. Er kannte die Vorgehensweise der Polizei nur zu gut. Zuerst musste er den Arzt überzeugen, dass es ihm gut ging und dass die Zeit in der Verwahrungszelle einfach zu viel für ihn gewesen war, und dann würde man ihn endlich zurück in die Zelle bringen und wegsperren.
Daniel seufzte erleichtert und schloss die Augen.